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Aus: Ausgabe vom 17.09.2024, Seite 12 / Thema
Anschlag in Solingen

Ein Messer wetzt das andere

Die Debatte nach dem Attentat von Solingen folgt alten, unheilvollen Mustern. Die Ampel driftet ab in Richtung Remigration
Von Michael Kohler
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Empört über rechte Parolen wie diese, verfolgt die linksliberale Regierung eine Praxis, die der entsprechenden Forderung recht nahekommt (Demonstration von Anhängern der NPD-Nachfolgepartei »Die Heimat« drei Tage nach dem Attentat, Solingen, 26.8.2024)

Der Name der Stadt Solingen war in den vergangenen drei Jahrzehnten ein Symbol für extrem rechte Gewalt. In der Nacht des 29. Mai 1993 warfen vier zwischen 16 und 23 Jahre alte, neonazistische Jugendliche und junge Männer einen Brandsatz in ein Haus, in dem Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte lebten. Zwei Frauen im Alter von 27 und 18 Jahren sowie drei Mädchen im Alter von zwölf, neun und vier Jahren wurden getötet, 14 weitere Familienmitglieder wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Es gibt migrantische Familien, die noch heute das Seil oder die Strickleiter besitzen, die sie sich damals zusätzlich zum Feuerlöscher zulegten und am Balkon oder am Heizkörper befestigten, für den Fall der Fälle. Der Filmemacher Mirza Odabaşı bezeichnet den Anschlag als den Punkt, an dem die Angst in sein Leben kam. Er war damals fünf Jahre alt, lebte in der Nähe von Solingen und nahm den Wimpel seines Lieblingsfußballvereins Galatasaray vom Fenster, »damit niemand weiß, dass hier Türken wohnen«. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, damals 27 Jahre alt, berichtete, dass seine Eltern, die wie die Solinger Familie in einem alten Fachwerkhaus lebten, ihn damals gebeten hätten, sich in der Öffentlichkeit zurückzuhalten.

Aber nicht nur Angst breitet sich durch derlei Ereignisse unter eingewanderten Menschen aus, auch Wut ergreift vor allem junge Männer und lässt manche von ihnen nicht mehr los. Die Psychologie geht davon aus, dass es sich bei Wut sowie bei ähnlichen harten Gefühlen wie dem Ärger häufig um sogenannte sekundäre Emotionen handelt. Sie entstehen aus anderen, eher weichen primären Emotionen wie Angst oder Traurigkeit, wenn diese als überwältigend und deshalb als bedrohlich und unerträglich empfunden werden. Oder aber, wenn die betreffenden weichen Emotionen gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Es ist gerade jetzt wichtig, zu verstehen, dass Erfahrungen der Bedrohung, der Diskriminierung, des Ausschlusses und der Abwertung Ängste und Depressionen verursachen, aber auch Wutgefühle hervorrufen. Bei Geflüchteten aktualisieren die genannten verletzenden Erfahrungen sehr häufig andere schlimme Erfahrungen, die sie in ihrer Heimat oder auf der Flucht gemacht haben, was die negativen Emotionen rasch zur Unerträglichkeit steigern kann. Patriarchalische, hierarchische, konkurrenzorientierte Welt- und Rollenvorstellungen können es begünstigen und beschleunigen, dass durch Zurücksetzungen und Verletzungen derlei sekundäre, harte Emotionen gebildet werden. Unter bestimmten inneren und äußeren Umständen werden die angesammelten Wutgefühle auch gewaltsam ausagiert.

Ängste können Gewalttendenzen auslösen, und sie können anfällig machen gegenüber diversen reaktionären Ideologien. Für eine linke Politik im Kampf gegen rechts bedeutet dies: Sie muss Antworten auf Ängste finden. Sowohl der Kampf gegen die extreme Rechte als auch der gegen den Islamismus braucht diese Antworten. Es fängt damit an, gesellschaftlich bedingte Ängste als solche zu erkennen, statt als individuelles Problem abzutun. Es geht damit weiter, gesellschaftliche und politische Strukturen zu verstehen, die Ängste verursachen, schließlich folgt der gemeinsame Kampf für positive Werte, die Sicherheit stiften. Stichworte wären: Gemeinschaft, Frieden, Solidarität und soziale Gerechtigkeit.

Raul Zelik bezeichnete in ND – Der Tag (27.8.2024) Faschismus und Islamismus als zwei Seiten derselben Medaille, den militanten Islamismus als eine »reaktionäre Bewegung, die zur globalen extremen Rechten gehört und auch unter in Europa geborenen Menschen floriert«. Beiden Ideologien eignet, dass sie die Herrschaftsverhältnisse in der eigenen Gesellschaft verschleiern. Um die Anfälligkeit für diese Ideologien zu bekämpfen, braucht es glaubhafte Antworten auf Ängste. Zahlreiche Autorinnen und Autoren haben zu diesem Thema gearbeitet: Erich Fromm und die Frankfurter Schule, aber auch Noam Chomsky, Naomi Klein, Angela Davis, David Graeber und viele andere. Einige von ihnen betonen, dass linke Antworten auf Ängste sich nicht auf die rein rationale Ebene, also auf Debatten und Diskurse, beschränken dürfen. Sie müssen, wenn möglich, erlebbar sein: durch kollektive Aktionen, gegenseitige praktische und emotionale Unterstützung und die gemeinsame Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen.

Feindbild …

Die Konstruktion von Feindbildern erlaubt und unterstützt, aggressive Regungen zu legitimieren und aufrechtzuerhalten. Die wahrscheinlichen Folgen liegen auf der Hand: Es bildet sich – auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene – ein delinquentes oder politisch oder religiös fundamentalistisches, gewaltorientiertes Verhalten. Dass wie bei Anis Amri (siehe unten) ordinäre Kriminalität und politisch-religiöser Extremismus sich so häufig überschneiden, ist aus psychologischer Sicht nicht überraschend. Das gleiche gilt für die Parallelen zwischen Islamisten und Ultrarechten.

Mouhanad Khorchide leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster. Zu seinen Tätigkeiten gehören nicht nur die Erforschung des Islam und die Ausbildung von Imamen, er arbeitet auch mit inhaftierten Islamisten. Von diesen erzählt er im Deutschlandfunk (1.9.2024), dass sie von Religion und dem Koran ziemlich wenig wissen. Sie hätten aber alle eine gemeinsame Erzählung, die vor allem durch Feindbilder, durch Ablehnung westlicher Werte geprägt ist. Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter, Religions- und Meinungsfreiheit werden abgelehnt, Juden und Israel werden als Feinde betrachtet. Idealisiert und angestrebt wird eine Theokratie, ein Staat aufgrund religiöser Gesetze. Die größte Gemeinsamkeit der von ihm betreuten Islamisten sieht Khorchide darin, dass sie den Begriff des antimuslimischen Rassismus inflationär verwenden.

Nun wissen wir und können uns jeden 1. September daran erinnern, dass brutale Gewaltausübung sich auch auf der kollektiven Ebene stets ein Bild des angeblich existentiell bedrohlichen Feindes konstruiert, auf den die Verantwortung geschoben wird. Manche verschieben nicht nur Verantwortung, sondern erfinden Täter, um sich selbst als Opfer darzustellen. Beispielsweise, wenn eine jüdische Weltverschwörung erdacht wird, um antisemitische Haltungen zu rechtfertigen. Aus der selbstinszenierten Opferrolle werden dann antisemitische, rassistische oder sexistische Angriffe als Gegenwehr legitimiert, obwohl nie eine tatsächliche Bedrohung bestand. Bestens bekannt ist auch, dass es individuell wie auch kollektiv und innerhalb jeder Religion oder sonstigen Ideologie leicht ist, sich in eine selbstgebastelte Bedrohungsparanoia hineinzusteigern und dadurch die abscheulichsten Gewalttaten als Notwehr oder als Heldentaten zu verklären.

… und Paranoia

Was Mouhanad Khorchide in seinen sonst sehr erhellenden Ausführungen leider nicht erwähnt, ist, dass die Gewalt politischer Islamisten nicht nur Folge konstruierter und sorgsam gepflegter Feindbilder ist. Ereignisse wie jenes von Solingen 1993 haben eine reale Basis in den zugrundeliegenden Wut- und Hassgefühlen. Es muss auch keine Paranoia entwickelt werden, um solche Gefühle aufrechtzuerhalten. Die vielen alltäglichen Diskriminierungen und die seit Jahrzehnten anhaltende rechte Gewalt reichen aus. Es wird in der aktuellen Debatte völlig ausgeblendet, welchen Gefahren Geflüchtete auch und gerade in Deutschland selbst ausgesetzt sind. Erinnern wir uns deshalb: Polizeistatistiken besagen, dass Angriffe auf Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte seit drei Jahren stark ansteigen. Die überwältigende Mehrheit der Angriffe ordnet die Polizei als »politisch rechts motiviert« ein. Jede Woche werden in Deutschland drei bis vier Geflüchtetenunterkünfte angegriffen, laut Bundeskriminalamt (BKA) mit regionalen Schwerpunkten vor allem in Sachsen und Thüringen, aber auch in Bayern, Niedersachsen und Brandenburg. Zwischen 2021 und 2023 stieg die Zahl dieser Angriffe von 70 auf zunächst 171 und dann nochmals auf 180. Zusätzlich werden jede Woche etwa 45 Angriffe auf Geflüchtete außerhalb ihrer Unterkünfte registriert. Diese Zahl hat sich ebenso zwischen 2021 und 2023 etwa verdoppelt, wobei das BKA auch feststellt, dass nur eine niedrige Anzeigequote vorliegt und damit eine erhebliche Dunkelziffer besteht. Aus Angst vor Repressalien, mangelndem Vertrauen in die Behörden und aus Unkenntnis der Meldewege werden viele Vorfälle gar nicht erst gemeldet. Jeder einzelne dieser tausendfachen Angriffe könnte zum Saatkorn eines islamistischen Anschlages werden. Die wirksame Bekämpfung von Diskriminierung und rechter Gewalt – obige Zahlen zeigen, dass sie nicht stattfindet – wäre deshalb im Sicherheitsinteresse der gesamten Bevölkerung von größter Bedeutung.

Alte Muster

Die Solinger Morde von 1993 waren die Spitze monatelanger Angriffe auf Flüchtlinge und Migranten, die wiederum in Zusammenhang standen mit einer Debatte, die schon damals mit Stichworten wie »Überfremdung« und »Asylantenschwemme« geführt wurde. Wir erinnern uns an die Morde und Pogrome in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Mannheim-Schönau und anderen Orten. Einer der vielen erschreckenden, empörenden und nachgerade absurden Aspekte dessen, was wir aktuell erleben, ist dieser: Auch dem Brandanschlag von Solingen 1993 folgte eine (bereits vorher begonnene) Asylrechtsdebatte und im Juli 1993 auch eine Änderung des Grundgesetzes (GG), die das Grundrecht auf Asyl stark einschränkte. Artikel 16 GG, der damals noch lautete »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, wurde ersetzt durch Artikel 16a, der die Konzepte der sicheren Drittstaaten (Dublin-Verfahren) und der sicheren Herkunftsstaaten sowie beschleunigte Verfahren mit vermindertem Prüfungsumfang einführte.

Die Muster von 1993 und 2024 gleichen sich, es liegt ihnen das Sündenbockprinzip zugrunde. Der erste Reflex nach einem islamistischen Anschlag oder einer anderen Gewalttat besteht darin, einer Gruppe von Menschen die Verantwortung aufzubürden, die überhaupt nicht verantwortlich oder sogar selbst das Hauptopfer der Gewalt ist. Es folgen im zweiten Schritt Rufe der Rechten nach harten Maßnahmen der Bestrafung und der Aussonderung. Die Forderung des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz, aus Afghanistan und Syrien überhaupt keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, ist aktuell für beides ein besonders hervorstechendes Beispiel. Die Ludwigshafener Ärztin Marianne Speck setzt sich seit den 1990er Jahren für die Integration und Teilhabe migrierter Menschen ein und wurde hierfür vielfach ausgezeichnet. Von der Lokalzeitung Die Rheinpfalz (4.9.2024) auf die Merz-Forderung angesprochen, antwortet sie: »Dann müsste man im Umkehrschluss auch beschließen, dass keine Deutschen mehr nach Mallorca reisen dürfen. Denn da gibt es ja auch einige, die sich sehr schlecht benehmen. Es ist verrückt, Tausende zu verdächtigen und zu diskriminieren, weil sich wenige falsch verhalten.«

Als drittes folgt die Konkurrenz der Parteien, die sich Wählerstimmen davon erhoffen, wenn sie sich in ihrer Bereitschaft zum »Durchgreifen« gegenseitig überbieten. Am Tag vor der Landtagswahl in Sachsen und Thüringen diskutierte im Deutschlandfunk (31.8.2024) die Kieler Politikwissenschaftlerin und Populismusforscherin Paula Diehl mit dem Gießener Politikwissenschaftler Claus Leggewie über die Frage »Kann Populismus auch ein Korrektiv sein?« Paula Diehl vertrat die These, Populismus könne durchaus eine nützliche Funktion haben, indem er auf von der Politik zu wenig wahrgenommene Schnittstellen aufmerksam macht und dadurch (wie es die Moderatorin zusammenfasst) die Politik auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Leggewie widersprach scharf. Wir hätten diese Woche erlebt, wie die etablierten Parteien nicht auf die Tatsachen zurückgebracht werden, sondern auf das Remigrationskonzept der AfD. Er fährt fort: Dass ein Land sich kollektiv von der Demokratie verabschiedet, könne jederzeit passieren. Das Problem sehe er nicht so sehr bei den extrem rechten Parteien, sondern vielmehr bei den etablierten Parteien, die, um den Wettbewerb mit ultrarechten Parteien zu gewinnen, immer mehr Ideen aus dem extrem rechten Lager übernehmen.

Drei Tage vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen legte die Ampelkoalition ein sogenanntes Sicherheitspaket vor, von dem drei Tage später feststand, dass es seine politische Absicht, den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg einer Nazipartei zu bremsen, gänzlich verfehlt hatte. Es wird – und daraus könnte sich eine sehr gefährliche Dynamik ergeben – wohl auch die Sicherheitslage nicht verbessern. Unter den asylpolitischen Maßnahmen zur angeblichen Erhöhung der Sicherheit steht an erster Stelle die Erleichterung von Abschiebungen ausreisepflichtiger Personen. Wenn wir jedoch in Europa die islamistischen Anschläge der letzten Jahre betrachten, sehen wir: Die meisten Attentäter waren nicht nur nicht ausreisepflichtig, sondern sie waren Staatsbürger der betreffenden Länder: Am 13. November 2015 ermordeten Islamisten in Paris 130 Menschen. Die meisten Täter waren französische, einige belgische Staatsbürger. Am 22. März 2016 wurden in Brüssel 32 Menschen durch Bombenanschläge getötet, die Haupttäter waren belgische Staatsbürger. Am 22. Mai 2017 tötete in Manchester ein Selbstmordattentäter bei einem Konzert 22 Menschen, er war britischer Staatsbürger. Am 17. August 2017 raste in Barcelona ein Lieferwagen in eine Menschenmenge, vierzehn Menschen starben. Die Täter waren keine Spanier, lebten aber schon viele Jahre im Land.

Unsicherheit im Paket

Kein deutscher Staatsbürger war der oben erwähnte Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 dreizehn Menschen ermordete – den Fahrer eines Sattelzuges und zwölf Besucher eines Berliner Weihnachtsmarktes, in den er den Sattelzug lenkte. Diese schreckliche Tat hätte ohne Aufnahmestopp und ohne Massenausweisungen verhindert werden können. Der vom Berliner Senat eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost konnte trotz etlicher Vertuschungsversuche und gefälschter Akten herausfinden, dass der als Gefährder, Bandenkrimineller und Intensivtäter bereits seit zwei Jahren bekannte Anis Amri schon lange hätte verhaftet werden können und müssen. Er stellte damals fest: »Da wurde alles falsch gemacht, was man falsch machen kann.«

Es gibt durchaus sehr gute Argumente für strengere Waffengesetze. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) hat völlig recht, wenn er sagt: »Hieb- und Stichwaffen braucht niemand in Deutschland in der Öffentlichkeit. Wir leben nicht mehr im Mittelalter.« Auch empirisch ist seit den 1960er Jahren in Dutzenden Studien belegt worden, dass die Präsenz von Waffen eine ganze Reihe von Gefahren bedeutet. In der empirischen Forschung wird dies als »Weapons Effect« bezeichnet. Er besagt nicht nur, dass Waffen tendenziell auch benutzt werden, sobald sie verfügbar sind. Die Präsenz von Waffen erhöht auch die allgemeine Wahrscheinlichkeit, aggressiver zu reagieren. Ob die jeweilige Person selbst oder eine andere Person die Waffe besitzt, spielt dabei keine Rolle. Das Vorhandensein von Waffen ermöglicht nicht nur Gewalt, es kann sie auch stimulieren. Eine Metaanalyse von 78 Studien zum »Weapons Effect« ergab: Waffen im Umfeld von Menschen steigern deren aggressive Gedanken, intensivieren ihre Ärger- und Wutgefühle, sie schätzen andere eher als feindselig ein und verhalten sich auch aggressiver.

Im aktuellen Zusammenhang jedoch ein Messerverbot einzuführen, ist kontraproduktiv, allein schon deshalb, weil es nicht kontrolliert werden kann. Laut dem Vorsitzenden der »Gewerkschaft der Polizei«, Jochen Kopelke, sind diese Kontrollen angesichts des Personalmangels »nicht machbar«. Auch die Wirksamkeit ist fraglich. Obwohl bereits neun deutsche Städte Waffenverbotszonen eingerichtet haben, gibt es noch keine eindeutigen Belege für eine Verringerung der Kriminalität an diesen Orten. Das größte Problem ist jedoch: Wer gerade jetzt ein Messerverbot einführt, erweckt den Anschein, dass die AfD recht hatte, wenn sie seit Jahren pauschal Asylsuchende und Migranten als »Messerstecher« diskriminiert und von »Messermigration« spricht. Ein Beispiel der offenen pauschalen Diskriminierung liefert Friedrich Merz mit seiner Äußerung: »Nicht Messer sind das Problem, sondern die Personen, die damit herumlaufen. In der Mehrzahl der Fälle sind dies Flüchtlinge.«

Erschreckend ist: Derlei Aussagen werden bis hinein in die SPD und auch von als seriös geltenden Medien mitgetragen. In dem für ihre deutschen Leserinnen und Leser herausgegebenen Newsletter schrieb die Neue Zürcher Zeitung letztes Jahr: »Deutschland, Messerland. Wieder müssen Unschuldige wegen einer verantwortungslosen Migrationspolitik sterben.« Auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil springt auf den Zug auf, wenn er sagt, der Solinger Anschlag zeige, dass Deutschland ein Problem mit Messergewalt habe. Dies ist ungefähr so, wie wenn jemand zur Zeit der Lynchmorde des Klu-Klux-Klans gesagt hätte: »Wir haben ein Problem mit Brandstiftungen« und gefordert hätte, dass Benzinkanister verboten werden.

Messer weg?

Die mit dem Stichwort Messerkriminalität verbundene Hetze ignoriert konsequent die Faktenlage. Forscherinnen und Forscher sind sich nämlich einig: Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Messerangriffen und der Staatsangehörigkeit der Täter. Auch eine Studie der Bundespolizei belegt dies. Seit 2022 gibt es einen Anstieg der erfassten Gewaltkriminalität. Die Gründe sind nach Ansicht des BKA das pandemiebedingt niedrige Ausgangsniveau von 2021, die hohe Inflationsrate und weitere wirtschaftliche und soziale Belastungen, eine erhöhte Mobilität nach der Pandemie sowie eine hohe Zuwanderungsrate. Der Anteil der als »Messerangriff« erfassten Taten der Gewaltkriminalität hat sich nicht signifikant geändert (Bundestagdrucksache 20/11295). Die Verwendung von Messern wird bei zwei Deliktgruppen erfasst. Bei Delikten der gefährlichen und schweren Körperverletzung betrug der Anteil 5,8 Prozent 2021, 5,6 Prozent 2022 und wieder 5,8 Prozent 2023. In der zweiten Kategorie, den Raubdelikten, betrug der Anteil 10,2 Prozent 2021, elf Prozent 2022 und 10,9 Prozent 2023. Der Anstieg der Gesamtzahl dieser Delikte ist kein »Ausländerproblem«.

Die Kriminologin Elena Rausch, Autorin einer Studie zum Thema Messerkriminalität: »Als Fazit muss man sagen, dass wir diese ganzen Narrative, die es in der öffentlichen Diskussion gibt, nicht bestätigen konnten.« Im Verhältnis zum jeweiligen Anteil an der Bevölkerung stieg bei der sogenannten Messerkriminalität die Anzahl deutscher Tatverdächtiger vom 1. Halbjahr 2022 bis zum ersten Halbjahr 2023 um acht Prozent, die der nichtdeutschen Tatverdächtigen um neun Prozent. Dieser geringe Unterschied ist auf die unterschiedliche Altersstruktur zurückzuführen. In der nichtdeutschen Bevölkerung gibt es mehr junge Männer, die in allen Ländern erhöhte Kriminalitätsraten aufweisen. Sowohl bei deutschen als auch bei nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen beträgt der Anstieg (besorgniserregende) zwölf Prozent. Es besteht das Problem einer allgemeinen Zunahme der Gewaltkriminalität und – hiervon unabhängig – der Zunahme islamistischer Gewalt. Die Bekämpfung der letzteren wird sabotiert, wenn man sie, wie Merz und Klingbeil es tun, der Messerkriminalität zuschiebt und diese pauschal den »Flüchtlingen« unterstellt. Besonders perfide ist dies, weil viele der »Flüchtlinge« oftmals gerade vor Gewalt geflohen sind.

Vermutlich werden die meisten Punkte des sogenannten Sicherheitspaketes ihre Wirkung verfehlen, wegen Personalmangels, weil Gerichte anders entscheiden, oder weil die Regelungen unklar, in sich widersprüchlich und handwerklich mangelhaft sind. Auch dies wird bewirken, dass ein Messer das andere wetzt. Das Projekt wird zum einen zum Unsicherheitspaket dadurch, dass es auf breiter Linie extrem rechte Inhalte und Forderungen übernimmt und dadurch normalisiert. Zum anderen wird die voraussichtliche oder auch die nur behauptete Unwirksamkeit dazu führen, dass das versammelte Wutbürgertum sich noch mehr in die Empörungspose hineinsteigert. Angestachelte aggressive Impulse und rassistische Phantasien werden stimuliert, Türen zum Pogrom werden sich öffnen. Die Knüppel, die Gewehre und die Brandsätze liegen schon bereit.

Michael Kohler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. Juli 2024 über den Mannheimer Messerangriff und dessen Folgen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert L. (17. September 2024 um 06:50 Uhr)
    Eigenartig, dieser Artikel: Zunächst plädiert der Autor dafür, wutmotivierte Leute ernst zu nehmen, indem er sagt, dass »Erfahrungen der Bedrohung, der Diskriminierung, des Ausschlusses und der Abwertung Ängste und Depressionen verursachen, aber auch Wutgefühle hervorrufen«. Am Schluss des Artikels teilt er allerdings gegen genau diese Leute aus, indem er prognostiziert, dass in Zukunft »das versammelte Wutbürgertum sich noch mehr in die Empörungspose hineinsteigert.« Also, was will der Autor nun sein: Wutbürger-Versteher oder Wutbürger-Verächtlichmacher? Oder absurderweise beides zusammen?

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