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Aus: Ausgabe vom 08.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Der Tanz als Utopie

Joachim A. Lang zeigt mit »Cranko« einen Spielfilm über John Cranko und sein Stuttgarter Ballett
Von Gisela Sonnenburg
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Gelebter Traum: John Cranko (Sam Riley)

Ein sensibler Mann, in einen Anzug mit Hahnentrittmuster gewandet, sieht Stuttgart beim Landeanflug. Der Choreograph John Cranko reist 1961 kettenrauchend von London nach Deutschland. Und überzeugt die Schwaben im Nu mit seiner ernsthaften Art und seiner ausdrucksstarken Kunst. Aber dann beginnen im Film »Cranko« die Probleme des Künstlers, jenseits des stetig wachsenden Erfolgs. Dem Filmemacher Joachim A. Lang, der sich auch schon Bertolt Brecht filmtechnisch gewidmet hat, gelang eine fantastische Vermischung inneren Erlebens und äußerer Vorgänge.

Sam Riley spielt Cranko mit hingebungsvollem Schlafzimmerblick. Als Leitmotiv erscheinen seine Augen in Großaufnahme: Eine Gruppe Tänzer, sternförmig am Boden gruppiert, spiegelt sich darin. Dabei hatte Cranko auch anderes im Kopf. Noch während des Landeanflugs auf seine neue Heimat erinnert er sich an seine Kindheit in Südafrika: Während er drinnen mit selbstgebastelten Tänzerfiguren spielte, wurde draußen eine schwarze Frau ausgepeitscht.

Cranko legte seine südafrikanische Staatsbürgerschaft ab, um mit der Apartheid nichts mehr zu tun zu haben. Die Briten, die ihm zunächst einen Heimathafen boten, liebten ihn allerdings nicht genug. Als Cranko beim Sex mit einem Mann erwischt wurde, geriet er in Konflikte mit der Polizei. Sie waren der Grund für seinen Wechsel – der Film verschweigt das nicht.

»Ich glaube, man muss die Schattenseiten des Lebens sehen, um etwas Künstlerisches zu tun.« Cranko sinniert im Film oft über das Leben und die Kunst. Und träumt vom Ballett. Das Stuttgarter Opernhaus, malerisch vor dem Eckensee gelegen, erblickt er erstmals nachts. Das setzt seine Phantasie in Gang: Fortan durchziehen Tänze auf dem Opernvorplatz den Film.

Zum Glück macht das Stuttgarter Ballett mit. Das hervorragende Ensemble mit Stars wie Friedemann Vogel, Elisa Badenes, Jason Reilly, Rocio Aleman und Martí Fernández Paixà brillieren mit Choreographien von Cranko so elegisch wie poetisch. In Kostümen des Frühwerks »The Lady and the Fool« sitzen Tänzer auf der Parkbank, als wären sie einem Stummfilm entsprungen. In Leotards tanzen sie auch, was auf dem städtischen Areal surreal wirkt. Tanz als Utopie. Ausschnitte aus »Onegin« und »Romeo und Julia« ergänzen emotionale Szenen von den Proben. Cranko war kein einfacher, aber ein liebenswerter und in seiner Extravertiertheit verständlicher Mensch.

Die Beziehungen, die er zu seinen Tänzerinnen und Tänzern hatte, darunter Marcia Haydée und Egon Madsen, aber auch seine Männergeschichten, etwa mit einem Lkw-Fahrer, werden sinnlich ins Bild gebracht. Crankos große Liebe, ein junger Mann aus den besseren Kreisen, verließ ihn, auf Geheiß seiner Familie. Den Kummer ertränkte der Choreograph, und bald kam zum Alkoholproblem seine Tablettensucht.

Cranko residierte in der Kantine statt im Büro. Damals stieß das niemandem auf. Dass er sich zunehmend dafür interessierte, ein Ballett über eine Auschwitz-Überlebende zu kreieren (»Spuren« wurde sein letztes Stück), gefiel allerdings nicht allen. Die konservativen Sponsoren hingen vielmehr an Crankos sudetendeutscher »Babyballerina« Birgit Keil. Das verschweigt der Film und berichtet statt dessen fälschlich, es habe Buhrufe für »Spuren« gegeben. In Wahrheit wurde ein anderes Stück namens »Green«, das am selben Abend uraufgeführt wurde, ausgebuht.

In noch einem Punkt begeht der Film Geschichtsklitterung. Der Kritiker Horst Koegler, der 2003 in vorgerücktem Alter den »John Cranko Preis« erhielt, war ein profunder Kenner der Tanzszene. Er hat maßgeblich zu Crankos Wirken beigetragen. Dennoch stilisiert ihn der Film zu Crankos Erzfeind und täuscht vor, er habe immerzu bösartige Verrisse geschrieben. Sogar der Selbstmord des Musikers Kurt-Heinz Stolze, der für Cranko bedeutende Transkriptionen erstellte, wird haltlos als Folge schlechter Kritiken dargestellt. Dieser Hass auf die deutsche Kritik, während zugleich das Loblied des US-amerikanischen Kritikers Clive Barnes gesungen wird, schmälert die Verdienste des Films.

1973 starb John Cranko überraschend, keine 45 Jahre alt, im Flugzeug, das ihn aus den USA nach Deutschland bringen sollte. Eine Überdosis Schlafmittel löste den Tod aus. Damals gab es Gerüchte, es sei Selbstmord gewesen. Mord wird bis heute nur von wenigen hinter vorgehaltener Hand vermutet. Joachim A. Lang verzichtet zugunsten einer harmonischen Theateridylle ganz auf diese Möglichkeiten. Trotzdem gelang ein toller Tanzfilm.

»Cranko«, Regie: Joachim A. Lang, BRD 2024, 128 Min., bereits angelaufen

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