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Aus: Ausgabe vom 16.09.2024, Seite 8 / Ausland
Festung Europa

»In Moria fehlt es diesen Kindern an allem«

Über die katastrophalen Bedingungen im Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Ein Gespräch mit Katrin Glatz Brubakk
Interview: Carmela Negrete
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Neben der Staatsgewalt auch Wetterunbill ausgesetzt: Junge Geflüchtete in einem Behelfslager nahe dem Camp Moria auf Lesbos (13.12.2019)

Sie sind Kinderpsychologin und waren zuletzt in Gaza, wo durch israelische Luftangriffe wiederholt weitaus mehr Zivilisten getötet werden als mutmaßliche Kämpfer der Hamas. Was haben Sie dort erlebt?

Die Traumatisierung der Kinder ist schlimmer als alles, was ich je gesehen habe. Es ist wirklich erschütternd. Es gibt keine sicheren Ecken in Gaza.

Gab es Bombardierungen?

Wir haben sie täglich gehört. Angestellte von internationalen Organisationen versuchten, auf uns gut aufzupassen, aber am letzten Tag explodierten drei große Bomben 500 Meter vor unserem Haus. Und das war mitten in der humanitären Zone. Ursprünglich wollten Sie doch über Moria sprechen, richtig?

Das stimmt, aber man weiß nicht, was dringender ist …

Beides ist wichtig. Das Problem ist: Wenn eine Krise auf der Welt Aufmerksamkeit bekommt, werden andere vergessen. In Moria (auf der griechischen Insel Lesbos, jW) bleibt die Situation weiterhin schlimm. Je weniger wir darüber sprechen, desto leichter wird es für die griechischen Behörden und Europa, sich davon abzuwenden. Die Menschenrechtsverletzungen und die unmenschliche Behandlung gehen dann ungestört weiter.

Wie lange waren Sie in Moria?

Ich war bereits 13mal dort, manchmal für drei Wochen, manchmal für vier Monate. Das erste Mal war ich im August 2015 als Freiwillige da, habe Menschen am Strand geholfen, sie an Land gebracht, Kindern geholfen, die vom Erfrieren bedroht waren, und psychologische Erste Hilfe geleistet. Bei längeren Aufenthalten habe ich dann als Psychologin für »Ärzte ohne Grenzen« gearbeitet und traumatherapeutische Arbeit geleistet.

Wie sieht eine Kindheit in Moria aus?

Alle Kinder, die in Moria ankommen, sind bereits traumatisiert – entweder durch den Krieg, vor dem sie geflohen sind, oder durch die Gewalt, die sie auf der Flucht erlebt haben. Viele wurden gezwungen, Zeuge von Vergewaltigungen oder dem Tod von Familienmitgliedern zu sein. Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ist ebenfalls gefährlich, und manche haben Menschen ertrinken sehen. In Moria fehlt es diesen Kindern an allem, was sie bräuchten. Sie leben in einem Lager, das von vier Meter hohen Zäunen und bewaffneten Wachen umgeben ist. Es gibt kaum Gesundheitsversorgung und kein Schulangebot. Die Kinder warten den ganzen Tag, psychisch ein extrem ungesunder Zustand.

Und das mitten in Europa.

Ja, das ist das Schlimme. Was in Moria passiert, ist eine direkte Konsequenz politischer Entscheidungen. Man ist theoretisch verpflichtet, es anders zu machen – aus Menschenrechtsgründen und wegen der Gesetze für die Rechte der Kinder. Doch diese werden auf tödliche Weise verletzt, und kaum jemand spricht darüber.

Was macht das langfristig mit den Kindern?

Kinder reagieren in der Regel auf zwei verschiedene Arten: Die einen werden sehr unruhig, können sich nicht mehr konzentrieren, verletzen sich selbst, reißen sich Haare aus, schlagen andere, haben Alpträume. Die andere Gruppe zieht sich komplett zurück, sie spielen nicht mehr, starren oft nur noch vor sich hin, manche sprechen nicht mehr und essen kaum noch. Diese Apathie ist eine direkte Reaktion auf das Leben in ständiger Furcht und Unsicherheit. Ihre Energie fließt in Selbstschutz statt in eine gesunde Entwicklung. Sie können ihre Emotionen schwer kontrollieren, was sie entweder sehr traurig oder sehr wütend macht. Je länger sie in Moria sind, desto schwieriger werden diese Probleme.

Was folgt daraus, dass mit dem EU-Asylpakt Minderjährige systematisch in geschlossene Lager gesteckt werden?

Wir werden mehr Kinder sehen, die langfristig Probleme haben. In Moria gab es bisher zwei Drittel der Menschen, die ein Recht auf Asyl haben und deshalb später unsere Nachbarn werden. Sie haben so lange unter schlechten Bedingungen in Moria gelebt, dass unsere Gesellschaften ihnen später intensiver helfen müssen: mehr Hilfe in der Schule, mehr psychologische Betreuung, mehr Schwierigkeiten, um die Sprache zu lernen. Es ist genau das Gegenteil von dem, worauf Kinder ein Recht haben und was ihnen guttut.

Katrin Glatz Brubakk ist Kinder­psychologin und Koautorin des Buchs »Inside Moria. Europas Verrat an ­Moral und Menschlichkeit«

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