Ideal der Formierung
Von Nico PoppUm die Mitte der 60er Jahre bastelten konservative Ideologen im Umfeld der Unionsparteien an einem gesellschaftspolitischen Maximalprogramm. Vor dem Hintergrund der Systemauseinandersetzung mit dem Sozialismus wollte die Konzeption der »formierten Gesellschaft« darauf hinaus, das eigene Hinterland auf der Linie eines einzigen gültigen Interesses auszurichten – ohne allerdings, und hier bestand ein Unterschied zur Praxis des deutschen Faschismus, die Vernichtung von Parteien und Verbänden zu betreiben, die als Hindernis in Erscheinung traten.
Wohl aber ging es darum, Staatsprogramm und Staatspraxis prinzipiell von unerwünschten Einflüssen freizumachen. Das war keine Spielerei: 1965 machte Bundeskanzler Ludwig Erhard diesen Ansatz zum Regierungsprogramm. Für ihn war »eine solche Weiterentwicklung im Innern« unverzichtbar, auch und gerade »im Interesse einer deutschen Außenpolitik der Zukunft«.
Darüber ist die Zeit hinweggegangen, und doch blieb diese Maßgabe dem politischen Inhalt nach immer aktuell: In der Bundesrepublik wurde jahrzehntelang auch ganz ohne verbindliche Formierungskonzeption in alle Richtungen erfolgreich integriert. Das kann, auch wenn die Zeiten härter werden, in Zukunft ebenfalls klappen. Nur muss mit Rücksicht auf den relativen ökonomischen Abstieg und die angestrebte Herstellung von Kriegstüchtigkeit der Druck erhöht werden – und dieser erhöhte Druck zeigt sich zuallererst im Treiben des Inlandsgeheimdienstes, dessen Aufgabe es immer war, weithin sichtbar jene Grenze zu markieren, die bei der Artikulation und Verbreitung abweichender Meinungen besser nicht überschreiten sollte, wer Wert darauf legt, nicht zum Ziel von staatlichen Gegenmaßnahmen zu werden.
Wenn nun der Chefredakteur einer rechten Wochenzeitung, deren Internetpräsenz der bayerische Verfassungsschutz in eine Liste von Webseiten – darunter auch die der Wochenzeitung Der Freitag und der Berliner Zeitung – aufgenommen hat, die angeblich »Nachrichten passend zum russischen Narrativ verbreiten«, sich in der NZZ über diesen Vorgang beklagt und hinzufügt, es gehöre nicht zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes, »derartige rufschädigende Bewertungen über unabhängige Medien abzugeben, die weder die Frage des Extremismus noch ausländische Spionage betreffen«, dann ist schon diese Prämisse falsch: Rufschädigung ist eine Aufgabe dieser Behörde. Und hierzu legt sie fest, wer »Extremist« und vielleicht auch noch Agent ist.
Die Rede vom »russischen Narrativ« enthält eine vorläufig noch schamhaft verschwiegene Botschaft: Die nämlich, dass es stets eine korrekte Erzählung gibt, die sich durch ihre Erhabenheit über den Verfassungsschutz-Verdacht auszeichnet, hier versuche jemand, »die deutsche Gesellschaft zu spalten«. Das ist das alte Ideal der Formierung: Am Ende legt das Bundespresseamt die gültige Sicht der Dinge fest. Und selbstverständlich wird in diesem Rahmen vollumfänglich Pressefreiheit gewährt.
Siehe auch
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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