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Aus: Ausgabe vom 05.09.2024, Seite 2 / Inland
Mindestlohnbetrug

»Unternehmen haben wenig Skrupel«

NRW: Tausende Verstöße gegen das Mindestlohngesetz, doch viel zu wenige Kontrollen. Ein Gespräch mit Matthias W. Birkwald
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Rares Gut: Lohn

In einer kleinen Anfrage im Bundestag haben Sie sich nach dem Mindestlohnbetrug in NRW erkundigt. Was kam bei der Antwort der Bundesregierung heraus?

Im Jahr 2023, dem ersten Jahr nach Ende der Coronabeschränkungen, lag die Zahl der Arbeitgeberprüfungen in Nordrhein-Westfalen deutlich unter den Zahlen des Jahres 2019. Vor fünf Jahren waren noch 11.193 Betriebe geprüft worden, im vergangenen Jahr waren es nur noch 8.529. Das heißt: Selbst unter den coronabedingten Einschränkungen gab es mehr Prüfungen als im vergangenen Jahr! Selbst im Vergleich zum Vorjahr 2022 ist der Rückgang noch immer auffällig und liegt bei 18,9 Prozent. Demgegenüber ist die Zahl der wegen Verstößen gegen das Mindestlohngesetz eingeleiteten Ordnungswidrigkeitenverfahren gegenüber dem Vorjahr deutlich, nämlich um 10,9 Prozent, gestiegen.

In welchen Branchen sind Beschäftigte besonders betroffen?

In nahezu allen Hauptzollämtern Nordrhein-Westfalens wurden die Branchen »Gaststätten und Beherbergungsgewerbe« (1.755), »Transport- und Speditionsgewerbe« (653) sowie das »Bauhaupt- und Baunebengewerbe« (1.651) am häufigsten kontrolliert. Mit 47,6 Prozent entfallen fast die Hälfte aller in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Kontrollen auf diese drei Branchen. Verstöße gegen das Mindestlohngesetz gab es vor allem im Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe. Ordnungswidrigkeits- und Strafverfahren gab es ebenfalls dort (73 bzw. 36 Verfahren) sowie im Bau- und Baunebengewerbe (55 bzw. 79 Verfahren), im Kurier-, Express- und im Paketdienstleistungsgewerbe (zehn Ordnungswidrigkeiten- und neun Strafverfahren).

Wird Ihrer Meinung nach zu wenig kontrolliert?

Definitiv. Den gesetzlichen Mindestlohn gibt es nun zehn Jahre. Dass immer noch so viele Verstöße festgestellt werden, zeigt, dass manche Unternehmen noch immer wenig Skrupel haben, diesen zu umgehen. Damit wollen sie ihre Marktanteile erhalten oder erweitern, auf Kosten derjenigen Unternehmen, die sich an das Mindestlohngesetz halten oder die sogar Tariflöhne zahlen. Das muss unterbunden werden. Der Mindestlohn ist eine Untergrenze, ein Schutz gegen Schmutzkonkurrenz. Dafür reicht Vertrauen nicht, Kontrolle ist nötig.

Was vermuten Sie als Hintergrund der sinkenden Kontrollen?

Es fehlt an Personal. Für mehr Kontrollen braucht man mehr Leute, die diese sachgerecht durchführen können.

Was fordern Sie, um die Mindestlohnverstöße einzudämmen?

Es muss viel einfacher werden, Verstöße gegen das Mindestlohngesetz zu melden, vor allem anonym. Die jetzige Möglichkeit über die Webseite des Zolls ist ein schlechter Witz. Beim »Meldeportal Mindestlohn« des Zolls muss man erst mal ein Benutzerkonto anlegen. Dabei ist doch das Letzte, was ich als Beschäftige eines Unternehmens, das gegen geltende Gesetze verstößt, machen möchte, meine E-Mail-Adresse anzugeben. Das ist wirklich nicht von den Betroffenen her gedacht.

Welche Möglichkeiten hat man dann als Betroffener?

Besser als der Zoll hat es mein Abgeordnetenkollege Victor Perli mit seinem Portal mindestlohnbetrug.de gemacht, wo man schnell, einfach und anonym solche Vergehen melden kann. Heutzutage wäre ergänzend eine App sinnvoll, nutzbar in den verschiedenen Sprachen, die man typischerweise in den prekären Bereichen des Arbeitsmarktes findet. Zudem muss man nicht das Rad neu erfinden, sondern kann und sollte durchaus von anderen Ländern lernen, in denen es bereits seit Jahren Erfahrungen mit Mindestlohnkontrollen gibt.

Im Vereinigten Königreich beispielsweise können Beschäftigte eine Telefonhotline anrufen und anonym ihren Verdacht auf Mindestlohnbetrug melden. Deutschland braucht dringend eine solche Hotline. Ruft man wegen Mindestlohnverstößen dagegen die existierende Mindestlohnhotline des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales an, wird man zunächst an das zuständige Hauptzollamt verwiesen. Das hat mehr vom »Passierschein A38« aus »Asterix erobert Rom« als von einer Anlaufstelle für Menschen, die zum Schaden der Gesellschaft um ihr gutes Recht betrogen werden.

Matthias W. Birkwald (MdB Die Linke) ist Obmann im Ausschuss für Arbeit und Soziales

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