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Aus: Ausgabe vom 05.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Trübe Aussichten

Bis jemand am Boden liegt: Aslı Özarslan verfilmt Fatma Aydemirs Romandebüt »Ellbogen«
Von Ronald Kohl
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Man weiß ja nie: Hazal (Melia Kara, l.) und Freundinnen

Gewalt spielt in »Ellbogen« eine große Rolle, sowohl körperliche als auch verbale. In der härtesten Szene des Trailers sehen wir Hazal (Melia Kara), die von einem aufgebrachten Mann an den Haaren hochgezogen und angeschrien wird: »Steh auf! Sprich mit mir auf türkisch!« Hazal ist der Situation nicht gewachsen. Ihr Blick drückt blankes Entsetzen aus. Die linke Augenbraue ist aufgeplatzt und blutet. Sie bringt kein einziges Wort hervor. Entweder hat es ihr ausnahmsweise mal die Sprache verschlagen oder sie weiß nicht, was »Fick disch!« auf türkisch heißt, denn zu Hause, bei ihren Eltern im Berliner Wedding, durfte sie so nicht sprechen. Auf der Straße hat sie es immer getan. Aber dann eben auf deutsch.

Regisseurin Aslı Özarslan, die auch am Drehbuch von »Ellbogen« mitgeschrieben hat, folgt dem inhaltlichen Konzept des gleichnamigen Romans von Fatma Aydemir, der 2017 erschien. Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren und studierte Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. »Seit 2012 lebt sie in Berlin und ist Redakteurin bei der Taz«, heißt es außerdem im Infotext der dtv-Ausgabe ihres Buches. Auch wenn Fatma Aydemir das häusliche Umfeld der Heldin, aus deren Perspektive sowohl im Buch als auch im Film ausschließlich erzählt wird, vertraut sein dürfte, fragt man sich doch, warum ausgerechnet Hazals Vater der dumpfeste von allen türkischen Taxifahrern Berlins sein muss. Und auch ihre Mutter tickt anders als alle türkischen Frauen, die ich in dieser Altersgruppe kenne. Aber Hazal hat nicht nur Pech mit ihren Eltern, auch jobmäßig sieht es eher trübe aus. Die große Frage lautet, was aus ihr einmal werden soll.

Auf jeden Fall wird sie jetzt erst einmal 18. Das muss gefeiert werden, und zwar mit ihren beiden besten Freundinnen Elma und Gül. Doch die geplante Party im geilsten Klub von Berlin endet ziemlich ernüchternd; der Türsteher lässt sie nicht rein. Auf den Schreck muss nachgetankt werden, am Kiosk. Dann kommt es zur großen Katastrophe, zur gewaltsamen Eruption. Um nicht alles zu verraten, erzähle ich die Sache jetzt mal so, wie sie im Buch beschrieben wird: ein verlassener U-Bahnsteig. Keine Menschenseele, bis auf die drei Mädchen und einen sturztrunkenen Typen, um die 20 Jahre alt, Brillenträger. »Du hast ja ein scharfes Kleid an. Kommt ihr von einer Hochzeit?« Daraufhin wird Elma tätlich. Er: »Ich steh auf dominante Frauen. Soll ich dir meinen Schwanz zeigen?« Doch dazu kommt er nicht mehr. Erst geht seine Brille zu Boden, dann der Typ. Als er sich wieder aufgerappelt hat, gibt ihm Hazal den Rest. Er liegt auf den Gleisen und blutet aus dem Kopf.

Ein Glück, dass Hazal in der Bäckerei ihres Onkels jobbt. Da kann sie am nächsten Tag unbeobachtet in die Kasse greifen – und ab geht es nach Istanbul, zu ihrer großen Liebe. Mehmet und sie schicken schon eine Weile Simsen hin und her, sind sich aber noch nie begegnet. Ideale Bedingungen für eine Frau, die untertauchen muss.

Mir wäre es ja lieber gewesen, Hazal wäre eingefahren. Nicht wegen der Gerechtigkeit. Ich finde es nur feige, den Plot ausgerechnet dann, wenn es interessant werden könnte, an den Bosporus zu verlegen. Schließlich ist Hazal nicht Leyla Îmret, über die Regisseurin Özarslan ihren ersten Film, eine Doku, gedreht hat. Der Vater der 1987 geborenen Leyla Îmret wurde als PKK-Kämpfer während eines Gefechts erschossen. Sie verbrachte einen beträchtlichen Teil ihrer Kindheit und Jugend bei Verwandten in der Nähe von Bremen. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei engagierte sie sich als Kommunalpolitikerin und wurde 2014 Bürgermeisterin von Cizre und damit eine der jüngsten Frauen auf einem derartigen Posten in der Geschichte der Türkei. Jetzt lebt sie wieder in der BRD.

Für Hazal kommt eine Rückkehr in den Wedding nicht so schnell in Frage, auch wenn sich Mehmet nicht unbedingt als Hauptgewinn erwiesen hat. In seiner Wohnung sieht es bei Hazals Ankunft regelrecht verwahrlost aus, und außer wenn er schläft, hält er immer einen Joint in der Hand. Jüngste Bürgermeisterin von Istanbul dürfte Hazal da wohl kaum werden.

Aber man weiß ja nie. Die Regisseurin beschreibt sie im Interview als »klug«. Mir fiel nur auf, dass sie noch auf den letzten Seiten des Buches von ihrem neuen Chef, einem Kaffeehausbesitzer in Istanbul, mit Hazal angesprochen wird, was ja nicht so übermäßig clever erscheint, wenn man in der Illegalität lebt. Wie sie das mit ihrem Namen in der Verfilmung handhabt, weiß ich allerdings nicht mehr. Ich hatte keinen Bock auf die Pressevorführung.

»Ellbogen«, Regie: Aslı Özarslan BRD/Türkei 2023, 90 Min., Kinostart: heute

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