75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Mittwoch, 18. September 2024, Nr. 218
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 12.09.2024, Seite 1 / Titel
Staat gegen »Desinformation«

Amtshilfe für Pranger

Kampagne gegen kritische Medien und Oppositionspartei BSW stützt sich auf »Analyse« des bayerischen Inlandsgeheimdienstes. Kritik aus der FDP
Von Marc Bebenroth
1.jpg
Offenbar gemeingefährlich: Antikriegsplakat der DKP im Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz (15.4.2024)

Die Inquisition wird nicht müde. Den jüngsten Beitrag zur Markierung angeblicher Handlanger Russlands hat der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen), am Montag im Deutschlandfunk geliefert. Er verwies auf eine »Aufzählung des bayerischen Verfassungsschutzes«, um dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der AfD gleichermaßen zu unterstellen, durch das Verbreiten »russischer Propaganda« den Interessen Moskaus in die Hände zu spielen und »bei uns zu destabilisieren«.

»Das sind Kräfte, die gezielt auch von Russland eingesetzt werden«, behauptete er und nannte die BSW-Abgeordnete Sevim Dagdelen. Den Grünen gehe es »immer mehr darum«, einen »inneren Feind zu konstruieren und hier insbesondere noch das rechtswidrige Treiben des bayerischen Inlandsgeheimdienstes überbieten zu wollen«, konterte die BSW-Politikerin am Mittwoch gegenüber jW.

Der Grünen-Politiker bezieht sich ebenso wie liberale Onlinehilfssheriffs im staatlichen Kampf gegen »Desinformation« auf ein am 12. August vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz (BayLfV) veröffentlichtes Dokument zur Social-Media-Kampagne »Doppelgänger«. Auf 45 Seiten wird deren Methodik aufgezeigt. Von Mai 2023 bis Juli 2024 hatten mutmaßlich russische Akteure demnach mehr als 750.000 User auf gefälschte Nachrichtenseiten gelenkt sowie auf echte Onlineberichte aufmerksam gemacht, um »russische Narrative« zu stärken. Das Ziel sei gewesen, »die deutsche Gesellschaft zu spalten« sowie »den demokratischen Willensbildungsprozess zu beeinflussen«. Die echten Berichte seien »aus dem Kontext gerissen und für die Desinformationskampagne« eingesetzt worden.

15 Internetauftritte seien benutzt worden, weil sie »anscheinend grundsätzlich ins russische Narrativ passen«. Neben rechten Medien wie der Wochenzeitung Junge Freiheit, dem Magazin Compact, dem Blog Tichys Einblick oder dem AfD-nahen Deutschland-Kurier zählt das BayLfV dazu auch die liberale Wochenzeitung Der Freitag, die Berliner Zeitung sowie den Onlineauftritt der BSW-Abgeordneten Dagdelen. Unter anderem die Berliner Zeitung und Der Freitag veröffentlichten in den vergangenen Tagen Stellungnahmen und wiesen den Vorwurf scharf zurück, russischer »Desinformation« zu dienen. Die Junge Freiheit kündigte rechtliche Schritte an.

Eine weitere Liste zählt seitenweise Internetauftritte auf, die als »Zielseiten« genutzt worden sein sollen, deren Inhalte also vermutlich schlicht weiterverbreitet worden waren. Dazu zählen Focus online, Merkur.de, Welt.de und die österreichische Seite derStandard.at offenbar ebenso wie Websites der Nachrichtenagenturen Reuters und Bloomberg. Auch die Onlineauftritte linker Publikationskanäle seien betroffen – unter ihnen die junge Welt, die Parteizeitung Unsere Zeit der DKP oder das Parteiorgan Liberation News der US-amerikanischen Party for Socialism and Liberation (PSL).

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) verurteilte gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung vom Mittwoch das Vorgehen des BayLfV. Es sei nicht dessen Aufgabe, »mediale Inhalte daraufhin abzuklopfen, ob sie ins russische Narrativ passen«. Gegenüber dem Blatt sprach Dagdelen von einem »Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit«. Bei der »Doppelgänger«-Kampagne handele es sich »um den krassen Missbrauch von Markenrechten und Inhalten und nicht um ein freiwilliges Anschmiegen der Medien an den Kreml«, teilte Hendrik Zörner, Sprecher des Deutschen Journalistenverbands, am Mittwoch auf jW-Anfrage mit.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (12. September 2024 um 13:40 Uhr)
    Wertewestliche Freiheitskämpfer versuchen auch, diesen verleumderischen Stuss sogleich bei Wikipedia unterzubringen, um alle Medien zu diskreditieren, die nicht voll auf NATO-Linie liegen. Dabei werden die Tatsachen gerne noch ein paar Grad weiter verdreht – siehe Versionsgeschichte des Artikels zur »Berliner Zeitung«.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (12. September 2024 um 09:03 Uhr)
    In diesem Land sind inzwischen nicht nur die Brücken mehrheitlich marode, sondern nicht minder ebenso die Hirne.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (12. September 2024 um 06:48 Uhr)
    Das Lesen des »Dokuments« des bayrischen LfV brachte mich auch zum Schmunzeln. Große Teile davon lesen sich wie ein Manual zur Benutzung von bestimmter Software. Auch die Begrifflichkeit »Akteur« lässt sich ja entsprechend nutzen. Aber politisch und gesellschaftlich gesehen ist dieses Papier ein weiterer Schritt in Richtung totalitärer Staat. Das bunte Vermischen der Akteure aus dem rechtsextremen und aus dem progressiven Lager soll wohl so was wie Ausgewogenheit suggerieren. Aber offensichtlich begreifen diese Schlapphüte nicht, dass sie damit selbst zumindest zum »Beobachtungsfall« werden müssten. Wer den Artikel 5 des GG so umdeutet, wie diese Truppe aus Bayern, handelt gegen die Verfassung. Deshalb sind Forderungen nach Auflösung des VS nicht von der Hand zu weisen. Und auch der Zeitpunkt ist interessant, immer vor entsprechenden Wahlen werden solche Granaten gezündet. Und warum? Weil den Akteuren in der Regierung offensichtlich die echten politischen Gegenargumente fehlen. Fehlende Argumente werden durch staatliche Gewalt ersetzt – Totalitarismus pur.

Ähnliche:

  • Piratensender mit Powerplay (On-Air-Leuchte im Aufnahmestudio vo...
    13.09.2023

    »Kein Kommerz auf Megahertz«

    Serie. Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 10: Mit Piratensendern und »Freien Radios« wehrte sich die Opposition gegen die Einführung des privaten Rundfunks
  • Kein freies Gedenken mehr. Die Staatsmacht kontrollierte, wer wi...
    19.05.2022

    Erinnerungspolitischer Roll-Back

    Desinformation und Geschichtsrevisionismus. Das Gedenken zum »Tag der Befreiung«nach der »Zeitenwende«
  • Flagge der Russischen Föderation auf dem Botschaftsgebäude (Berl...
    09.05.2022

    Gefährlicher Gegenstand

    Berlin: Brandsatzfund in Gebäude von russischer Nachrichtenagentur. Botschaft spricht von »Bombe«