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Aus: Ausgabe vom 09.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Hab’ ich gelacht?

Gut gemeint: Neue Comicbände, die man nicht zwingend braucht
Von Marc Hieronimus
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Schwedische Betten: So war das damals im »Roten Winter«

Comicbesprechungen finanzieren keinen Lebensunterhalt, sie sind ein schönes, aufwandsentschädigtes Hobby. Weil die Schreibkraft weder sich noch den Leser langweilen will, lässt sie sich Rezensionsexemplare nur von den Neuerscheinungen kommen, die sie für vielversprechend oder unumgänglich hält: das letzte Werk der preisgekrönten Zeichnerin, die erweiterte Neuauflage eines Klassikers, thematisch Zwingendes, spannend angekündigte Erstlinge usw. – unter der Voraussetzung, dass die vorab gezeigten Vignetten sie ansprechen.

Mindestens 98 Prozent der Neuware fallen damit durchs Raster. Es kann sogar passieren, dass auch der vermeintlich gute Rest sich tatsächlich als nicht herausragend, nicht einmal als herausragend schlecht erweist. Nehmen wir »Der Bipolar-Bär« von Federico Caccia­paglia. Dem kleinen Jaja-Verlag ist alles Gute zu wünschen, er hat freundlicher- und unsinnigerweise gleich zwei Exemplare geschickt, aber außer dem herrlichen Titel regt hier nichts zum Schmunzeln an: Der Tod kommt auf die Erde, mit Sense, Umhang und der Gestik und Mimik einer überdrehten Comicfigur, um nach und nach alle gefährdeten Großtierarten auszulöschen. Besagter Bipolar-Bär steht als solcher nicht auf der Liste und begleitet ihn in verschiedenen Verkleidungen unter anderem zum letzten Schneeleoparden, in ein Kriegsgebiet in Afrika und zu seiner – also dessen, des Schnitters – netter Großmutter. Dazwischen zeigen Schautafeln die gefährdeten Spezies der verschiedenen Kontinente. Das ist absurd, aber nicht komisch, ernst, aber unernst und insgesamt ein mittleres Ärgernis.

Zweites Beispiel: Der Großverlag Carlsen hat 14 in Deutschland geborene oder ansässige Frauen gebeten, auf je sechs Seiten ihre Gedanken zur Zukunft zu Papier zu bringen. Das klappt mühelos in Frankreich oder Italien, aber diesseits von Rhein und Alpen ist die Zahl der Schreibzeichnenden, die Zeit für und Lust auf das Projekt zu diesem Zeitpunkt unter diesen Bedingungen haben, offensichtlich recht gering. Das Ergebnis ist dumm, langweilig und – vielleicht gewollt? – ungelenk-hässlich, aber eben auch so unwichtig, dass ein würziger Verriss ihm eine viel zu große Ehre erwiese.

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Probleme von gestern: Wer einmal mit dem Volksfeind pennt, gehört schon zum Establishment

Vielversprechend schien auch »Roter Winter«, die Geschichte einer Liebe in den schwedischen 70ern, die an politischen Fehden zwischen linken Gruppierungen kaputtgeht. Die Dramaturgie stimmt, die mehrfach ausgezeichnete Künstlerin weiß auch mit Aquarell umzugehen, aber nach der Lektüre fragt man sich: Habe ich gelacht, geweint, hat es mich irgendwie bewegt? Habe ich etwas gelernt, über Schweden damals, Politik, die Liebe?

Ebenfalls eine Affäre in der kalten Jahreszeit erzählt »Letztes Wochenende im Januar«. Ende Januar findet in Angoulême das bedeutendste europäische Comicfest statt, und da trifft Bastien Vivès oder seine Comicfigur auf eine Frau, und die beiden landen im Bett. Sie gehen auch tanzen. Ansonsten signiert er seine Comicalben und spricht mit Kollegen. Eine »wunderbare Lovestory«, urteilt der NDR-Kollege, »für Comicfans, aber auch für gnadenlose Romantiker ein besonderer Stern am Weihnachtsbaum«. Er freut sich sogar schon auf die Verfilmung. Sicher, Liebe geht immer, aber wenn man sie nicht gerade selbst erlebt, ist ihr Unterhaltungswert doch recht eingeschränkt.

An dieser Stelle ist regelmäßig von lesenswerten Neuerscheinungen die Rede, aber insgesamt lassen die Verlagsprogramme die interessierte Leserin noch lange nicht zur Comicnärrin werden. Wieviel Wunderbares und kommerziell Erfolgreiches bleibt aber bei uns unveröffentlicht! Um unter jährlich Hunderten nur ein Beispiel zu nennen: Luz’ »Testosterror« über ein den Masern verwandtes Virus, das den Testosteronspiegel der Männer in den besten Jahren senkt und die Hälfte der Franzosen in Panik versetzt – zum Brüllen und zu Recht ein Riesenerfolg. Aber jede französische Kleinstadt hat mindestens einen Comicladen, da gibt es immer etwas zu entdecken. Darum der Tipp: Mit Comics kann man sehr gut Sprachen lernen. Manche lernen sogar Sprachen, um bessere Comics lesen zu können.

Federico Cacciapaglia: Der Bipolar-Bär. Jaja-Verlag, Berlin 2024, 120 Seiten, 16 Euro

Lilian Pithan (Hg.): The Future is … Carlsen-Verlag, Hamburg 2024, 128 Seiten, 25 Euro

Anneli Furmark: Roter Winter. Avant-Verlag, Berlin 2024, 168 Seiten, 25 Euro

Bastien Vivès: Letztes Wochenende im Januar. Verlag Schreiber & Leser, Hamburg 2023, 184 Seiten, 22,80 Euro

Luz: Testosterror. Éditions Albin Michel, Paris 2023, 304 Seiten, 29,90 Euro

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

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