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Aus: Ausgabe vom 05.10.2024, Seite 15 / Geschichte
Frankreich

Der Anschlag von Marseille

Vor 90 Jahren wurde der jugoslawische König Aleksandar in Frankreich ermordet
Von Roland Zschächner
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Per Kamera festgehalten: Das Attentat auf König Aleksandar

Die Aufnahmen beginnen harmlos. Der Zerstörer »Dubrovnik« der jugoslawischen Marine läuft am 9. Oktober 1934 in Marseille ein. An Bord ist Aleksandar I. Karađorđević. Der König von Jugoslawien herrscht in seiner Heimat seit Januar 1929 diktatorisch. Das ändert nichts an der Partnerschaft mit Frankreich, die durch den Staatsbesuch bekräftigt werden soll. Paris und Belgrad können auf ein langjähriges Bündnis zurückblicken; im Ersten Weltkrieg stand man auf derselben Seite.

Karađorđević trägt an diesem Tag wie so oft eine Paradeuniform. Der Diktator hat als Oberbefehlshaber an den Balkankriegen teilgenommen; er legt Wert aufs Militärische und seine Armee. An Land wird er vom französischen Außenminister Louis Barthou empfangen, ein offenes Auto steht bereit, um besser von den Schaulustigen gesehen zu werden. Berittene Beschützer werden hinter den Wagen gestellt, es ist einer von vielen Fehlern an diesem Tag.

Nach ein paar Dutzend Metern tritt ein Mann aus der Menge und an die beiden Staatsmänner heran, zieht eine Mauser-Pistole, schießt. Die Schüsse sind tödlich. Karađorđević, Barthou und drei Passanten sterben; mehrere Menschen werden verletzt. All das wird für die Nachwelt von einer Kamera der US-Produktionsfirma Fox festgehalten. Es ist der erste politische Mord, der gefilmt wurde.

Auch der Attentäter Wlado Tschernosemski überlebt den Tag nicht, nachdem er von einem Soldaten mit einem Säbel niedergestreckt worden war. Es werden noch weitere Männer festgenommen, die in den Anschlag verwickelt waren. Sie waren mit gefälschten Papieren nach Frankreich gekommen. Auch für weitere Etappen des Staatsbesuchs lagen mehrere Anschlagspläne vor. Darüber war auch der jugoslawische Geheimdienst informiert, der Karađorđević warnte. Doch der ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen.

Kampf um Einfluss

Hinter dem Mordkomplott stand der Kampf der imperialistischen und faschistischen Mächte Europas. Ihnen ging es um Einfluss auf den Balkan und in Jugoslawien. Dafür wurden nationalistische Gruppen genutzt, um das 1918 entstandene Königreich zu destabilisieren. Eine dieser Gruppen war die Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation (IMRO). Tschernosemski war eines ihrer Mitglieder.

Die IMRO war eine reaktionäre, nationalistische Organisation, die das Ziel verfolgte, Mazedonien aus dem jugoslawischen Staat herauszulösen und im nächsten Schritt mit Bulgarien zu vereinen. Dabei setzte die IMRO auch auf Gewalt. Doch die Organisation war nicht die einzige am Attentat in Marseille beteiligte Gruppe. Auch die faschistische kroatische Ustaša-Bewegung hatte Männer geschickt.

IMRO und Ustaša-Bewegung waren vereint in der Ablehnung Jugoslawiens. Sie betrachteten das Königreich als »Völkergefängnis«, in dem Kroaten bzw. Mazedonier von den Serben unterdrückt wurden. Sie wollten statt dessen je einen eigenen, ethnisch homogenen Staat. Eine Zusammenarbeit lag auf der Hand – man hatte denselben Feind, war von der gleichen reaktionären Ideologie beseelt, die aus religiösen Überzeugungen, Antikommunismus und chauvinistischen Nationalismus bestand, zudem kam man sich bei den beanspruchten Gebieten nicht in die Quere.

Am 20. April 1929 trafen sich die Anführer beider Gruppen in Sofia, um eine gemeinsame Deklaration zu unterzeichnen. Darin wurde festgehalten, die Tätigkeiten »zur Erkämpfung der menschlichen und nationalen Rechte, der politischen Freiheit und der vollständigen Unabhängigkeit Kroatiens und Mazedoniens zu koordinieren«. Für die Ustaša-Bewegung war auch Ante Pavelić in die bulgarische Hauptstadt gereist.

Pavelić war in der nationalistischen und antijugoslawischen »Kroatischen Partei des Rechts« (HSP) aktiv, für die er bis zur Einführung der Königsdiktatur 1929 im jugoslawischen Parlament saß. In Reaktion darauf gründete Pavelić die faschistische Ustaša-Bewegung, die er vom Ausland aus organisierte. Unterstützung erhielt er aus Italien, Ungarn und später aus Nazideutschland.

Der italienische Diktator ­Mussolini erhob ebenso wie der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy Ansprüche auf jugoslawische Gebiete. Mit ihrer Unterstützung für Ustaša und IMRO hofften Rom und Budapest, die Lage in Jugoslawien zuspitzen und einen Staatszerfall vorantreiben zu können. Hunderte Faschisten – darunter auch Tschernosemski – durchliefen in Ungarn und Italien Ausbildungslager. Das Resultat war eine Reihe von Anschlägen zu Beginn der 1930er Jahre in Jugoslawien. Nach den Morden in Marseille wurden die Camps zwar geschlossen, doch Mussolini hielt weiterhin seine schützende Hand über die Ustaša-Bewegung. Auch die IMRO pflegte gute Kontakte zum »Duce«.

Mit einem hatten sich die Attentäter und ihre Hintermänner indes verkalkuliert. Der Mord an Karađorđević löste keinen Aufstand aus; vielmehr reihten sich selbst die bürgerlichen Gegner des Königs geschockt unter den Trauernden ein.

Innere Widersprüche

Aleksandar Karađorđević, der als einer der Gründungsväter des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen gilt, übernahm 1921 von seinem Vater die Krone. Im selben Jahr wurde die Kommunistische Partei Jugoslawiens verboten, die bei den ersten Wahlen zwei Jahre zuvor die drittstärkste Kraft geworden war.

Jugoslawien war in den 1920er Jahren geprägt von inneren Widersprüchen. Ökonomisch ging es nicht voran, Armut und Hunger bestimmten das Leben der Arbeiter und Bauern. Außerdem regten sich nationalistische Bewegungen, die gegen die serbische Dominanz im Staat – verkörpert von der serbischen Adelsdynastie Karađorđević – mehr Rechte und Selbstbestimmung für ihre jeweilige ethnische Gruppe einforderten. Auch die in der Illegalität arbeitenden Kommunisten agitierten für die Befreiung der durch serbisches Kapital unterdrückten Völker.

Karađorđević reagierte mit Repression. 1928 wurden nach einer tödlichen Schießerei im Parlament in Belgrad die wenigen demokratischen Rechte geschleift. Der Regent stieg zum Diktator auf und benannte das Land in Königreich Jugoslawien um. Eine einheitliche Identität sollte den Tribalismus ersetzen. Doch das verstärkte die ethnischen Absetzbewegungen, woran auch Zugeständnisse nach dem Tod von Aleksandar Karađorđević und der Übergabe der Macht an Prinzregent Pavle nichts mehr ändern konnten.

Im Prozess nach dem Anschlag von Marseille blieben die Verstrickungen Italiens und Ungarns weitgehend außen vor. Frankreich wollte Rom auf seine Seite ziehen, um den Einfluss Nazideutschlands einzudämmen. Die deutschen Faschisten wiederum bauten ihre Beziehungen auf dem Balkan aus. Mussolini hielt unterdessen Ante Pavelić und dessen Ustaša-Bewegung in Bereitschaft. Deren Zeit war mit dem Überfall der faschistischen Achsenmächte 1941 auf Jugoslawien gekommen. Das Königreich wurde zerschlagen und unter den Nachbarländer aufgeteilt. In Kroatien, das Gebiete an Italien abtreten musste, wurde ein Marionettenregime unter Pavelić errichtet, das für Hunderttausende Morde verantwortlich war. Dessen Ende besiegelte der Sieg der von den Kommunisten geführten Partisanen. Es war zugleich die Geburt des zweiten, sozialistischen Jugoslawiens.

Krieg am Horizont?

Das Schicksal, das alle Diktatoren und auch viele andere Machthaber ereilt, hat mit König Alexander von Jugoslawien ein weiteres Opfer gefunden. Aber bei der gestrigen schrecklichen Tat in Marseille hat der Attentäter nicht nur sein Hauptopfer niedergestreckt, sondern auch – wie es scheint zufällig – den französischen Außenminister Barthou, zwei Zuschauer getötet und General Georges, Mitglied des französischen Kriegsrates, tödlich verwundet. So wahllos, so entschlossen, sein Ziel zu erreichen, war der Mörder. (…)

Das Werk, das König Alexander und M. Barthou in die Hand nehmen wollten, war oder wäre für ganz Europa von größter Bedeutung gewesen. Es ist nicht wahr, dass ein allgemeiner europäischer Krieg vor der Tür steht, aber es ist wahr, dass sich eine internationale Situation entwickelt, in der ein allgemeiner europäischer Krieg wieder möglich sein wird. Signore Mussolini spricht immer noch von Krieg und meint Frieden – denn Krieg wäre das Ende von Signore Mussolini –, und aufgrund der zunehmenden Aufrüstung Deutschlands, des völligen Zusammenbruchs der italienischen Balkanpolitik und des Versagens der faschistischen Finanzpolitik ist er viel entgegenkommender geworden, als er es früher war. (…)

Aus: The Manchester Guardian, 10.10.1934

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