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Aus: Ausgabe vom 21.09.2024, Seite 12 / Thema
Zweiter Tschetschenienkrieg

Periphere Probleme

Vor 25 Jahren begann der Zweite Tschetschenienkrieg. Er sollte den innerrussischen Separatismus exemplarisch niederschlagen. Dies um den Preis, dass heute in der Kaukasusrepublik die Scharia herrscht
Von Reinhard Lauterbach
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Die »am stärksten zerstörte Stadt der Welt«, wie die UNO 2003 konstatierte. Russische Sodaten vor Ruinenlandschaft in Grosny, Tschetschenien, 2000

Die »tschetschenische Frage« war wohl die größte innenpolitische Baustelle, die Wladimir Putin vorfand, als er im September 1999 von Präsident Boris Jelzin zum Regierungschef ernannt wurde – damals schon mit der Aussicht, dem unbeliebten Jelzin ein paar Monate später im Amt nachzufolgen.¹

Denn das »Tschetschenienproblem« war sozusagen die Nemesis der »Parade der Souveränitäten«, die Jelzin selbst angezettelt hatte, als es ihm darum ging, die sowjetische Zentralgewalt auszuschalten: »Nehmt euch soviel Souveränität, wie ihr tragen könnt«, hatte Jelzin damals die Republiken und Regionen der Union öffentlich aufgefordert.

Die Aufspaltung der Union wurde 1991 zwischen Jelzin, dem Ukrainer Leonid Krawtschuk und dem Belarussen Stanislaw Schuschkewitsch entlang der Grenzen der Unionsrepubliken vereinbart. Das sollte langwierige Vermögensauseinandersetzungen ersparen und gelang insofern auch. Aber was war mit den Verwaltungsgebieten etwas minderen Rechts, den Autonomen Sowjetrepubliken oder sogar Bezirken oder Kreisen innerhalb der Republiken? Sie wurden nicht gefragt und standen vor vollendeten Tatsachen. Als die Bewohner der Krim in einem Referendum 1991 verlangten, entweder wieder an Russland angegliedert oder direkt der Union unterstellt zu werden, ignorierte Michail Gorbatschow diese Forderung; er hatte schon andere Sorgen.

Unterworfene Stämme

Nicht alle dieser »kleineren Völker« wollten das akzeptieren. Unter ihnen waren die Tschetschenen die aktivsten. Die Perspektive, als verschwindende Minderheit (1,6 Millionen Menschen) unter 150 Millionen Staatsangehörigen der Russischen Föderation zu leben, fand nur wenige Anhänger. Der Gedanke, sich von Russland loszusagen, fand im historischen Gedächtnis des tschetschenischen Volkes schmerzliche Anhaltspunkte. Die tschetschenischen Stämme waren im Zuge der russischen Expansion in den Kaukasus in den 1850er Jahren mit Gewalt unterworfen worden, wobei die russischen Truppen mit dem flächendeckenden Abbrennen der Wälder eine Art ökologische Kriegführung betrieben, die die Lebensgrundlagen der transhumant – im Sommer in den Bergen, im Winter in der Ebene – lebenden Tschetschenen zerstörte. Grosny, der Name, den die Russen ihrer Verwaltungshauptstadt gaben, bedeutet übersetzt »bedrohlich«.

Ein zweites Mal brachten die Kollektivierung und der mit ihr verbundene Zwang zur Sesshaftigkeit in den 1930er Jahren die Lebensverhältnisse der Tschetschenen durcheinander. Ob die Kollaboration der Tschetschenen mit den deutschen Faschisten so massenhaft gewesen ist, wie es 1944 zur Begründung ihrer Deportation nach Zentralasien von sowjetischer Seite behauptet wurde, ist unklar.² Gegen diese Kollektivbeschuldigung spricht insbesondere der Umstand, dass die Tschetschenen gar nicht viel Gelegenheit zur Kollaboration hatten; denn die Deutschen waren 1942 nur maximal bis Mosdok im westlich an Tschetschenien anschließenden Nordossetien gekommen und konnten sich dort auch nur bis zum Winter 1942/43 halten. Russische Quellen sagen, von etwa einem Dutzend während der Kriegszeit aktiver tschetschenischer »Banden« seien die allermeisten rein krimineller Natur gewesen, nur eine Gruppe unter dem früheren KPdSU-Mitglied Hassan Israilow habe tatsächlich den Kontakt zur Wehrmacht gesucht.³

Jedenfalls leisteten die Tschetschenen in ihrer Mehrheit auch noch in den 1950er Jahren, als ihre Verbannung aufgehoben wurde, passiven Widerstand gegen die sowjetische Ordnung. Berichte des KGB aus dieser Zeit sprachen davon, dass die Kolchosen in aller Regel auf Grundlage vorhandener Clanstrukturen gebildet wurden und somit ein vormodernes Gesellschaftsmodell unter nur oberflächlicher Anpassung reproduziert wurde. Der Umstand, dass in den Jahren zwischen der Verbannung 1944 und der Rückkehr ab 1957 Angehörige anderer Nationalitäten Ackerboden, Häuser und Weiden für sich besetzt hatten, führte schon in sowjetischer Zeit zu ständigen Reibereien und gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Tschetschenien zu einem »unsicheren« Landstrich machten. Die Sowjetunion entwickelte zwar die Ölvorkommen, aber dort arbeiteten vorwiegend Zuwanderer aus Russland und der Ukraine.

Brutstätte des Islamismus

Schon im Spätsommer 1991 – als die Sowjetunion noch bestand, aber alles bereits auf ihren Zerfall hinauslief – putschte der frühere Generalmajor der sowjetischen Luftwaffe Dschochar Dudajew gegen die moskautreue Führung der Autonomen Republik und ließ sich anschließend selbst zum Präsidenten wählen. Er hatte bis 1990, als er seinen Abschied nahm, um Politiker zu werden, als Kommandeur eines Bombergeschwaders im estnischen Tartu gedient und mitbekommen, wie die baltischen Nationen sich aus der Union verabschiedet hatten. Dies hatte Gorbatschow letztlich akzeptiert. Warum sollten die Balten gehen dürfen, die Tschetschenen aber nicht? Die Frage war nicht trivial und die Aufspaltung entlang der Republikgrenzen rechtlich so willkürlich wie alle Stichtagsregelungen.

Dazu kam, dass Tschetschenien eine der ärmsten Regionen Russlands war – und es ohne Milliardensubventionen aus dem zentralen Staatshaushalt auch heute noch wäre. Solange die sowjetische Umverteilungswirtschaft halbwegs funktionierte, fiel das nicht so auf. Aber als mit der Perestroika diese Mechanismen als »nicht marktgerecht« beseitigt wurden, fiel Tschetschenien ins Elend. Zumal Unsicherheit, Kriminalität und Gewalt im Alltag die nichteinheimischen Bevölkerungsteile auf den qualifizierteren Jobs weitestgehend in die Flucht trieben. Der russische Bevölkerungsanteil der Tschetschenisch-Inguschischen Autonomen Republik fiel in den 1990er Jahren von 23,8 Prozent bei der Volkszählung von 1989 auf 3,7 Prozent bei der Volkszählung 2002.

So war der von Dudajew eingeleitete Unabhängigkeitskurs ein Muskelspiel ohne Muskeln. Tschetschenien lebte teils von Selbstversorgung, teils vom Ausplündern der in der Sowjetunion geschaffenen wirtschaftlichen Substanz. Die Züge, die von Rostow am Don entlang des Kaukasus in Richtung Baku fuhren, wurden schon zu Pere­stroika-Zeiten regelmäßig überfallen, und nach dem Ende der UdSSR wurde es noch schlimmer. Tschetschenische Clans setzten sich in der russischen Unterwelt fest und verdienten als Auftragskiller und Berufserpresser das Geld, mit dem ihre Chefs reich wurden.

Eine Unabhängigkeit ohne wirtschaftliche Substanz musste sich zwangsläufig auf anderer Ebene begründen. So kam es, dass Tschetschenien zu einer Brutstätte des Islamismus in seiner radikalsten Ausprägung – des in Saudi-Arabien gepflegten Wahhabitentums – wurde. Rufe nach einem Austritt aus der Russischen Föderation und der Gründung eines »kaukasischen Kalifats« gemeinsam mit den muslimischen Nachbarrepubliken, vor allem Dagestan, wurden lauter. Die territoriale Integrität Russlands geriet in Gefahr, und der Umstand, dass zum Beispiel der vom US-Kongress finanzierte Sender Radio Liberty in den 1990er Jahren ein Programm in tsche­tschenischer Sprache und die als Sprachrohr der Rebellen dienende Webseite kavkaz-uzel.ru startete, musste in Moskau den Eindruck erwecken, dass im Westen versucht wurde, aus den inneren Schwierigkeiten und Spannungen des multinationalen Russlands Kapital zu schlagen.

Der erste Krieg

Ende 1994 beschloss Jelzin, mit den außer Kontrolle geratenen Zuständen in Tschetschenien Schluss zu machen. Zuvor waren Versuche Russlands fehlgeschlagen, Dudajew mit Hilfe tschetschenischer Oppositioneller zu stürzen. Am 11. Dezember begann der Vormarsch von drei Militärkolonnen auf die Hauptstadt Grosny. Er war schlecht vorbereitet und zeugte von Unterschätzung des tschetschenischen Gegners, der nicht nur das Gelände besser kannte, sondern beim Abzug der russischen Truppen 1992 auch große Mengen an Waffen und Ausrüstung erbeutet hatte. Die Kampagne im Innern des eigenen Landes war in der russischen Armee unpopulär, mehrere Generäle weigerten sich, das Kommando zu übernehmen.

Der Einmarsch in Grosny dauerte zwei Monate; rund 25.000 Bewohner wurden allein dort durch Artilleriebeschuss und Bombenangriffe getötet, im ganzen Krieg etwa 80.000. Ab dem Frühjahr 1995 machte sich allerdings die zahlenmäßige Überlegenheit der Regierungsarmee bemerkbar: Ab April hatte Moskau das tschetschenische Flachland weitgehend unter Kontrolle gebracht, nicht dagegen die Bergregionen im Süden. Von dort aus führten tschetschenische Militante einen Guerillakrieg auch mit dem Mittel großangelegter Geiselnahmen wie jener im Krankenhaus von Budjonnowsk mit über 1.000 Personen im Juni 1995. Versuche der Armee, die Anlage zu stürmen, scheiterten. Unter dem Eindruck dieser spektakulären Niederlage erklärte sich die russische Regierung nach vier Tagen zum Abzug eines Großteils ihrer Truppen aus Tschetschenien und zum Beginn von Verhandlungen über den Austritt der Republik aus der Russischen Föderation bereit. Weitere Anschläge folgten in etwa zweimonatigen Abständen. Im August 1996 eroberten tschetschenische Kämpfer unter dem späteren Staatspräsidenten Aslan Maschadow sogar die Hauptstadt Grosny zurück. Die Blamage für Russland war perfekt. So musste Moskau im Friedensvertrag von Chassawjurt wenige Tage später Tschetschenien eine faktische Unabhängigkeit zugestehen. Einzelheiten sollten bis Ende 2001 ausgehandelt werden.

Tschetschenien konnte aber seines faktischen Sieges über den großen Nachbarn nicht froh werden. Der ebenso wie der 1996 bei einem russischen Anschlag getötete Dudajew in der sowjetischen Armee sozialisierte und durch seinen letzten Einsatz in Litauen nicht minder von der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen geprägte Maschadow gewann zwar 1996 die Präsidentenwahl, hatte aber etwa 40 Prozent der Anhänger islamistischer Gruppierungen gegen sich, die jeden möglichen Kompromiss mit Russland sabotierten. Russland seinerseits hielt zugesagte Hilfsgelder zurück und war vermutlich bestrebt, die Lage in Tschetschenien für die verbliebene Bevölkerung unerträglich zu machen. Die islamistischen Gruppen in Tschetschenien verübten immer weitere Überfälle. Einen von ihnen, der am 7. August 1999 auf die Nachbarrepublik Dagestan erfolgte, nahm Putin, damals Chef des Geheimdienstes FSB und im folgenden Monat zum Regierungschef ernannt, zum Anlass für einen zweiten Krieg. Als öffentlich vorgetragener Hintergrund diente im übrigen der Vorwurf, der tschetschenische Präsident Maschadow sei nicht Herr der Lage und unfähig, den von Tschetschenien ausgehenden Terrorismus zu bekämpfen. Wie ein inzwischen veröffentlichtes Transkript eines Telefongesprächs zwischen Jelzin und dem damaligen US-Präsidenten William Clinton vom 8. September 1999 zeigt, »kaufte« der US-Amerikaner damals die russische Darstellung, es gehe um »Terrorbekämpfung«.

Auftritt Putin

Es gibt ein Putin zugeschriebenes Zitat aus dieser Zeit, das sich so interpretieren lässt, als sei ihm der Angriff der Militanten auf Dagestan im Spätsommer 1999 im Grunde ganz recht gekommen: »Jetzt haben wir die erstrebte juristische Grundlage (…). Wir qualifizieren die Handlungen der Banditengruppierungen als ›internationalen Terrorismus‹ und nutzen dies als Begründung für militärische Operationen im Kaukasus.« Isabelle Facon zitiert diese Aussage allerdings nicht direkt, sondern nach einer 2000 in Sandhurst, dem Sitz der britischen Militärakademie, erschienenen Studie.¹⁰ Die juristische Argumentation ist übrigens ziemlich halsbrecherisch: Der Angriff erfolgte nicht über eine international anerkannte Grenze, sondern eine interne russische Verwaltungsgrenze hinweg. Mit seiner Rede vom aus Tschetschenien kommenden »internationalen Terror« hatte Putin also im Grunde die tschetschenische Unabhängigkeit anerkannt. Was überhaupt nicht seine Absicht war.

Apokryph und ohne genaue Datierung, wie es ist, würde dieses Zitat aber zu einer Serie bis heute unaufgeklärt gebliebener Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen russischen Städten im Herbst 1999 passen. Sie forderten mehr als 300 zivile Todesopfer sowie 1.500 Verletzte und dienten Putin gegenüber der russischen Öffentlichkeit als Rechtfertigung für den zweiten Krieg gegen Tschetschenien. Der in den Westen desertierte und 2007 in London vergiftete Exgeheimdienstler Alexander Litwinenko und ein in den USA lebender Koautor beschuldigten in dem 2002 erschienenen und heute in Russland verbotenen Buch »Der FSB sprengt Russland in die Luft« den bis zum Vorabend der Ereignisse von Putin geleiteten Geheimdienst, die Anschläge selbst inszeniert zu haben. Doch selbst Rezensenten aus dem Milieu der liberalen russischen Opposition haben diese Version als unbelegten Verschwörungsmythos kritisiert.¹¹ Die offizielle russische Darstellung, tschetschenische Terroristen hätten die Anschläge verübt, krankt allerdings ihrerseits daran, dass sie in 25 Jahren niemals gerichtlich nachgewiesen wurde. Ein weiteres immanentes Argument, das an ihr zweifeln lässt, ist der Umstand, dass tschetschenische Terroristen sich ihrer Taten in der Regel öffentlich gerühmt haben; im Fall der Anschläge vom Herbst 1999 allerdings sind keine solchen Selbstbezichtigungen bekannt geworden.

Die Anschläge fanden zwischen dem 4. und dem 16. September 1999 statt. Bereits am 7. September gab Putin vor dem russischen Sicherheitsrat die Parole aus, es müsse vor allem darum gehen, »Schuldgefühle« abzulegen, die nach dem Ersten Tschetschenienkrieg geblieben seien.¹² Auf die Anschläge auf Wohnhäuser in Russland – einer hatte zu diesem Zeitpunkt schon stattgefunden¹³ – ging Putin in seiner Rede dagegen mit keinem Wort ein. Auch das Argument »internationaler Terrorismus« kam in seinem Statement vom 7. September noch nicht vor. Er konzentrierte sich weiterhin eher auf den Vorwurf, die Maschadow-Mannschaft habe die Lage in Tschetschenien »nicht im Griff«.

Angriff

Am 20. September begann Russland dann mit massiven Luftangriffen auf Ziele in Tschetschenien. Nach zehn Tagen des Luftbombardements begannen russische Truppen mit dem Einmarsch am Boden. Facon hat darauf hingewiesen, dass die russische Seite im Zweiten Tschetschenienkrieg offenkundig das Vorbild der westlichen Interventionen im ehemaligen Jugoslawien im Frühjahr 1999 studiert und genutzt hat. Westliche Militärfachleute verweisen auch darauf, dass der russische Angriff dieses Mal wesentlich besser koordiniert gewesen sei als 1994 und, anders als im Ersten Tschetschenienkrieg, die »Antiterroroperation« von einer intensiven Öffentlichkeitskampagne begleitet war. Ein weiterer Punkt kam hinzu: Die tschetschenische Gesellschaft war nach Jahren der wirtschaftlichen Zerrüttung, die sich aus der Perspektive der einfachen Bevölkerung auch als Erfolglosigkeit der Unabhängigkeitspolitiker wahrnehmen lässt, teilweise resigniert und wohl auch der Herrschaft der halbkriminellen Strukturen, die Tschetschenien in den 1990er Jahren kontrollierten, müde. Jedenfalls notierten zeitgenössische Beobachter, dass die Unterstützung aus der Bevölkerung für die Kämpfer 1999/2000 wesentlich geringer gewesen sei als fünf Jahre zuvor.¹⁴

Bis zum Jahresende 1999 hatten die russischen Truppen, ähnlich wie 1994, den Großteil des tschetschenischen Flachlands besetzt. Nach Grosny marschierten sie dieses Mal nicht sofort ein, sondern belagerten die Stadt und beschossen sie drei Monate lang von außen mit Artillerie. Das machte Grosny endgültig zu einer Ruinenlandschaft, von der UNO 2003 zur »am stärksten zerstörten Stadt der Welt« erklärt. Trotz einzelner Defensiverfolge der tschetschenischen Kämpfer brachte Russland dank seiner Übermacht das Territorium Tschetscheniens bis zum Frühjahr 2000 weitestgehend unter seine Kontrolle. Am 23. April erklärte der russische Generalstab die »aktive Phase der Antiterroroperation« in Tsche­tschenien für beendet.

Trotzdem dauerte es noch Jahre, bis der Widerstand der tschetschenischen Kämpfer zumindest vorläufig gebrochen war. Erst 2009 wurde die »Antiterrorperation« offiziell für beendet erklärt, einzelne Kämpfe gab es noch bis 2017. Immer wieder gelang es Kommandos unter der Führung islamistischer Warlords wie Schamil Bassajew, ins Tiefland oder in die Nachbarrepubliken vorzudringen und Anschläge sowie Sabotageakte zu verüben. Weltweites Aufsehen erreichten sie mit der Besetzung des Moskauer Dubrowka-Theaters während einer Vorstellung des Musicals »Nord-Ost« im Oktober 2002. Sie endete damit, dass die russische Staatsmacht ein Betäubungsgas in den Zuschauerraum einleitete, dessen Wirkung nicht nur die Terroristen ausschaltete – sie wurden bewusstlos durch Genickschüsse getötet –, sondern auch mehr als 100 Zuschauer das Leben kostete. Gezielte Tötungen von Anführern des Aufstands, insbesondere Ausländern aus arabischen Ländern, gingen noch über Jahre weiter.

Anders als 1994/95 allerdings kämpften dieses Mal an der Seite Russlands auch lokale Milizen. Sie orientierten sich an dem früheren Obersten Mufti Tschetscheniens, Achmad Kadyrow. Er wurde selbst 2004 von innenpolitischen Gegnern getötet. Nach einer Zwischenphase wurde 2007 sein Sohn Ramsan zum Nachfolger ernannt. Er regiert Tschetschenien bis heute mit harter Hand, finanziert durch großzügige finanzielle Zuwendungen aus dem russischen Staatshaushalt und unterstützt durch mindestens ebenso großzügige ideologische Zugeständnisse Moskaus.

Scharia und Gewohnheitsrecht

Offiziell ist Tschetschenien heute wieder ein Teil Russlands, aber im Innern gilt weniger die russische Gesetzgebung als vielmehr die Scharia und tschetschenisches Gewohnheitsrecht. Grosny ist prunkvoll – und »für westeuropäische ­Augen« geschmacklos – wieder aufgebaut, Homosexualität ist verboten, LGBT-Menschen tun gut daran, die Republik zu verlassen, wenn sie am Leben bleiben wollen. Das Heiratsalter für Mädchen wurde auf 14 Jahre herabgesetzt, Polygamie für Männer wieder erlaubt. Familien, auf deren Tochter ein Kadyrow-Mitstreiter ein Auge geworfen hat, werden unter Druck gesetzt, der Verheiratung zuzustimmen. Ramsan Kadyrow kennt den Preis für diese Duldung: absolute Loyalität gegenüber Putin, als dessen »treuester Soldat« er sich gelegentlich bezeichnet. Tschetschenische Spezialeinheiten sind in der Ukraine an Schlüsselabschnitten der Front eingesetzt und gelten als »harte Hunde«. Ihr Kommandeur Apti Alaudinow schickte neulich tschetschenischen Soldaten, die sich abweichend vom Idealbild im Kursker Gebiet den Ukrainern ergeben hatten, ein Video hinterher, in dem er sie beschuldigte, sich »wie Weiber« verhalten zu haben. Niemand wolle sie wieder in Tschetschenien sehen. Sie sollten wenigstens irgendeinen Kugelschreiber oder ein Messer nehmen und irgend jemanden in ihrer Umgebung umbringen, um wie Männer zu enden. Austauschen werde er sie jedenfalls nicht.

Geopolitisch hat der Zweite Tschetschenienkrieg tatsächlich die Scharte ausgewetzt, die der erste im staatlichen Selbstverständnis Russlands hinterlassen hat. Er hat die »Parade der Souveränitäten« beendet: Seit der Niederschlagung des tschetschenischen Aufstands hat es in Russland bis heute keinen relevanten Separatismusversuch mehr gegeben. Putin bot der Krieg die Gelegenheit der Selbstinszenierung vor den Wahlen, die ihn im Frühjahr 2000 bestätigen sollten. Er ließ zum Beispiel auf einer Besprechung mit Offizieren im Kampfgebiet ein Video von sich aufnehmen. Als er nach seiner Rede sein Glas erhob, freuten sich die Militärs schon, dass jetzt der gemütliche Teil kommen werde. Aber Putin stellte das Glas ungeleert wieder ab und sagte: »Trinken können wir nach dem Sieg.«

Anmerkungen

1 Das geht aus dem Transkript eines Telefongesprächs zwischen Boris Jelzin und William Clinton vom 8. September 1999 hervor, siehe kommersant.ru/doc/3730610

2 Siehe zur Person des angeblichen Aufstandsführers Hassan Israilow der Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hassan_Israilow

3 Siehe weiterführend den Eintrag »Восстание Хасана Исраилова« in der russischsprachigen Wikipedia: https://ru.wikipedia.org/wiki/Восстание_Хасана_Исраилова

4 Vgl. die auch heute noch aufschlussreiche Habilitationsschrift von Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft, Baden-Baden 1986

5 Siehe das Kapitel »Geschichte« im Eintrag »Tschetschenien« in der deutschsprachigen Wikipedia mit Stand 20. September 2024. Der russische Bevölkerungsanteil hatte sich allerdings schon 1989 gegenüber dem Stand der 1960er Jahre halbiert

6 So wurden nach russischen Angaben allein im Jahr 1993 560 Überfälle auf Züge auf dem Gebiet Tschetscheniens verzeichnet, vgl. Anm. 51 unter Berufung auf die russische Partei »Родина« (Rodina) im Eintrag »Первая чеченская война« in der russischsprachigen Wikipedia mit Stand 20. September 2024

7 Vgl. den am Collège interarmées de Défense entstandenen AFRI-Artikel »La seconde guerre de Tchétchénie: Les aspects politico-militaires« von Isabelle Facon, erschienen in Annuaire français de relations internationales, 2 (2001), S. 787–806

8 Siehe Anm. 1, kommersant.ru/doc/3730610

9 Facon, a. a. O., S. 792: »›Nous avons la base légale voulue … Nous qualifions les actes des groupes de bandits d’acte de terrorisme international et nous utilisons ceci comme fondement‹ des opérations militaires dans le Caucase.«

10 Facon, a. a. O., S. 792, Verweis in Fn. 17 auf Steven J. Main: »›Counter-Terrorist Operation‹ in Chechnya: On the Legality of the Current Conflict«, in Anne C. Aldis (Hg.): The Second Chechen War, Sandhurst 2000, S. 23

11 https://ru.wikipedia.org/wiki/ФСБ_взрывает_Россию#Оценки_содержания_книги, Abschnitt: »Ocenki soderzhanija knigi« (Bewertungen des Inhalts des Buches); vgl. den biographischen Artikel zu Litwinenko https://ru.wikipedia.org/wiki/Литвиненко,_Александр_Вальтерович#Публикации_Литвиненко, Abschnitt »Mnenija o Litwinenko i ego dejatel’nosti« (Meinungen zu Litwinenko und seiner Tätigkeit»).

12 Vgl. eine Meldung der Onlineseite Polit.ru vom 7. September 1999 hier: web.archive.org/web/20190816090202/polit.ru/news/1999/09/07/536215/

13 Nämlich in Buinaxk am 4. September 1999, siehe den Eintrag »Взрывы жилых домов в России в сентябре 1999 года« in der russischsprachigen Wikipedia mit Stand 20. September 2024

14 Vgl. Facon, a. a. O., S. 794–795: «Lorsque le second conflit s’engage, et l’effet des frappes aériennes aidant, la population tchétchène, moralement lasse et économiquement exsangue, se réfugie en masse vers l’Ingouchie voisine. Cette situation a eu un impact sur les combattants tchétchènes, dans la mesure où elle les a privés d’une partie de la solidarité et du soutien que la population leur avait accordés lors du premier conflit. Cette circonstance négative pour les forces tchétchènes s’ajoute, dans la liste des difficultés rencontrées par les ›rebelles‹ tchétchènes dans cette guerre, à leurs propres divisions. Au fil des ans, en effet, se sont formés différents clans dont les intérêts et ambitions ne sont pas nécessairement conciliables. Ces changements ont constitué autant d’atouts pour les forces russes. D’ailleurs, les frappes aériennes et d’artillerie visaient également à pousser les populations tchétchènes à faire pression sur les forces rebelles pour qu’elles abandonnent leurs positions dans les zones d’habitation. De fait, dans certaines villes ou villages, les populations ont préféré négocier avec les forces russes pour éviter que leur localité ne soit détruite»; siehe hierzu auch die entsprechenden Fn. 26–27

Reinhard Lauterbach schrieb an dieser Stelle zuletzt in der Ausgabe vom 18./19. Mai 2024 über die «Volksrepubliken» Donezk und Lugansk.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (22. September 2024 um 06:52 Uhr)
    Es hätte dem Artikel gut getan, hätte er wenigstens einen kurzen Abschnitt über die ausländischen Akteure der Auseinandersetzungen in Tschetschenien gehabt. Da hätte sich auch im Archiv der jW aus dieser Zeit gewiss einiges finden lassen, was auf das Mitmischen nicht nur von Geheimdiensten jener Länder hinweist, die nach dem Zerfall der Sowjetunion fleißig daran mitarbeiteten, dass sich der Prozess des Zerfransens Russlands von den Rändern her kontinuierlich fortsetzt. Das Land ist zu groß und birgt zu viele Reichtümer, als dass man nicht auf Dauer die Strategie gefahren hätte, es zu schwächen, um diese noch gründlicher ausplündern zu können als schon unter Jelzin möglich. Vergangene Entwicklungen in der Ukraine, in Georgien, Armenien und neuerdings verstärkt in Mittelasien zeigen: Diese Strategie bestand von Anfang an und sie besteht auch weiterhin. Das ist es, was die Sache so gefährlich macht. Tschetschenien war nur ein Glied in der Kette, Russland endgültig zu erledigen. Dass dieses sich damals gegen seine Zerstückelung gewehrt hat und sich auch weiter dagegen wehren wird: Man kann das verstehen, würde man sich ähnliche Vorgänge in Bayern zur Abspaltung von Deutschland, in Florida von den USA oder in der Normandie von Frankreich vorstellen. Von solchen Vorgängen im Baskenland, in Katalonien oder in Schottland ganz zu schweigen.

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