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Aus: Ausgabe vom 04.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Konflikt in Osteuropa

Bremst Washington Kiew?

Waffensammeltour ukrainischer Spitzenpolitiker in die USA ohne sichtbares Ergebnis. CNN: »Viel kriegen sie nicht mehr«
Von Reinhard Lauterbach
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Ein Handschlag allein kostet nichts: Der ukrainische Verteidigungsminister zu Besuch in der US-Hauptstadt (30.8.2024)

Die groß angekündigte Reise des ukrainischen Präsidialamtschefs Andrij Jermak sowie des Verteidigungsministers Rustem Umjerow in die USA hat offenbar nicht das in Kiew erwünschte Ergebnis gehabt. Umjerow sagte dem US-Fernsehsender CNN kleinlaut, er hoffe, die ukrainischen Bitten um weitere Langstreckenwaffen und die Erlaubnis, sie zu Angriffen im russischen Hinterland zu nutzen, seien »gehört worden«. Parallel zitierte der Sender einen hochrangigen Beamten des US-Verteidigungsministeriums mit der Aussage, die Ukraine möge für die nähere Zukunft keine größeren Lieferungen der erwünschten ATACMS-Raketen erwarten: Sie seien nur noch in begrenzter Zahl vorhanden, und die Nachproduktion brauche viel Zeit. Ergänzend schrieb die Financial Times, US-Präsident Joseph Biden habe sich gegenüber Beratern besorgt gezeigt, dass Kiew die USA in einen dritten Weltkrieg hineinprovozieren wolle. Die Zeitung beruft sich dabei auf ein kürzlich erschienenes Buch des New York Times-Hauptstadtkorrespondenten David Sanger.

Wechsel der Stoßrichtung

Berichte wie diese stehen nicht allein. In den angelsächsischen Leitmedien haben sich zuletzt Texte mit der Besorgnis gemehrt, die USA könnten ihren entscheidenden Einfluss auf die Eskalationsdynamik des Ukraine-Konflikts an eine mit dem Zynismus der Verzweiflung agierende Selenskij-Administration verlieren. Stimmen wie die des scheidenden NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, die Ukraine müsse weiter Waffen in der geforderten Menge erhalten, weil sie »nicht verlieren dürfe«, geraten damit zumindest in der öffentlichen Debatte in die Minderheit. Vertreter der Kiewer Regierung hatten zuletzt in einer Reihe öffentlicher Äußerungen die westlichen Unterstützer der Ukraine zu »mehr Mut« und größerer Risikobereitschaft gegenüber Russland aufgerufen.

An der Front setzt Russland seine Angriffe im westlichen Donbass fort. Dabei fällt auf, dass die Hauptstoßrichtung der vergangenen Tage nicht mehr nach Westen in Richtung Pokrowsk zu liegen scheint, sondern inzwischen nach Süden gerichtet ist. Dort halten ukrainische Truppen rund um die Ortschaft Newelskoje noch einen relativ nahe an Donezk gelegenen Frontvorsprung, und diesen scheint Russland jetzt abschnüren zu wollen. Darauf deuten aktuelle Angriffe von Norden und Süden auf die Flanken dieses Vorstoßes hin. Vor allem am südlichen Rand dieses Frontbogens bei der Bergbaustadt Wugledar scheinen die russischen Truppen zuletzt größere Geländegewinne zu verzeichnen. So wurde auf dem Wugledar prägenden Bergwerk »Juschnodonbasskaja 1« die russische Fahne auf dem Verwaltungsgebäude gehisst, und westlich von Wugledar sind russische Einheiten nach Angaben ukrainischer Militärblogger innerhalb kurzer Zeit vier Kilometer auf die Ortschaft Wosd­wischenskaja vorangekommen. Für einen Krieg, in dem Geländegewinne um jeweils einige hundert Meter über Monate das Kampfgeschehen geprägt haben, ist das eine erhebliche Beschleunigung. Dazu dürfte beigetragen haben, dass die ukrainische Armeeführung zwei mit den lokalen Bedingungen in Wugledar gut vertraute Brigaden an die Front vor Pokrowsk abziehen musste und als Ersatz nur noch frisch ausgehobene Einheiten ohne größere Kampferfahrung aufzubieten hatte.

Schagi statt Kopijki

Die ukrainische Seite bereitet sich offenkundig auch darauf vor, Pokrowsk demnächst aufzugeben. Aus der Stadt fahren lange Kolonnen von Bussen und Privatfahrzeugen in Richtung Westen, Anfang der Woche haben die Bankfilialen und die Lebensmittelgeschäfte in der Stadt ihre Arbeit eingestellt. Nach Berichten von noch in Pokrowsk verbliebenen Einwohnern stellt das insbesondere ältere Leute vor größere Schwierigkeiten bei der Bewältigung ihres Alltags. Es ist nur noch zwischen elf und 15 Uhr erlaubt, sich auf der Straße zu bewegen. In der Nacht zum Dienstag galten die Hauptschläge der russischen Raketen offenbar Einrichtungen der ukrainischen Eisenbahn in Sumi und Dnipro. Die Bahnverwaltung veröffentlichte Bilder beschädigter Lokschuppen und Lokomotiven.

Derweil ist die ukrainische Nationalbank dabei, das ukrainische Geldwesen zu »entrussifizieren«. Sie kündigte an, neue Münzen auszugeben, die nicht mehr »Kopijki« heißen sollten, sondern »Schagi«. Die Kopijki seien ein Symbol der »russischen Okkupation«, die der Ukraine alles genommen habe, was sie selbst zustande gebracht habe, hieß es in der entsprechenden Mitteilung der Bank. Schagi hatte es vom 16. bis 18. Jahrhundert in der polnisch-litauischen Adelsrepublik und danach noch einmal unter der kurzlebigen »Ukrainischen Volksrepublik« der Jahre 1917/18 gegeben. Aus Mangel an Münzen wurden sie damals auf verstärktem Briefmarkenpapier ausgegeben. Der Wert dieser neuen Münzen wird jedenfalls minimal sein: Ein Euro entspricht etwa 40 Griwna, die Kopijka ist ein Hundertstel davon. Ob die Neuerung im Zeitalter der Digitalisierung des Zahlungsverkehrs größere praktische Bedeutung haben wird, muss sich zeigen.

Letzter Appell: Angriff auf Poltawa

Bei einem russischen Raketenangriff auf eine vom ­ukrainischen Militär genutzte Hochschule in der zentralukrainischen Stadt Poltawa sind am Dienstag morgen mindestens 41 Soldaten getötet und etwa 180 weitere verletzt worden. Anfängliche Berichte, dass ein neben der Hochschule gelegenes Krankenhaus beschossen worden sei, wurden später von ukrainischer Seite nicht mehr wiederholt.

Nach ukrainischen Angaben trafen gegen neun Uhr morgens kurz nach einem Luftalarm zwei ballistische Raketen das Gebäude der Hochschule für Fernmeldewesen, wo die ukrainische Armee Spezialisten für Drohnenkrieg und elektronische Kampfführung ausbildet. Die für Enthüllungen über systemische Mängel im ukrainischen Militär bekannte Abgeordnete Marjana Besugla schrieb, die Soldaten hätten sich zum Zeitpunkt des Alarms zu einem Appell im Hof der Hochschule versammelt. Die ukrainische Führung habe aus einem ähnlichen Angriff vor einem halben Jahr nichts gelernt. Damals waren bei einer Ordensverleihung im Hinterland der Saporischschja-Front ebenfalls mehrere Dutzend ukrainischer Soldaten getötet worden.

Deutlich wird auf jeden Fall, dass die russische Seite sehr kurzfristig über die Ansammlung der Soldaten auf dem Hof informiert gewesen sein muss – ob durch Satellitenaufklärung oder Informanten vor Ort. Dies macht gelegentlich in russischen Medien vorkommende Andeutungen über die Existenz eines »prorussischen Widerstands« im ukrainischen Hinterland ein Stück glaubhafter.

Unbestätigte Berichte von Augenzeugen weisen noch auf weitere mutmaßliche Versäumnisse hin. So seien nur die Offiziersanwärter in den Luftschutzkeller der Hochschule gelassen worden, die einfachen Rekruten und andere Mannschaftsdienstgrade habe man dagegen trotz des Alarms auf dem Hof stehenlassen. (rl)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (5. September 2024 um 12:43 Uhr)
    Die Falschbehauptung, bei dem russischen Raketenangriff auf die Militärschule wäre auch ein Krankenhaus getroffen worden, wurde durch den ukrainischen Präsidenten Selenskyi in die Welt gesetzt und durch westliche Medien weiterverbreitet. In Wirklichkeit gibt es in der Umgebung der angegriffenen Militärbasis kein Krankenhaus (jedenfalls kein ziviles). Im ZDF-»heute journal« des Tages verstieg sich der ZDF-Korrespondent in der Ukraine, Henner Hebestreit, sogar zu der Formulierung von »einem Krankenhaus auf demselben Gelände«, wohlgemerkt alles unter der Überschrift eines russischen Angriffs auf »Zivilisten und zivile Objekte«.

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