»Er dient der Eindämmung konkurrierender Institutionen«
Interview: Kristian StemmlerWie der Verlag 8. Mai, in dem diese Zeitung erscheint, klagt auch Ihr Verein gegen eine Nennung im Bericht des Inlandsgeheimdienstes. Seit wann sind Sie betroffen?
Wir wurden als »MASCH Hamburg – Forum für Politik und Kultur e. V.« seit dem Jahre 2015 im »Registeranhang zum Verfassungsschutzbericht« unter der Rubrik »Gruppierung/Organisation Linksextremismus« geführt. Wir seien aus Sicht des Verfassungsschutzes Hamburg eine extremistische Gruppierung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolge. Für uns hatte dies zunächst keine schwerwiegenden Konsequenzen, bis 2019 die steuerliche Abgabenordnung geändert wurde. Nun war eine Nennung im Verfassungsschutzbericht automatisch nicht mehr vereinbar mit Gemeinnützigkeit. Ohne inhaltliche Überprüfung, quasi auf Anordnung eines intransparenten Geheimdienstes, entzog uns das Finanzamt Hamburg im Dezember 2020 die Gemeinnützigkeit.
Wie haben Sie reagiert?
Zunächst haben wir versucht, den Verfassungsschutz zur Rücknahme der Erwähnungen zu bewegen. Dies führte immerhin dazu, dass er uns in den Berichten 2022 und 2023 nicht mehr erwähnt. Dennoch haben wir im Juni 2023 vor dem Verwaltungsgericht beantragt, uns auch rückwirkend aus den Berichten streichen zu lassen und in Zukunft nicht zu erwähnen. Das Verfahren schleppt sich seitdem dahin.
Im Bericht von 2021 des Hamburger Landesamtes heißt es, die MASCH lehre, dass der Kapitalismus überwunden werden müsse, weil die globalen Probleme auf dieses System zurückzuführen seien. Was ist daran verfassungswidrig?
Uns wird dort wörtlich vorgeworfen, wir würden »alle Probleme der Welt« ausschließlich auf den Kapitalismus zurückführen. Das ist eine absurde, zugespitzte Formulierung, die niemand ernsthaft so vertreten würde. Selbstverständlich haben globale Probleme viele Ursachen und Aspekte. Da der Kapitalismus sich aber global durchgesetzt hat, gibt es andererseits auch kaum ein soziales Phänomen, das nicht durch den Kapitalismus beeinflusst oder bedingt wäre. Dies zu analysieren, ist Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft und selbstverständlich überhaupt nicht verfassungswidrig.
In dem Bericht wird noch eine zweite MASCH aus Hamburg erwähnt.
Der Verein Marxistische Arbeiterschule e. V. hat sich 2007 ohne Absprache mit uns gegründet. Neben dem namentlichen Unterschied »Arbeiterschule« und »Abendschule« gibt es eine Reihe von unterschiedlichen inhaltlichen Gewichtungen.
Beide würden die freiheitliche demokratische Ordnung überwinden wollen, »um an deren Stelle einen Staat zu errichten, der auf den Grundlagen des Marxismus-Leninismus fußt«, heißt es im VS-Bericht. Ist das korrekt?
Das ist, was uns betrifft, definitiv falsch. Wir vertreten die leninistischen Auffassungen hinsichtlich eines zentralistischen Partei- und Staatsaufbaus als MASCH Hamburg nicht, sondern sehen uns als Diskussionsforum marxistischer – und anderer linker – Ideen, ohne konkrete politische Ziele zu verfolgen, die sich unserer Auffassung nach erst in einem längeren gesellschaftlichen Diskussionsprozess entwickeln können. Lenin spielt in unseren Diskussionen und Veranstaltungen eine verschwindend geringe Rolle.
Welche Funktion erfüllen nach Ihrer Einschätzung die Verfassungsschutzbehörden?
Seit seinem Bestehen war der Verfassungsschutz zumeist auf dem rechten Auge blind und andererseits gegenüber kapitalismuskritischen Auffassungen, je nach (partei-)politischer Konjunktur, mehr oder weniger rigoros eingestellt. Seitdem zivilgesellschaftliche Gruppen, Vereine und Medien neben den eher staatstragenden Parteien und Medien an Aufmerksamkeit gewonnen haben, versteht sich der Verfassungsschutz als ein Instrument der Eindämmung konkurrierender Institutionen, auch gegen demokratiefördernde Ansätze.
Diese Repression geschieht neuerdings auch mit Hilfe der steuerlichen Kategorie der Gemeinnützigkeit. Das ist eine klare Strategie, zunehmend gegen kritische Stimmen vorzugehen, aber auch gegen politische Konkurrenz außerhalb von Parteistrukturen.
Wolfgang Kunkel ist bei der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH) verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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