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Aus: Ausgabe vom 12.09.2024, Seite 7 / Ausland
7. Oktober

Bedenken ignoriert

7. Oktober: Polizei und Veranstalter von »Nova«-Festival nicht von alarmierenden Beobachtungen unterrichtet
Von Knut Mellenthin
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Ausgebrannte Autos der Festivalbesucher nach mutmaßlichem Einsatz israelischer »Hellfire«-Raketen (13.10.2023)

Eine umfassende Untersuchung der mutmaßlichen Versäumnisse der israelischen Streitkräfte und Geheimdienste, die den Angriff aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 begünstigten, soll erst nach dem Krieg stattfinden. Aber Erkenntnisse und Teilergebnisse landen dennoch immer wieder bei den Medien des Landes. Am Sonntag berichtete der populäre Privatsender Kanal 12 aufgrund von Aussagen und Dokumenten über den Überfall bewaffneter Palästinenser auf die Teilnehmer der Musik- und Tanzveranstaltung »Supernova«, in den Medien meist nur »Nova« genannt. 364 Menschen, darunter auch 17 Polizisten, die das mehrtägige Großevent schützen sollten, wurden getötet, viele weitere verletzt und 44 Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Gefangene in den Gazastreifen verschleppt. Der Überfall auf die Nova-Großparty war mit Abstand das blutigste Ereignis des 7. Oktobers und steht im Mittelpunkt der Darstellungen über diesen Tag. Was dort geschah, soll, so ist es jedenfalls angekündigt, ein Schwerpunkt der noch durchzuführenden staatlichen Untersuchung werden.

Dass die Veranstaltung in einem Wüstengelände, das nur fünf Kilometer von der Grenze entfernt ist, überhaupt genehmigt wurde, obwohl zumindest allgemeine Sicherheitsbedenken bestanden, zeugt von erstaunlicher, geradezu unglaublicher Leichtfertigkeit. Die weit rechts stehende englischsprachige Tageszeitung Jerusalem Post berichtete am 5. August, dass es zwischen der Operationsabteilung des Generalstabs, dem Kommando Süd und der Gaza-Division eine »professionelle Debatte« gebe, wer damals die Veranstaltung genehmigt hatte, obwohl zu deren Schutz nur minimale Kräfte zur Verfügung standen.

In der konkreten Situation lagen den israelischen »Sicherheitsorganen« darüber hinaus vielfältige Beobachtungen und Erkenntnisse vor, die auf die Planung einer umfangreichen, außergewöhnlich gut vorbereiteten Offensivoperation der Hamas und ihrer Verbündeten schließen ließen. Das Wissen darüber ist nicht neu, aber wurde in der knapp halbstündigen Darstellung von Kanal 12 am Sonntag durch Zitate aus internen Dokumenten erweitert. Nach einer anfänglichen Zusage für das Festival von Donnerstag bis Sonnabend, zogen die Streitkräfte die Genehmigung für den letzten Tag, den 7. Oktober, zurück. Die für den Schutz des Festivals verantwortlichen Polizeikommandeure erkundigten sich daraufhin, nach ihren Aussagen, bei den Streitkräften, ob es Sicherheitsbedenken gebe. Ihnen sei gesagt worden, dass die Bedenken sich nicht auf Sicherheitsfragen bezögen, berichtete der für die Leitung des Polizeieinsatzes während des Festivals zuständige Kommandeur Eyal Azulai in der Sendung.

Die Polizei und die Veranstalter wurden nach ihrer Darstellung nicht darüber informiert, dass aufgrund alarmierender Beobachtungen und Meldungen in der Nacht vom 6. zum 7. Oktober mindestens zwei Telefonkonferenzen zwischen hochrangigen Militär- und Geheimdienstoffizieren stattfanden: die erste gegen Mitternacht und eine weitere gegen drei Uhr morgens, an der unter anderem der Chef des Inlandgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, beteiligt war. Dabei habe aber niemand die Supernova-Party erwähnt, berichtete die liberale Tageszeitung Haaretz am 5. Dezember vorigen Jahres. Generalstabschef Herzl Halevi sei über die vorliegenden Warnzeichen und über die nächtlichen Beratungen informiert worden. Die Vertreter der Streitkräfte hätten sich nach der zweiten Telefonkonferenz der Einschätzung des Schin Bet angeschlossen, dass es sich bei den Beobachtungen nicht um Angriffsvorbereitungen der Hamas, sondern nur um Ausbildungsübungen gehandelt habe, schrieb Haaretz damals.

Als am Morgen des 7. Oktober um 6.32 Uhr ein heftiger Raketenbeschuss einsetzte, informierte die für den Schutz des Musikfestivals zuständige Polizei das Südkommando der Streitkräfte, ohne jedoch Unterstützung zu bekommen. Erst um 12.30 Uhr traf ein kleiner Trupp von Soldaten ein, und es dauerte noch bis drei Uhr nachmittags, bis stärkere Kräfte zur Verfügung standen. Zu spät, um noch helfen zu können.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (12. September 2024 um 05:31 Uhr)
    Man kann etwas fahrlässig oder bewusst ignorieren. Offensichtlich brannte die Situation doch, wenn man mitten in der Nacht gleich zwei solche Konferenzen für notwendig erachtete. Und das wegen »Ausbildungsübungen der Hamas«? Und selbst wenn der Geheimdienst wirklich dieser Meinung gewesen war, alles sei nur eine Übung, dann war ihnen doch bekannt, dass kriegerische Überfälle oft aus der Situation eines Manövers in die Wege geleitet werden. Man lässt also eine ansonsten immer hervorragend bewachte Grenze just in dem Augenblick ohne ausreichende Bewachung, als auf Grund zahlreicher Warnungen zu dem Thema zwei Nachtkonferenzen stattgefunden haben? Eine der best ausgebildeten Armeen an einer der schärfst bewachten Grenzen der Welt braucht sechs Stunden (!), um überhaupt zu reagieren? Das soll die Welt glauben? Die Hamas wunderte sich nach ihren Aussagen über die Leere und das freie Aktionsfeld. Nicht irgendwer, sondern die ägyptische Regierung hatte nicht irgendwen, sondern die israelische Regierung eine Woche vor dem Überfall gewarnt. Netanyahu sagt, das sei nicht der Fall gewesen. Also eine von beiden Seiten lügt hier. Wollte diese Seite sich einfach taub stellen, um einen realen und wahren Anlass vor der Welt zu haben, die Sache mit den Palästinensern endgültig im Sinne rechtsradikaler Regierungsmitglieder zu regeln? Die Terroristen wunderten sich jedenfalls über die offenen Türen. Eine provozierter oder ermöglichter Angriff der Gegenseite ist immer die beste Begründung für den Krieg, den man selbst will. Doch egal, ob fahrlässig oder bewusst: Wer ein Verbrechen wie einen Terroranschlag ermöglicht, wo er sehr leicht hätte dagegen handeln können, auch der wird vor Gericht bestraft. Selbst die Variante, erst Terroranschlägen durch Okkupation palästinensischen Territoriums den Boden zu bereiten, diese anschließend fahrlässig zu ermöglichen und schließlich durch Völkermord zu ahnden, spricht jedem Rechtsempfinden Hohn.

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