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Aus: Ausgabe vom 16.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Siedlergewalt

»Diesmal hatten sie automatische Gewehre«

Über Angriffe von Siedlern und israelischer Armee im besetzten Westjordanland. Ein Gespräch mit Mohamad Zwahra
Von Annuschka Eckhardt
WEST-BANK-SETTLERS.JPG
Ein von israelischen Siedlerkolonisten zerstörtes Fahrzeug in dem Dorf Jeit (16.8.2024)

Im besetzen Westjordanland gab es am 26. August einen Angriff von israelischen Siedlern auf das Dorf Wadi Rahal. Können Sie beschreiben, was passiert ist?

Am Tag des Angriffs verbreitete sich über Social Media das Gerücht, Palästinenser hätten in der Nähe von Nablus einen Siedler entführt. Da begannen einige Siedler, Steine auf eines der Häuser im Dorf zu werfen. Als die Dorfbewohner sahen und hörten, dass sie von Siedlern angegriffen wurden, taten sie sich zusammen und versuchten, dieses Haus zu schützen. Das wiederum beunruhigte die Siedler, sie holten ihre Waffen. Es war das erste Mal, dass wir so große Waffen bei den Siedlern gesehen haben. Normalerweise hatten sie kleine Pistolen, diesmal allerdings automatische Gewehre.

Was machten sie mit den Waffen?

Sie begannen auf die Dorfbewohner zu schießen, mindestens drei Palästinenser wurden verletzt und ein Mann getötet. Die Armee stand einfach dabei und beobachtete die Situation. Dann blockierten die Soldaten am Checkpoint den Rettungswagen. Die Armeeangehörigen sind nur dafür da, die Siedler zu schützen: Erst als sie das Gefühl hatten, dass die Siedler ein paar Steine von den Palästinensern abbekommen hatten, griffen sie ein und fingen an, Tränengas in Richtung der Dorfbewohner zu schießen.

Was wurde aus dem vermeidlichen Grund des Siedlerangriffs, der Falschnachricht aus Nablus?

Die Polizei gab eine Pressemitteilung heraus, dass es sich dabei um Fake News gehandelt hatte. Es gab diese Entführung einfach nicht.

Denken wir an die anderen Gebiete im Westjordanland: Wie viele Dörfer werden sie bei der nächsten Falschmeldung angreifen? Vor dem 7. Oktober wussten wir, welche Siedler gefährlich und aggressiv waren und welche ruhig. Jetzt gibt es für uns keinen Unterschied mehr zwischen den verschiedenen Siedlungen.

Wie war die Situation vor Oktober vergangenen Jahres?

Ich lebe in einem kleinen Dorf südlich von Bethlehem. Es heißt Al-Masra und liegt in der Nähe von Wadi Rahal, im Umland wird Obst angebaut. Mitten durch das Land, das eigentlich meinem Großvater gehört, wird eine Schnellstraße gebaut, speziell für die israelische Siedlung in der Nähe. Vor dem 7. Oktober war die Situation ruhig, es gab keine Angriffe dieser Siedler auf Dörfer in Südbethlehem. Danach änderte sich die Situation, den Siedlern wurden Waffen gegeben. Und sie haben eine Menge Unterstützung von der Regierung, so dass sie alles tun können, was sie wollen. Sie begannen zunächst, unsere Schafe zu töten.

Wie haben Sie die Situation im Westjordanland in den vergangenen Wochen wahrgenommen?

Die Siedler haben grünes Licht von der israelischen Regierung bekommen, Gewalt ausüben zu dürfen. Nach dem 7. Oktober haben sich die Siedler viel Land angeeignet. Da alle Augen auf den Genozid in Gaza gerichtet sind, haben sie in der Westbank freie Hand. Sie kappen das Wasser und hindern die Bauern mit Checkpoints daran, ihr Land zu erreichen. Die Traubenernte leidet aktuell sehr darunter. Im Oktober beginnt die Olivenernte, vermutlich wird auch diese boykottiert werden.

Was kann für die Bauern getan werden?

Vor vier Jahren haben wir die »Faz3a Palestine«-Kampagne ins Leben gerufen. Internationalisten begleiten die Bauern zur Ernte, damit sie von den Siedlern und der Armee nicht behindert werden. Dieses Jahr begleitet »Faz3a« auch Demonstrationen, die von Siedlern und Streitkräften attackiert werden. Wir haben die Kampagne ins Leben gerufen, um internationalen Schutz für das palästinensische Volk zu gewährleisten und zu dokumentieren, wie Siedler und Armee gegen unsere Landwirtschaft und Bevölkerung vorgehen. Eine ähnliche Strategie verfolgt unsere Partnerorganisation ISM.

Können Sie mir sagen, was am 6. September im Ort Beita nahe Nablus mit einem der internationalen Mitglieder vom International Solidarity Movement, ISM, passiert ist? Ihr Name war Aysenur Eygi.

Aisha war eine der Freiwilligen, die bei ISM vor Ort aktiv war. Sie haben in verschiedenen palästinensischen Dörfern gegen die Siedlung demonstriert, an diesem Tag in Beita. Dort wurde Aisha von der israelischen Armee erschossen. Sie war US-Amerikanerin mit türkischen Wurzeln. Doch in Beita wurde nicht zum ersten Mal die internationale Solidarität angegriffen. Vor drei Wochen wurde einem US-Amerikaner in die Beine geschossen. Wir gehen davon aus, diese Angriffe werden gezielt ausgeübt, um die Internationalisten einzuschüchtern, denn ihre Berichterstattung aus der Westbank über Siedlergewalt stört die Armee.

Viele Menschen arbeiteten auf der anderen Seite der Mauer in Israel, in Folge der Eskalation des Krieges haben sie ihre Jobs verloren. Welche Erwerbsmöglichkeiten gibt es momentan im Westjordanland?

Es gibt viel Unterstützung innerhalb der ländlichen Gemeinschaften für Personen, die nun erwerbslos sind. Ihnen wird geholfen, ihr Land wieder zu bebauen oder sie helfen anderen in der Landwirtschaft. Sie müssen sich vorstellen, dass um sieben Uhr morgens das ganze Dorf mit einfachen Werkzeugen auf die Felder geht und gemeinsam beginnt, braches Land zu bewirtschaften.

In der Stadt sieht das leider anders aus. Viele Menschen verkaufen ihre ganzen Habseligkeiten – Schmuck, Möbel, Bücher – einfach alles, um ihre Familie ernähren zu können.

Mohamad Zwahra ist ­palästinensischer Journalist und Filmemacher aus dem Westjordanland

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