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Aus: Ausgabe vom 05.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Vorübergehende Zombies

Genrevergnügen: John Rosmans Science-Fiction-Thriller »New Life«
Von Holger Römers
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Vita nuova: Abgewrackt im Wald

Irgendwann ruft eine der beiden Protagonistinnen von »New Life« verzweifelt aus, dass sie noch die Welt sehen wolle, worauf die andere schwermütig antwortet: »Ich auch, ich auch.« Da scheint freilich bereits klar, dass sich für Fernreisen keine Gelegenheit mehr bieten dürfte. Es ist nämlich die Aufgabe von Elsa (Sonya Walger), notfalls durch Gebrauch ihrer Dienstpistole sicherzustellen, dass Jessica (Hayley Erin) die nahe kanadische Grenze nicht erreicht. Fortschreitende Lähmungserscheinungen, die einer amyotrophen Lateralsklerose zuzuschreiben sind, lassen zugleich ahnen, dass diese Mitarbeiterin eines privaten Sicherheitsdienstes ihrerseits bis zum krankheitsbedingten Tod zunehmend bewegungsunfähig wird.

Zuvor hat Regisseur John Rosman, der zu seinem Spielfilmdebüt auch das Drehbuch verfasst hat, uns allerdings lange über die Gründe im Unklaren gelassen, die Jessica von der Anfangsszene an zur panischen Flucht bewegen. Es vergeht eine ganze Weile, bis die junge Frau spricht, und noch länger dauert es, bis eine Schlafpause den Anlass für eine kurze Rückblende bietet. Es bedarf jedoch weiterer Flashbacks, bevor nachzuvollziehen ist, weshalb diese Figur mit blutverschmiertem Gesicht und blauem Auge eingeführt worden ist. Dann erschließt sich auch die leise Tragik, die darin liegt, dass Jessica bis zuletzt ihre Situation missversteht – wozu gehört, dass die Menschen um sie herum vorübergehend wie Zombies agieren.

Zu solchen Genreelementen passt, dass Rosman in Interviews auf David Cronenbergs »Die Fliege« (1986) und Tobe Hoopers »Texas Chainsaw ­Massacre« (1974) als Inspirationsquellen verweist. Für seine eigenwillige Mischung aus Tonlagen und Perspektiven ist aber bezeichnend, dass er ebenso regelmäßig Kelly Reichardts »Wendy and Lucy« (2008) als Referenz nennt. Abgesehen davon, dass »New Life« in Oregon gedreht wurde, wo Reichardt lebt und arbeitet, erinnert auch Jessicas unvermittelte Wohnungslosigkeit an die Lebensbedingungen der Hauptfigur jenes Films – zumal eine Rückblende uns wissen lässt, dass auch hier ein Hund den sparsamen Plot beeinflusst.

Folgerichtig neigt Mark Evans’ diskrete Handkamera, indem sie im Hintergrund oder am Rand agrarindustrielle Zweckbauten ins Bild rückt, zu jenem Realismus, den die Bedingungen einer sichtlich kostengünstigen Independentproduktion generell befördern dürften. Allerdings gibt die strenge Knappheit, die die vom obskuren Enzo Rafa Rain Collective verantwortete impressionistische Montage zunächst prägt, bald romantischen Akzenten Raum, die sich aus Bildmotiven wie einer zum gebirgigen Horizont reichenden leeren Landstraße oder einer von Schneeflecken gesäumten Prärie ergeben.

Indem Rosman solche Landschaftspanoramen schwelgerisch mit Musik des Filmkomponistenduos Mondo Boys untermalt, suggeriert er den Persönlichkeitswandel, der bei Jessica durch die unfreiwillige Reise angestoßen wird und in dem oben zitierten Ausruf mündet. Über ihren Hintergrund lässt uns ein Dialogsatz indes nur wissen, dass sie die gesamte Jugend auf einer Farm verbracht und nach einem Umzug in eine Stadt geglaubt habe, dort mit ihrem Freund den Rest des Lebens zu verbringen. Eine ähnliche Verschiebung der Lebensperspektive deutet sich derweil im parallelen Handlungsstrang an, wenn aus Telefonaten mit dem Kollegen Vince (Jeb Berrier), der in einer kurzfristig errichteten Einsatzzentrale jede erdenkliche Überwachungstechnik anzapft, hervorgeht, dass Elsa als Workaholic nie Urlaub nehmen mochte – und ihre Arbeit dennoch zunehmend frustrierend fand.

So stellt sich implizit die Frage, inwiefern diesen Frauen das titelgebende »neue Leben« unter anderen Umständen möglich wäre, wobei sich bezeichnenderweise von Anfang an individualistische Mythen der Selbstverwirklichung als expliziter Bezugsrahmen anbieten. Das beginnt mit zwei auf Notizzettel gekritzelten Sätzen, die Elsa mutmaßlich einem Handbuch zur Selbstoptimierung entnommen und zum täglichen Ansporn am Spiegel überm Waschbecken angebracht hat. Auf dessen Rand findet sich freilich schon bei Einführung der Figur eine Wochenration Tabletten – was einen augenfälligen Kontrast zu angeblich »unbegrenzten Gelegenheiten zum Erfolg« markiert.

Eine noch kritischere Bedeutungsebene ergibt sich indes aus der Andeutung, wer für Jessicas Schlamassel verantwortlich ist. Dabei ist es hinsichtlich des Genrevergnügens wohl nicht zu viel verraten, wenn man zügellose Biotechforschung erwähnt sowie eine Verbindung von Großkapital und Staatsapparat, die recht konkret die Frage aufwirft, wer Koch beziehungsweise Kellner ist.

»New Life«, Regie: John Rosman, USA 2023, 85 Min., Kinostart: heute

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