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Aus: Ausgabe vom 25.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Musikfest Berlin

Bruckners Klänge

Das Musikfest Berlin machte die Vielseitigkeit des Komponisten hörbar
Von Kai Köhler
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Zuweilen intim: Der RIAS Kammerchor Berlin singt Bruckners d-moll-Messe

Komponistenjubiläen häufen sich 2024. Neben Luigi Nono und Arnold Schönberg berücksichtigte das Musikfest Berlin (24.8.–18.9.2024) Anton Bruckner, von dem drei Sinfonien zu hören waren. An der Aufführung der fünften durch die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko lässt sich immerhin eine große Fülle an kaum je wahrgenommenen Details rühmen. Ein Ganzes ergab sich daraus allerdings nicht, was nicht nur an dem zumal in den Mittelsätzen allzu raschen Tempo lag. Die dröhnende Lautstärke fast jeder Steigerung verdeckte mit beinahe brutalen Blechbläsern die tatsächlichen Zielpunkte der Entwicklung und stumpfte über gut 70 Minuten ab.

Das Gegenteil war mit Bruckners erster unter Christian Thielemann zu hören. Hier wurden die Höhepunkte klug abgemessen, und alles klang korrekt und gepflegt. Thielemann hatte sichtlich und zu Recht Freude am Luxusklang der Wiener Philharmoniker. Mehr aber gab es nicht. Das Drängende, Radikale des Werks fehlte.

Thielemann wählte, passend zu seinem Ansatz, die melodisch angereicherte Letztfassung der Sinfonie, in der Bruckner die rhythmischen Exzesse des lange zuvor komponierten Werks abgemildert hatte. Eine im Konzertsaal seltene Version wählte auch Ingo Metzmacher, der das Gustav-Mahler-Jugendorchester dirigierte. Die selten aufgeführte Erstfassung der dritten Sinfonie erwies sich als Glücksgriff, denn auch hier führten Bruckners Überarbeitungen zu keiner Verbesserung. Die frühen Versionen dieses Werks sind formal schlüssig, und in der Erstfassung wagte Bruckner eine Gleichzeitigkeit rhythmischer Schichten, wie sie sich erst im 20. Jahrhundert wiederfindet. Metzmacher und sein Orchester machten das ebenso hörbar wie die einzigartige Logik dieser musikalischen Verlaufsform. Weder übersteigerten sie den Klang noch verharmlosten sie ihn.

Und Bruckner als Komponist geistlicher Musik? Der RIAS Kammerchor Berlin und die Akademie für Alte Musik führten unter Łukasz Borowicz die d-moll-Messe auf. Das Klangbild des Orchesters war ungewohnt, dabei instruktiv. Der Ausdrucksgehalt einzelner Phrasen veränderte sich, wurde zuweilen intimer, doch in den Steigerungen aufgerauht. Das Klangvolumen ist geringer als gewohnt; auch ein Kammerchor drohte zuweilen zu dominieren.

Seine Qualität stellte das Ensemble auch im ersten Teil des klug zusammengestellten Programms unter Beweis. Die d-moll-Messe ist ein Schwellenwerk, das für den fast vierzigjährigen Bruckner 1863 nach jahrzehntelangem Lernen einen Durchbruch zu freiem Komponieren bedeutete. Zu hören gab es ferner die kurz zuvor entstandene Ouvertüre g-moll, die in manchen Wendungen schon auf spätere Werke vorausweist, und geistliche Chöre. Sebastian Heindl steuerte Orgelimprovisationen über Themen aus diesen Werken bei und erinnerte an ein Genre, in der Bruckner als Organist Triumphe feierte.

Ein anderer Jubilar, der 1874 geborene Charles Ives, passte in den Amerikaschwerpunkt des Musikfests Berlin 2024 und auch zum demokratischen Anspruch, den die Musik in den USA erhebt. Wie in manchen an dieser Stelle am 16. September im Zwischenbericht zum Musikfest vorgestellten Werken, so ist auch in seinen Kompositionen der Unterschied zwischen »hoher« und »niederer« Musik vernachlässigt. Doch bei Ives führt dies zu keiner Senkung des Niveaus, sondern zu einer rücksichtslosen Gleichzeitigkeit.

Wie eng dieser US-amerikanische Weg mit der europäischen Moderne verknüpft war, machten Zusammenstellungen mit Werken Schönbergs (unter anderem durch den Pianisten Pierre-Laurent Aimard) ebenso deutlich wie ein Abend, bei dem Anna Prohaska Lieder von Ives solchen von Igor Strawinsky und Claude Debussy gegenüberstellte. Die »114 Songs« von Ives sind ein Kompendium unterschiedlichster Weisen von Musik, die – je nach Zweck verwendet – gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Aber ihr ganzes Potential entfaltet die Methode erst in der Gleichzeitigkeit.

Das Deutsche Symphonie-Orchester unter Kazuki Yamada führte dies mit dem Triptychon der »Three Places in New England« vor, wo nahe und ferne Märsche und Lieder in beinahe selbständigen Verläufen im Mit- und Gegeneinander aufeinandertreffen. Selten hört man das vielschichtige Werk derart klar wie in diesem Konzert. Doch verblassen die Anforderungen der »Three Places« vor denen der vierten Sinfonie, die sich die Berliner Philharmoniker unter Jonathan Nott vornahmen. Hier treten Chor und Fernensembles zum Orchester, und die Vielzahl der gleichzeitigen Rhythmen erfordert einen Assistenzdirigenten (Gregor A. Mayrhofer). Trotz dieses Extrems an Polyphonie war die Aufführung gut durchhörbar. Mehr noch: Sie vermittelte, dass die Komplexität des Werks kein Selbstzweck ist, sondern mit dem Zusammenklang des Gegensätzlichen einen utopischen Gehalt übermittelt. Wenigstens künstlerisch ging das demokratische Ideal, das der gegenüber seiner Gegenwart skeptische Ives seinen Landsleuten entgegenhielt, 1925 noch einzulösen.

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