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Aus: Ausgabe vom 03.09.2024, Seite 12 / Thema
Zweiter Weltkrieg

Vereint gegen die Nazis

Zentrum des Widerstands. Die Résistance in der Metropole an der Rhône und ihre Befreiung von deutscher Besetzung (Teil 2 und Schluss)
Von Hermann Bueren
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Kampf gegen Nazischarfschützen, die sich im Städtischen Krankenhaus verschanzt haben (Ende August 1944)

Ab dem Sommer 1941 macht sich der repressive Charakter der Vichy-Regierung immer deutlicher bemerkbar. Ein großer Teil der Bevölkerung innerhalb des Herrschaftsgebiets geht auf Abstand zum Regime. Vor allem aber der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, der das Ende des Nichtangriffspaktes zwischen beiden Staaten markiert, beschleunigt den Entschluss vieler zum Widerstand. Nicht zuletzt in Lyon.

Organisationen der Résistance

Allmählich entwickeln sich größere organisierte Gruppen, die als Résistance in die Geschichte eingehen. Die wichtigsten sind:

Libération-Sud: Ursprünglich in einem Café in Clermont-Ferrand von einer kleinen Gruppe von Widerstandskämpfern gegründet, entsteht im Juli 1941 eine Gruppe gleichen Namens in der »freien Zone.« Ihre Mitglieder kommen aus dem Umfeld der politischen Kräfte, die Mitte der 1930er Jahre die Volksfront unterstützt haben. Darunter sind vor allem Sozialisten und Gewerkschafter. Ab 1942 schließen sich viele Kommunisten an. Die Lyoner Gruppe beginnt im Juli 1941 mit der Herausgabe der Untergrundzeitung Libération. Anfangs stehen Herausgabe und Verteilaktionen für die Zeitung im Vordergrund, später wird auch ein militärischer Arm der Organisation gegründet. Zu den bekanntesten Mitgliedern in Lyon gehören Raymond und Lucie Aubrac (siehe unten).

Combat: Die Gruppe entsteht Ende 1941 in Lyon. Gegründet von Henry Frenay, einem Berufsoffizier, und Berty Albrecht, einer gebürtigen Schweizerin, die aus dem protestantischen Großbürgertum kommt und später als Arbeiterin in einer Lyoner Fabrik tätig ist. Die Gruppe gibt unter Mitwirkung von Albert Camus eine illegale Zeitung heraus. Sie erstellt falsche Papiere für Flüchtende und Verfolgte, betreibt einen Nachrichtendienst, und beteiligt sich an militärischen Aktivitäten der Résistance.

Franc-Tireur: Die Bewegung entsteht aus Diskussionskreisen von Liberalen, Sozialisten und Kommunisten. Einer der Gründer ist Jean-Pierre Levy, der aus einer elsässischen jüdischen Familie stammt und nach dem Waffenstillstand in Lyon lebt. Als Geschäftsmann ist er häufig auf Reisen in der »freien Zone« unterwegs. Dadurch kann er Kontakte zu anderen Widerständlern herstellen. Die Gruppe kümmert sich um Verstecke und Fluchtwege für jene, die sich der Zwangsarbeit verweigern, und gibt eine illegale Zeitung heraus.

Francs-tireurs et partisans français (FTP): Die »Französischen Freischärler und Partisanen« sind eine 1942 von der Kommunistischen Partei (KPF) gegründete Organisation. Sie ist eine Zusammenfassung von verschiedenen kleineren, lokal agierenden Widerstandsgruppen. Anfangs leidet die Gruppe stark unter den Verhaftungswellen der Vichy-Regierung und der Deutschen. Später bekommt sie Zulauf, als sie sich gegen den Service du travail obligatoire (STO, »Pflichtarbeitsdienst«), die Organisation zur Zwangsrekrutierung junger Franzosen, engagiert. Die FTP hat neben städtischen auch Gruppen auf dem Land, die als Maquis (dt.: Unterholz) bezeichnet werden und eine wichtige Rolle bei der Befreiung spielen.

So breitgefächert wie die Gruppen der Résistance, so heterogen ist auch das berufliche und soziale Spektrum der Widerständler. Untersuchungen von Historikern zeigen, dass sich Menschen aller politischen, philosophischen und religiösen Überzeugungen an der Résistance beteiligten. Vor allem Bewohner aus Städten, Juden, demokratische Christen, Sozialisten und Kommunisten sind zahlreich vertreten, während Bauern, großbürgerliche Kreise und Unternehmertum eher unterrepräsentiert sind. Im bewaffneten Widerstand sind vor allem junge Männer zwischen 22 und 25 Jahren. Frauen stellen ungefähr 15 bis 20 Prozent der Résistants. Sie verteilen illegale Flugblätter und Zeitungen, fälschen Papiere, organisieren Fluchtwege und stellen Kontakte zwischen den Gruppen her.

Auch Anne Beaumanoir ist zeitweise im Lyoner Widerstand aktiv. Als junge Frau, deren Lebensgeschichte durch das von Anne Weber verfasste Buch »Annette, ein Heldinnenepos« (2020) auch in Deutschland bekannt ist, wird sie von der KPF entsandt, um einen jungen Bauern zu einem konspirativen Treffpunkt in der Nähe des Place Puvis de Chavanne zu geleiten. »Als wir auf dem Platz ankamen, bemerkten wir auf den Bänken im Schatten der Linden oder Platanen Zeitungsleser, deren Alter ebenso wenig wie ihre Kleidung an die Stammgäste der Parkanlagen zu dieser Zeit erinnerte. Da ich meinen Genossen untergehakt hatte, zeigte ich ihm zwei Männer, die nicht aufhörten, das Gebäude anzuschauen, in dem wir uns treffen sollten. Wir schlugen freundlich den Rückweg ein und versuchten die beiden anderen Gruppen ausfindig zu machen, die nach uns kommen sollten. Das Haus war umstellt.«¹

Anne und ihr Begleiter haben großes Glück, alle anderen werden verhaftet. Nach dem Krieg wird sie Medizinerin, geht in den 1960er Jahren erneut in den Untergrund und unterstützt den Befreiungskampf Algeriens gegen die französische Herrschaft. In der algerischen Regierung nimmt sie Kontakt zu Frantz Fanon auf und engagiert sich für den Aufbau des Gesundheitswesens. Nach dem Putsch von Houari Boumedienne 1965 flieht sie aus Algier und arbeitet danach viele Jahre als Ärztin in Genf. Später kehrt sie in ihr Heimatland zurück. Bis zu ihrem Tod im März 2022 bleibt sie mit Vorträgen politisch aktiv.

Viele Ausländer sind Teil der verschiedenen Gruppen. Darunter sind republikanische Spanier, die nach dem Ende des Krieges in ihrem Land nach Frankreich geflohen waren sowie italienische und deutsche Antifaschisten. Im bewaffneten Widerstand stellen sie einen besonders hohen Anteil der Widerständler. Einer von ihnen ist Ernest Jouhy, der eigentlich Ernst Jablonski heißt und zuvor in Berlin gelebt hatte. Als Mitglied der KPD flieht er bereits nach der Machtübernahme der Nazis nach Paris. Im Juli 1943 kommt er zusammen mit seiner Frau Lydia nach Lyon, wo sie Mitglieder der FTP werden. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse übernehmen sie besondere Aufgaben. Trotz des hohen persönlichen Risikos versuchen sie Kontakte zu Wehrmachtssoldaten herzustellen, deren Vertrauen zu gewinnen oder sie zur Desertion zu ermutigen. Beide überleben diese gefährlichen Einsätze. Jouhy arbeitet nach dem Krieg zeitweise in der hessischen Odenwaldschule als Pädagoge. Später gründet er im Süden Frankreichs eine Bildungsstätte, die sich der deutsch-französischen Begegnung widmet.

Ziele des Widerstands

In der Ablehnung der Besatzung sind sich alle Gruppen einig. Viele Widerständler wissen zwischen »den« Deutschen und den Nazis zu unterscheiden. Sie plädieren für eine demokratische Erneuerung Deutschlands und dessen Einbindung in ein föderales Europa. Die Mehrzahl der Gruppen strebt ein erneuertes und demokratisches Frankreich an. Der Kapitalismus wird von fast allen Gruppen kritisiert, Sozialisten und Kommunisten streben die Überwindung des Systems an. Gefordert werden Verstaatlichungen wichtiger Schlüsselbereiche der französischen Wirtschaft. Zudem will die Résistance sich nicht passiv von außen befreien lassen, sondern die Zukunft des Landes selbst in die Hand nehmen. Schon Anfang 1943 fusionieren einige Gruppen zu den »Mouvements unis de la Résistance« (dt. Vereinte Bewegungen der Résistance). Ein Jahr später vereinigen sich die Gruppen der »freien Zone« mit der Résistance im nördlichen Teil des Landes, das unter deutscher Verwaltung steht. So entsteht der »Conseil National de la Résistance« (CNR, dt.: Nationaler Widerstandsrat). Der CNR verabschiedet ein Aktionsprogramm. Es enthält nicht nur Aufrufe zum Widerstand, sondern auch Vorstellungen für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik. Gefordert wird eine soziale Demokratie, die Verstaatlichung großer Betriebe und der Ausbau der Wirtschaftsdemokratie. Konkrete Maßnahmen sollen die Verstaatlichung der Energiewirtschaft, der Banken und Versicherungen, der Aufbau einer Sozialversicherung und eine Mitsprache der Beschäftigten in den Betrieben sein. Einige Maßnahmen werden in den Jahren bis 1947 zum Teil umgesetzt, danach gerät das Programm lange in Vergessenheit. Erst 2004, als die sozialen Verhältnisse infolge neoliberaler Politik immer stärker unter Druck geraten, erneuern 13 ehemalige Widerstandskämpfer in einem Aufruf die Forderung »nach Errichtung einer wirklichen wirtschaftlichen und sozialen Demokratie, die die großen Wirtschafts- und Finanzoligarchien von der Leitung der Wirtschaft ausschließt«.²

In der »freien« Zone ist Lyon das Zentrum des Widerstands. Die Stadt verfügt über zahlreiche Druckereien, in denen die Résistance-Gruppen ihre Zeitungen produzieren können. Dort koordinieren sie sich, bauen Netzwerke auf und stellen Verbindungen zu lokalen und regionalen Zellen in der Umgebung her. Waffenverstecke werden angelegt und bewaffnete Aktionen durchgeführt. Eine besonders bemerkenswerte Aktion, die dem Regisseur Claude Berri als Vorlage für den Film »Lucie Aubrac« (1997) dient, ist die Befreiung von Raymond Aubrac, der 1943 zusammen mit anderen Mitgliedern der Résistance verhaftet worden war. Seine Frau Lucie gibt sich unter falschen Namen als unschuldiges Mädchen aus, das vom Gefangenen geschwängert worden war. Tatsächlich gelingt es ihr, Klaus Barbie, den Chef der Gestapo in Lyon, von ihrem Wunsch nach einer »Notheirat« zu überzeugen, die vor der geplanten Hinrichtung Raymonds stattfinden soll. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern von »Libération« plant sie die Flucht. Es gelingt ihnen, den Lkw-Transport, der Raymond aus dem Gefängnis zum Hochzeitstermin bringt, zu stoppen und ihn und andere Gefangene aus den Fängen der Gestapo zu befreien. Dem Paar gelingt die Flucht nach England. Nach der Befreiung engagiert sich Lucie Aubrac weiter. Sie unterstützt den Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe, kritisiert die Kolonialpolitik ihres Landes in Algerien und Vietnam. Noch kurz vor ihrem Tod 2007 ruft sie zum Widerstand gegen den Neoliberalismus auf.³

Nach der Niederlage in Afrika befürchtet Hitler eine Invasion der Alliierten in Südfrankreich. Um das zu verhindern, marschieren die Deutschen im November 1942 in den État français ein. Lyon wird zur »Hauptstadt« der deutschen Besatzer. Offiziell behält die Vichy-Regierung die Souveränität über den Süden, tatsächlich aber wird sie immer bedeutungsloser.

In Lyon konzentriert sich nun der gesamte bürokratische und Repressionsapparat der Okkupanten. Die Stadt wird Sitz des Einsatzkommandos »Heeres­gebiet Südfrankreich« und der dazugehörigen Militärgerichtshöfe und der Feldgendarmerie, die zur Amtshilfe bei Aktionen der SS verpflichtet sind. Auch Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienste (Gestapo) werden in die Stadt verlegt und richten sich im Hotel Terminus ein. Das in der Nähe des Bahnhofs befindliche Gefängnis Montluc wird in ein Militärgefängnis umgewandelt, in dem die Gestapo das Sagen hat.

Gestapo und SS

Die Repression der Besatzer und ihre Aktionen zur Bekämpfung des Widerstands nehmen nun immer härtere Züge an. Razzien und Verhaftungen sind an der Tagesordnung, immer häufiger kommt es zu Todesurteilen mit anschließender Erschießung. Diese zunehmende Gewaltausübung ist nicht nur eine Reaktion auf die Aktivitäten der Résistance, sondern auch Ausdruck einer fortschreitenden Brutalisierung der deutschen Besatzer. Dabei sticht besonders das Verhalten von Gestapo, SS und SD hervor. Klaus Barbie, gelernter Jurist, SS-Hauptsturmführer und seit 1943 Leiter der Gestapo in Lyon ist berüchtigt wegen seiner Grausamkeit bei Verhören und Folterungen. Er ordnet die Erschießung von 200 Gefangenen des Gefängnisses Montluc an und ist verantwortlich für die Deportation von 80 Juden aus Lyon und von 44 Kindern eines Heims in Izieu. Gegen Kriegsende taucht er unter, macht aber beim US-Geheimdienst CIC Karriere, der ihn nach Bolivien schleust, wo er als Klaus Altmann zeitweise auch für den BND arbeitet. Barbie wird in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Eine Anklage in München wird 1971 eingestellt. Erst als das Ehepaar Klarsfeld ihn aufspürt, wird er nach Frankreich ausgeliefert und 1987 vom Schwurgericht Lyon wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Als »Schlächter von Lyon«, so seine Bezeichnung im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, ist Klaus Barbie auch heute noch bekannt. Er ist aufgrund seiner Rolle als Gestapo-Chef von Lyon, der Umstände seiner Aufspürung und seines vielbeachteten Prozesses, der auch als Film dokumentiert ist, zum Hauptsymbol der nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und in Lyon geworden.

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Abführung von Kollaborateuren in Lyon (12.9.1944)

In ihrem Buch »Die deutsche Besatzung in Lyon im Blick der Täterforschung« stellt die Historikerin Elisabeth Meier das Bild des Schlächters nicht in Frage. Sie macht aber darauf aufmerksam, dass dieses Bild die Rolle der anderen Mitglieder der Sicherheitspolizei und erst recht der militärischen Besatzer in Lyon in Vergessenheit geraten lässt. Ein wichtiges Beispiel dafür ist Werner Knab.

Als SS-Obersturmbannführer, der wie Barbie eine Juristenlaufbahn in Nazideutschland absolviert hat, ist er zu Kriegsbeginn Gestapo-Chef in Oslo, später Leiter der Gestapo in Kiew und für die Ermordung zahlloser Juden verantwortlich. Er ist wahrscheinlich auch am Massaker in Babi Jar beteiligt. Von Juni 1943 bis August 1944 ist er Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lyon und Barbies Vorgesetzter. Knab setzt durch, dass gefangene Widerständler nicht vor ein Kriegsgericht kommen, sondern an Ort und Stelle erschossen werden.

Im Juni und Juli 1944 erhebt sich eine Résistance-Gruppe, bekanntgeworden als Maquis du Vercors, in der kleinen Gemeinde Vassieux-en-Vercors, etwa 130 Kilometer südlich von Lyon, zu einem Aufstand gegen die deutsche Besatzung. Der Aufstand wird brutal niedergeschlagen. Während des Blutbads ist Knab vor Ort und ordnet das Massaker an Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, persönlich an – eine Methode, die zuvor an der Ostfront regelmäßig zur Anwendung kam. Er stirbt 1945 vermutlich bei einem Fliegerangriff. Vom Militärgericht in Lyon wird er 1954 in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Knab, schreibt Meier, »zeichnete sich als Weltanschauungstäter aus, der seine Erfahrung im Partisanenkrieg in der Ukraine den französischen Verhältnissen anpasste. Die Erfahrung der Ostfront und der Partisanenbekämpfung in den ›besetzen Gebieten‹ Osteuropas spiegelte sich in den repressiven Maßnahmen wider, die in Lyon gegen die Résistance und die Juden angewendet wurden. Diese Erfahrung, die von Leuten wie Knab oder dem Sonderkommando IV E ›Jerzy-Fichte‹ nach Frankreich eingebracht wurde, kombinierte sich jedoch mit Faktoren, die für die Situation in Lyon und in Frankreich spezifisch waren.«⁴

Bürgerkrieg und Befreiung

Im Sommer 1944 kommt es in Lyon täglich zu Konflikten zwischen den Vichy-Polizeikräften, den Deutschen und den Widerstandskämpfern. Die Stadt ist Schauplatz bürgerkriegsähnlicher Zustände. Historiker sprechen von den »wilden Massakern« des Sommers 1944. Am Place Bellecour werden die Leichen erschossener Widerstandskämpfer abgelegt und bleiben dort zur Abschreckung vor weiteren Aktionen tagelang liegen. Im Gefängnis Montluc werden mehr als 100 Widerstandskämpfer und Juden erschossen, um Platz für neue Inhaftierte zu schaffen. Knab fordert zur »Leerschießung« der Gefängnisse auf.

Trotz aller Repressalien und erbitterter Kämpfe ist Lyon samt Umgebung eine Hochburg des Widerstands, die die Besatzungsmächte nicht unter Kontrolle bekommen. »Im März 1944 erreichten die verübten Attentate in Lyon die Rekordzahl von 904 (verglichen mit den 62 Attentaten nur ein Jahr früher, im März 1943). In der Umgebung von Lyon, Limoges und Toulouse verloren die Angehörigen der Sipo-SD jegliche Hemmungen. In Lyon wurde die Erschießung Verdächtiger, die Widerstand leisteten oder flüchten wollten, zur gängigen Praxis.«⁵ Insgesamt werden in Lyon während des Krieges mehr als 2.000 Menschen hingerichtet.

Am 15. August 1944 landen die alliierten Streitkräfte an der Mittelmeerküste Frankreichs. Das Ende der deutschen Besatzung ist absehbar. Die verschiedenen Gruppen der Résistance wollen den Abzug beschleunigen und selbst einen Beitrag zur Befreiung des Landes leisten. In Paris und Nizza wird die Bevölkerung von der Résistance aufgefordert, Barrikaden zu bauen. In Lyon planen die Gruppen, die Stadt durch einen bewaffneten Aufstand der Bevölkerung selbst zu befreien. Dieser Plan wird aber nicht umgesetzt, weil sich herausstellt, dass der Widerstand in der Stadt über viel zu wenige Waffen verfügt. Zudem haben die Deutschen für den Fall eines Aufstands bereits Massenerschießungen angekündigt.

In Villeurbanne, einem Vorort im Norden der Stadt, kommt es am 24. August zu einem Volksaufstand. Eine Gruppe von Widerstandskämpfern aus der FTP will Lastwagen requirieren, um Kameraden zu befreien, denen in Montluc die Erschießung droht. Als sie in ein Scharmützel mit Wachleuten geraten, kommen ihnen Hunderte Einwohner spontan zu Hilfe, bauen Barrikaden, besetzten die Post, das Polizeikommissariat und das Rathaus. Es entwickelt sich ein – nicht geplanter – Volksaufstand zur Befreiung der Stadt – einer der wenigen in Frankreich. Die Deutschen versuchen die Kontrolle zurückzugewinnen. Dann verhandeln sie ihren Rückzug gegen das Versprechen, keine Maßnahmen gegen die Bevölkerung Villeurbannes zu ergreifen.

Der Großteil der in der Stadt stationierten deutschen Truppen verlässt Lyon in der Nacht vom 1. auf den 2. September. Sie lassen nur wenige Männer zurück, in der Absicht, den Vormarsch der Alliierten durch Sprengung der Brücken über die Rhône zu verlangsamen. Das kann die Résistance jedoch vereiteln. Am 2. September kommen die Amerikaner, am Tag darauf ist die Stadt endgültig befreit.

Die Flucht der deutschen Besatzer führt an dem Haus vorbei, in dem sich Ernest und Lydia Jouhy seit Monaten verstecken. Beide liegen im Bett, können aber nicht schlafen. Sie hören die Geräusche und das Getöse einer Armee auf dem ungeordneten Rückzug. E. Jouhy ahnt, dass mit diesem Rückzug ein Abschnitt seines Lebens endet und eine neue Welt beginnt. Er schreibt: »Ich kann das Gefühl, das da bei mir entstanden ist, mit Lydia habe ich mich darüber unterhalten, bei ihr entstand dasselbe Gefühl, nicht beschreiben. Es ist unbeschreiblich! Weil es bedeutete: Der furchtbare, auch nicht zu beschreibende Druck auf unsere Seelen, der in der Unterdrückung, Illegalität, Vernichtung bestand, dass der mit diesem Geräusch aufhört und dass eine völlig andere Welt beginnen wird. Dies war klar, und es war überwältigend. Es ist sicher von allen Glücksgefühlen, die ich in meinem Leben erfahren habe, das größte Glücksgefühl, das ich je erfahren habe.«⁶

Anmerkungen

1 Anne Beaumanoir: Wir wollten das Leben ändern, Bd. 1: Leben für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923 bis 1956, übersetzt aus dem Französischen von Gerd Stange, Hamburg 2020, S. 86

2 https://schluss-mit-austeritaet.de/wp-content/uploads/2024/03/Frankreich-AKTIONSPROGRAMM-DES-WIDERSTANDS-CNR-15maerz-1944.pdf

3 Vgl. Florence Hervé: Lucie Aubrac. Freiheitskämpferin. Nachruf auf die Grande Dame der Résistance. In: Femina Politica (2007), H. 2, S. 113–116

4 Elisabeth Meier: Die deutsche Besatzung in Lyon im Blick der Täterforschung, Frankfurt am Main 2016, S. 116

5 Ebd., S. 68

6 Die Befreiung von Lyon: »Das größte Glücksgefühl, das ich je erfahren habe«, in: Bernd Heyl; Sebastian Voigt u. Edgar Weick (Hg.): Ernest Jouhy. Zur Aktualität eines leidenschaftlichen Pädagogen, Frankfurt am Main 2017, S. 202

Teil 1: Unter Kontrolle des Vichy-Regimes. Die Résistance in der Metropole an der Rhône und ihre Befreiung von deutscher Besetzung erschien in der gestrigen Ausgabe vom 2. September 2024.

Hermann Bueren schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. März 2024 über das »Projekt« als belastende Form der Arbeitsorganisation im Kapitalismus.

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