Taten einer Gruppe
Von Annuschka EckhardtMehr als 30mal muss die Richterin es verlesen: »Rudolf Hess – das war Mord« (sic) und »Mord verjährt nicht«. Die beiden angeklagten Neonazis Tilo P. und Sebastian T. hatten diese Sprüche über Jahre in Berlin-Neukölln gesprayt, die Buchstaben »S« in »Hess« als Sigrunen, eine Schablone mit Konterfei des Naziverbrechers Heß führten sie offenbar auch mit sich. Außerdem sollen sie Brandanschläge auf Linke verübt haben, so auf den Politiker Ferat Koçak und den Buchhändler Heinz Ostermann. Die beiden Faschisten waren vor mehr als eineinhalb Jahren vom Amtsgericht Tiergarten aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der Brandstiftung gegen die Autos ihrer politischen Gegner freigesprochen worden.
Am Donnerstag begann der Berufungsprozess im sogenannten Neukölln-Komplex im Landgericht in Berlin-Moabit. Bislang sind 14 Verhandlungstage bis Ende November angesetzt. Nach Überzeugung der Generalstaatsanwaltschaft wollte das Duo Menschen einschüchtern, die sich gegen Neonazismus engagieren. Das Amtsgericht Tiergarten hatte den Angeklagten P. am 15. Dezember 2022 und den Angeklagten T. am 7. Februar 2023 in erster Instanz unter anderem vom Vorwurf der Brandstiftung aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Gleichzeitig hatte das Amtsgericht P. wegen Sachbeschädigung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in mehreren Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 30 Euro und T. wegen Betrugs, Sachbeschädigung, Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Bedrohung, Beleidigung und Störung des öffentlichen Friedens zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Gegen die Urteile hatten sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch die Angeklagten Berufung eingelegt. Mehr als 70 rechte Straftaten hatten die Ermittlungsbehörden seit 2013 in Neukölln gezählt. Erst im August 2021 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage.
Die Verlesung des Urteils aus der ersten Instanz dauerte über eine Stunde. Stoisch wiederholt Richterin Susann Wettley Straßennamen, Hausnummern und Postleitzahlen von Orten im migrantisch geprägten Bezirk Neukölln, denen die Neonazis »Besuche« abgestattet hatten, um ihre faschistischen Botschaften anzubringen, Linke einzuschüchtern oder lebensbedrohliche Brandsätze zu legen. Doch darum sollte es am ersten Verhandlungstag der Berufung nicht gehen, sondern um eine Wohnung von T., für deren Miete er Geld vom Jobcenter erhielt, sie aber untervermietete. Dazu waren mehrere Zeugen geladen, unter anderem eine bulgarische Untermieterin und die angebliche Verlobte des Angeklagten, in deren Wohnung er seit 2021 offiziell gemeldet ist.
»Es ist wirklich eine Schande, dass Herr Ostermann und ich nach fast sieben Jahren nun wieder bei diesem Prozess als Zeugen auftauchen müssen. Die Begegnung mit den Nazis, die meinen Tod und den meiner Eltern in Kauf genommen haben, ist für mich enorm retraumatisierend, kostet mich Schlaf und hält mich von wichtiger Arbeit ab«, sagte der Betroffene, Zeuge und auch Nebenkläger Koçak am Donnerstag gegenüber junge Welt. Der Tag des Anschlags und die damit einhergehenden Ängste bestimmten wieder den Alltag des Sprechers für antifaschistische Politik, Strategien gegen rechts und Klimapolitik der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus und den des Buchhändlers Ostermann. Besonders erschreckend sei, dass neben dem ehemaligen Neuköllner AfD-Vorstandsmitglied P. auch einer von »Der III. Weg« angeklagt ist, einer Gruppierung, die zuletzt mit Kampfsporttrainings für Faschisten im Berliner Raum Aufsehen erregt hatte. Gemeint ist der Angeklagte Sebastian T. »Es ist wichtig, dass endlich berücksichtigt wird, dass es hier um eine organisierte Gruppe und nicht um Einzeltäter geht, die seit Jahren Neuköllner terrorisieren«, so Koçak.
Die Bedrohungslage scheint indes weiter vorhanden zu sein: Erst vor kurzem habe »Der III. Weg« vor Koçaks Wohnhaus eine Drohung hinterlassen haben, um ihn vor dem Prozess einzuschüchtern.
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