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Aus: Ausgabe vom 08.10.2024, Seite 12 / Thema
Soziale Bewegungen

Atomkraft? Nein Danke!

Vor 40 Jahren fuhr der erste Atommülltransport nach Gorleben. Eine kleine Geschichte der Anti-AKW-Bewegung
Von Bernd Langer
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Räumung der »Republik Freies Wendland« nahe Gorleben (4.6.1980)

Im Jahr 1977 wurde das Wendland, eine Region in Niedersachsen nahe der Grenze zur DDR, zum vorläufigen Standort für ein »Nukleares Entsorgungszentrum« erklärt. Bei der Gemeinde Gorleben sollte eine Wiederaufarbeitungsanlage und in einem Salzstock ein Endlager für Atommüll entstehen. Das traf auf den Widerstand der Anti-AKW-Bewegung.

Wie bei den meisten Bewegungen handelte es sich auch hier um einen Sammelbegriff. Das Thema ließ das Zusammenwirken von Akteuren mit sehr unterschiedlicher politischer Ausrichtung und Motivation zu, so dass selbst Rechtsradikale versuchten, sich einzumischen. Das konnte weitgehend verhindert werden. Es entstand aber keine linke Bewegung im altbekannten Sinne, und die kommunistischen Parteien hatten so ihre Probleme. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) war gegen Atomkraft im Westen, nicht aber in der DDR und der Sowjetunion. Auch die maoistischen K-Gruppen waren nicht gegen Atomkraftwerke in China. Für AKW-Gegner waren das schwer nachvollziehbare Standpunkte.

In der ersten Phase der Bewegung ging es vor allem um Bauplatzbesetzungen. Als Beispiel dafür galt Wyhl am Kaiserstuhl in Baden-Württemberg. Dort gelang es im Jahr 1975, einen Bauplatz zu besetzen und so lange zu halten, bis ein geplantes AKW verhindert war. Die bodenständige Landbevölkerung agierte dabei zusammen mit Aktivistinnen und Aktivisten von außerhalb. Hinsichtlich der politischen Ausrichtung ging es dabei munter durcheinander, einzig das gemeinsame Ziel einte.

»Albrecht, wir kommen!«

Den Erfolg von Wyhl wollte man am Bauplatz des AKW Brokdorf unweit von Hamburg wiederholen. Nach einer Großkundgebung am 30. Oktober 1976 konnte der wenig gesicherte Bauplatz besetzt werden, wurde aber am gleichen Abend wieder von der Polizei geräumt. Von nun an wurde das Areal mit hohen Stacheldrahtzäunen und einem Wassergraben umgeben. Unter dem Motto »Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden« folgten zwei Demonstrationen am 13. November 1976 und 19. Februar 1977. Es beteiligen sich jeweils 20.000 Menschen aus der ganzen Bundesrepublik. Versuche von einigen hundert entschlossenen Aktivisten, die Absperrungen zu überwinden, führten zu heftigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Werkschutz. Es gelang nicht, auf den Bauplatz zu kommen, doch die Auseinandersetzungen ließen Brokdorf zu einem Begriff des Anti-AKW-Widerstands werden. Am 19. März 1977 demonstrierten ebenfalls 20.000 Menschen am AKW-Bauplatz in Grohnde bei Hameln, zwischen Göttingen und Hannover. Der folgende Versuch der Bauplatzbesetzung stellte an Militanz alles bislang Dagewesene in den Schatten.

Verantwortlich für die Auseinandersetzungen machten Politiker und Medien die maoistischen K-Gruppen. Nach den Ausschreitungen in Gohnde kam es zu einem Verbotsantrag gegen den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), die KPD und die KPD/ML. Auch gegen den Kommunistischen Bund (KB), der keinen Parteienstatus besaß, wurden juristische Schritte erwogen. Tatsächlich aber hatten längst undogmatische Gruppen das Heft des Handelns in der Hand und die K-Gruppen ihren Zenit überschritten. Aus der Mischung von undogmatischen Linken und linksbürgerlichem Milieu kamen die Impulse, die später zur Gründung der Partei Die Grünen im Jahr 1980 führten.

Der Staat schien die Atomkraft mit allen Mitteln durchsetzen zu wollen. Polizeistaatliche Aufrüstung war die Folge, und der Begriff des »Atomstaates« als Pseudonym für einen faschistoiden Überwachungsstaat kam auf. Doch wurde zwischen 1977 und 1981 kein weiteres AKW genehmigt und keines in Betrieb genommen.

Neben Massendemonstrationen machten Anschläge den Befürwortern des Ausbaus der Atomenergie zu schaffen. Die Masse der Bewegung stellte aber zweifellos der von den Militanten abwertend als »Ökos« bezeichnete »gewaltfreie« Flügel. Es war auch dieser Teil der Bewegung, der am 12. März 1977 zu einer ersten Großkundgebung in Gorleben aufrief, zu der sich etwa 20.000 Menschen versammelten.

Mit Beginn der Erkundungsbohrungen im Jahr 1979 rief die »Bäuerliche Notgemeinschaft«, bestehend aus 350 Landwirten aus dem Wendland, zu einem Treck nach Hannover auf. Am 25. März starteten die Traktoren in Gorleben und sollten am 31. März in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover ankommen. Parallel lief eine bundesweite Mobilisierung unter dem Motto »Albrecht, wir kommen!«. Der Slogan bezog sich auf die niedersächsische Landesregierung unter Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU).

Als die Landwirte bereits auf ihren Traktoren zwischen dem Wendland und Hannover unterwegs waren, ereignete sich am 28. März 1979 der Reaktorunfall im US-Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg. Die Risiken der Atomtechnologie standen der Öffentlichkeit damit deutlich vor Augen, die Mobilisierung bekam ungeahnten Schwung. In Hannover kamen 100.000 Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen. Ein überwältigender Erfolg. Auf einem ihrer Wagen brachten die Bauern einen Findling aus dem Wendland mit. Seine Inschrift lautete »Gorleben ist überall-Treck 1979«. Der große Stein wurde auf dem Raschplatz abgeladen, wo er sich bis heute befindet.

Beeindruckt von den Menschenmassen erklärte Ministerpräsident Albrecht eine Woche später, dass eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage im Wendland politisch nicht durchzusetzen sei. Gorleben sollte aber Standort für zwei nukleare Zwischenlager und die sogenannte Pilotkonditionierungsanlage werden. Den Genehmigungsantrag zog die Landesregierung also nicht zurück. Damit blieb es beim Bau eines Zwischenlagers, wo Castorbehälter mit hochradioaktivem Material gelagert werden sollten. Außerdem entstand eine Halle für Behälter mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen. Auch ging die Überprüfung des Gorlebener Salzstocks auf seine Eignung als Endlager weiter.

»Republik Freies Wendland«

Im Wendland gab es zwar etliche Aktivisten, aber insgesamt war der Widerstand noch nicht sonderlich verankert. Das wollte eine neue Initiative der AKW-Gegner ändern. Am 3. Mai 1980 demonstrierten 5.000 Menschen zur etwa fünf Kilometer von Gorleben entfernten Tiefbohrstelle 1004. Dort riefen sie die »Republik Freies Wendland« aus. Man definierte die gerodete Fläche zum exterritorialen Gebiet. Einige hundert Menschen errichteten ein Hüttendorf mit symbolischer Grenzkontrollstelle. Wer wollte, konnte sich hier gegen eine Gebühr von zehn Mark einen Pass mit Stempel ausstellen lassen. Die »Republik Freies Wendland« entwickelte sich schnell zu einem bundesweiten Anlaufpunkt. In den folgenden Wochen entstanden mehr als hundert Hütten, eine provisorische Kirche – wobei der Pfarrer von seiner Kirche Predigtverbot erhielt – und zwei große Holztürme. Ab dem 18. Mai sendete das Radio Freies Wendland von einem Turm auf dem Gelände. An den Wochenenden strömten Tausende Sympathisanten und Schaulustige zum Dorf und erweiterten es um eine kleine Zeltstadt.

Der Staatsapparat wollte sich das nicht länger anschauen. Nach 33 Tagen erfolgte die Räumung. Im Morgengrauen des 4. Juni 1980 umstellten mindestens 7.000 Polizisten (je nach Quelle gibt es Angaben bis zu 15.000) und Bundesgrenzschutzbeamte das Hüttendorf mit Bulldozern und Panzerspähwagen. Es war der bis dato größte, nahezu militärische Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD. Die Einsatzkräfte in den Panzerfahrzeugen hatten ihre Gesichter schwarz angemalt, am Himmel kreisten Hubschrauber.

Nach einer letzten Aufforderung, den Platz zu verlassen, begann die Räumung. Ohne aktive Gegenwehr wurden die Besetzer weggezerrt. Als letztes fielen die Türme. Gleich nach der Räumung wurden die Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Fotos vom Polizeibulldozer, der die improvisierte Kirche einriss, sorgten für besondere Empörung. Doch sollte nicht übergangen werden, dass nach wie vor große Teile der Bevölkerung im Wendland nichts gegen das Zwischenlager einzuwenden hatten.

Der Bau des Zwischenlagers bedeutet für die dünn besiedelte und strukturschwache Region Infrastrukturhilfe in Millionenhöhe. Ohne Zögern genehmigten der Kreistag der Samtgemeinde Gartow und die Gemeinde Gorleben im Sommer 1981 fast einstimmig den Flächennutzungs- und den Bebauungsplan. 15 Hektar wurden für den Bau der Anlage veranschlagt. Die Fläche lag mitten in einem Landschaftsschutzgebiet. Kurz nach der Umzäunung des Geländes erhielten die Kommunen eine Zuwendung von fünf Millionen Mark, anschließend jährlich eine Million Mark. Die insgesamt knapp 2.000 Einwände von Bürgern blieben unberücksichtigt. Die Bauarbeiten begannen am 26. Januar 1982.

Zu diesem Zeitpunkt galt die Parole »Gorleben ist überall!« längst bundesweit. So sollte am 4. September 1982 unter dem Motto »Tanz auf dem Vulkan« versucht werden, den Bauplatz zu besetzen. Ein Musikfestival, das dem Slogan seinen tieferen Sinn gab, war Sammelpunkt für die meisten der 10.000 Demonstranten.

Der Bauplatz war mit Zäunen und Stacheldrahtrollen verbarrikadiert, dahinter stand eine Polizeiarmee mit Wasserwerfern bereit. Ungeachtet des massiven Polizeiaufgebots gingen Autonome die Absperrungen mit Bolzenschneidern an. Die Polizei konnte im umliegenden Wald nur in aufgelöster Formation vorrücken, was den militanten AKW-Gegnern Vorteile brachte. Stahl- und Glaskugeln von Zwillen, Steine und Baumstämme prasselten auf Uniformierten ein. Auf der Zufahrtsstraße türmten sich Baumstämme, während die Asphaltdecke aufgehakt und Gräben ausgehoben wurden. Doch niemand gelangte auf die Baustelle. Schließlich rückte die Polizei mit Wasserwerfern vom Haupteingang des Bauplatzes aus vor. Einige Unerschrockene hockten sich auf die Straße, um die Wasserwerfer zu blockieren. An diesem Tag hatte ein neuer, größerer Fahrzeugtyp Premiere. Sein scharfer Wasserstrahl führte zu Prellungen, Knochenbrüchen und Augenverletzungen. Später wurde dieser Einsatz im niedersächsischen Landtag thematisiert, und Klagen einiger Schwerverletzter gingen bis vor das Bundesverfassungsgericht.

In dieser Zeit gab es Pläne, den Schacht Konrad bei Salzgitter als Endlager zu nutzen. Salzgitter liegt ebenfalls in Niedersachsen. Am 30. Oktober 1982 wurde zum Protest aufgerufen. Allerdings mit drei unterschiedlichen Aufrufen, was die Zerrissenheit der Bewegung dokumentierte. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Teilen der mehr als 8.000 Demonstranten und der Polizei. Als »Schlacht am Schacht« blieb dieser Tag in Erinnerung.

In Gorleben wurde derweil weitergebaut. Im Jahr 1983 war die oberirdische Betonhalle für die Transportbehälter fertiggestellt. Bis ein Endlager zur Verfügung stand, sollte hier der Atommüll in den nächsten Jahrzehnten gelagert werden.

Für den ersten Atommülltransport nach Gorleben war das Jahr 1984 vorgesehen. Deshalb riefen verschiedene Gruppen vom 22. bis 24. Februar zu »Aktionstagen gegen Atommülltransporte und Kriminalisierung« auf. Im Rahmen dieser Aktionstage wurden Telefonmasten umgesägt, Bahngleise unterhöhlt und Straßen mit Barrikaden blockiert. Es kam auch zu Anschlägen. So sprengte die Gruppe »Autonome Revolutionäre Aktion« in der Nacht zum 23. April 1984 einen Strommast neben dem AKW Brokdorf.

»Tag X«

Am 30. April 1984 probten dann 3.000 Menschen den »Tag X«, den Tag, an dem der erste Atommülltransport ins Wendland kommen sollte. Aufgerufen war zur Wendlandblockade. Trotz des Einsatzes von 3.000 Polizisten und mehr als 700 Festnahmen gelang es, die fünf Hauptstraßen der Region bis zu zwölf Stunden zu blockieren. Die Bewegung hatte ein Zeichen gesetzt. Dann kehrte einige Monate Ruhe ein. In dieser Zeit wurde bundesweit für den tatsächlichen »Tag X« mobilisiert.

Das Motiv des Mobilisierungsplakates zeigte ein großes X mit dem Foto einer Straßensperre der Wendlandblockade. Aus dem Geäst ragt ein Vorfahrtszeichen mit dem Bundesstraßenschild 191. Die B 191 war eine direkte Zufahrtsstraße zum geplanten Endlager und führt von Uelzen nach Dannenberg.

Am 20. Juli 1984 kam es aufgrund des »Tag X«-Plakates im Kreis Lüchow-Dannenberg und im Raum Göttingen zu ersten Ermittlungen. Zwei Personen wurden festgenommen, weil in ihrem Auto 55 »Tag X«-Plakate entdeckt worden waren. Es wurde ein Verfahren nach Paragraph 111 StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten) in Tateinheit mit Paragraph 315 b StGB (Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr) eingeleitet. Als nächstes schlug die Staatsmacht in Bamberg zu. Hier wurden vier Personen beim Plakatieren des »Tag X«-Plakates verhaftet. Gegen sie eröffnete die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Bamberg ebenfalls ein Ermittlungsverfahren. Die Göttinger Staatsanwaltschaft wurde um Amtshilfe gebeten, denn auf dem Plakat tauchte im Impressum der Name der Göttinger Druckerei Aktivdruck auf. Am 3. August 1984 wurde ein Verfahren gegen zwei Drucker in Göttingen eingeleitet.

Mit dem Ziel, weiteres belastendes Material in die Hände zu bekommen, kam es am 28. August in Göttingen zu einer großen Polizeiaktion. Die Druckerei, die Wohnung eines Druckers und das Büro des »Arbeitskreises gegen Atomenergie« wurden durchsucht. Insgesamt 3.000 »Tag X«-Plakate und eine Druckplatte wurden beschlagnahmt.

Neben der Druckerei konzentrierten sich die Ermittlungen auf die Nummer 40 (Sommer 1984) der Zeitschrift Atom-Express. Der abgedruckte Bekennerbrief der »Autonomen revolutionären Aktion« zum erwähnten Sprengstoffanschlag reichte aus, um gegen die Zeitung nicht nur nach Paragraph 111 StGB, sondern auch nach Paragraph 140 (Belohnung und Billigung von Straftaten) zu ermitteln. Erst Jahre später sollten sämtliche Verfahren eingestellt werden; das gegen die Drucker erst nach Zahlung einer Geldbuße.

Allein schon durch die Wendlandblockade und die Kriminalisierung des »Tag X«-Plakates blieb der geplante Atommülltransport im Sommer 1984 Thema, und je mehr Zeit verging, desto mehr stieg die Nervosität. Das führte zu einer Panne. Am 20. September wurde der »Tag X« durch einen Fehlalarm ausgelöst. Um so etwas in Zukunft zu vermeiden, sollten verlässliche Beobachtungsposten organisiert werden. Das bekam auch die Polizei mit, die wenige Tage später, am tatsächlichen »Tag X«, einen Beobachter festnahm, bevor dieser melden konnte, dass ein Transporter von »Transnuclear« vom AKW Stade losgefahren war. Dadurch verzögerte sich die Mobilisierung.

Beladen mit 210 Zweihundert-Liter-Fässern machte sich der Transport mit schwachradioaktivem Müll morgens auf den Weg. Der Atommülltransport fuhr ausschließlich auf abgeriegelten Nebenstraßen. Zusätzlich sicherten 50 Mannschaftswagen mit insgesamt 2.000 Polizisten den reibungslosen Ablauf. Zwar gab es an einigen Stellen Versuche, die Straße zu blockieren, doch zeigte sich der Widerstand überrumpelt. Ohne Verzögerung traf der Transport am 8. Oktober in Gorleben ein. Da verbreitete sich am Abend das Gerücht, dass am nächsten Tag ein zweiter Transport stattfinden sollte. Tatsächlich starteten am 9. Oktober um 9.45 Uhr in Stade Sattelschlepper mit zehn Containern, in denen sich noch einmal 296 Fässer befanden.

Nun zeigten sich die Atomkraftgegner besser vorbereitet. Es gelang, den Konvoi immer wieder zu stoppen, weil Menschen Bäume und brennende Strohballen auf die Straße warfen. Mit Räumfahrzeugen und Wasserwerfern bahnte die Polizei den Weg. Trotz aller Blockaden erreichte auch dieser Transport am Abend das Zwischenlager. Die Polizei sprach von wenigen hundert eingesetzten Beamten, tatsächlich dürften es mehrere tausend gewesen sein. Allein 18 Hubschrauber unterstützten den Polizeieinsatz.

An diesen beiden Tagen gab es mehr als 90 Festnahmen, und in den folgenden Tagen kam es zu 20 Hausdurchsuchungen. Gegen mindestens 15 Personen wurden Verfahren nach Paragraph 129 und 129 a StGB (Bildung einer kriminellen bzw. einer terroristischen Vereinigung) eingeleitet.

Auch nach dem »Tag X« gingen die Aktionen gegen das Endlager weiter. Allein im Jahr 1984 belief sich der finanzielle Schaden, der durch Anschläge verursacht wurde, auf über vier Millionen Mark.

Auf der Suche nach dem Standort für eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) fiel 1985 die Entscheidung für das bayrische Wackersdorf. Wie in Gorleben traf dies sofort auf Widerstand. In dieser Phase kam es am 26. April 1986 in Tschernobyl zum Super-GAU (Größter anzunehmender Unfall). Die Reaktorkatastrophe führte zu einem bundesweiten Aufleben der Anti-AKW-Bewegung. Es gab eine Welle von Anschlägen auf Strommasten, die als »Mastensterben« zum Begriff wurden, und in Wackersdorf eskalierten die Auseinandersetzungen am Bauzaun. Die Konfrontationen zu Pfingsten 1986 stellten alles in den Schatten, was es bislang gegeben hatte. Ein Demonstrant und ein Polizist kamen ums Leben. Politisch war die WAA auch in Bayern nicht durchsetzbar. In der Bundesrepublik existiert bis heute keine WAA. Seit 1973 wurden Transportbehälter zur Zwischenlagerung in die Wiederaufbereitungsanlagen La Hague in Frankreich und Sellafield in England gebracht.

Der erste Castortransport

Am Montag, den 24. April 1995, verließ der erste Castortransport (cask for storage and transport of radioactive material, Behälter zur Aufbewahrung und zum Transport radioaktiven Materials) gegen 20.15 Uhr das badische Atomkraftwerk Philippsburg in Richtung des Zwischenlagers Gorleben. Von 6.500 Polizisten gesichert, sollte die radioaktive Fracht per Bahn über Mannheim, Gießen, Kassel und Göttingen den Verladebahnhof Dannenberg erreichen. Dort wollte man am nächsten Morgen um zehn Uhr ankommen, um den 120 Tonnen schweren Castorbehälter mit neun abgebrannten Brennelementen für den Transport auf der Straße umzuladen. Ziel war, das Zwischenlager gegen 14 Uhr zu erreichen.

Bereits in den Tagen vor dem Transport hatte es Proteste gegeben. In Göttingen besetzten am 21. April Demonstranten die Bahngleise. Als der Transport dann drei Tage später durch die Stadt rollte, demonstrierten erneut 2.000 Menschen. Eine Besetzung der Gleise konnte aber nicht mehr durchgeführt werden. Die Polizei zeigte sich vorbereitet. Es gelang jedoch mit einer Bombenattrappe, den Zugverkehr bei Göttingen für eine Stunde lahmzulegen.

Auch in Dannenberg protestierten am 21. April 3.000 Menschen gegen den anstehenden Transport. Die folgenden Tage waren von Scharmützeln zwischen Polizei und Aktivisten im Wald an der Bahnstrecke im Wendland gekennzeichnet.

Bereits als der Transport am 24. April in ­Philippsburg startete, begannen die Gegenaktionen. Versuche, die Gleise zu besetzen, konnten schnell von der Polizei beendet werden, aber Anschläge auf Bahnstrecken im Rhein-Main-Gebiet und in Niedersachsen brachten den Bahnverkehr teilweise zum Erliegen. Atomkraftgegner hatten Wurfanker auf Oberleitungen geworfen, die von nachfolgenden Zügen heruntergerissen wurden. Rund 100.000 Bahnreisende waren von der Sabotage betroffen, es entstand Millionenschaden. Für die Reparatur brauchte es Stunden.

Anschläge gab es in der Nacht zum 24. April auch auf die Bahnstrecken Strecken Uelzen–Danneberg, Buchholz–Maschen und Buchholz–Harburg. Teilweise war der Zugverkehr durch untergrabene Schienen sabotiert oder durch Wurfanker auf den Oberleitungen. Als ein Zug in einen dieser Anker raste, riss er den Fahrdraht auf einer Strecke von über zweieinhalb Kilometern herunter. Im Bahnhof Hitzacker errichteten Demonstranten Barrikaden auf den Schienen, einige steckten einen Eisenbahnwaggon in Brand.

Am Verladebahnhof in Dannenberg versuchten Atomkraftgegner, ein neues Hüttendorf mit Namen »Verladenix« zu errichten. Es gab Versuche, die Bahnstrecke mit Betonteilen und Sitzblockaden unpassierbar zu machen. Doch all das konnte den Transport nicht aufhalten. Schließlich standen die letzten Kilometer auf der Straße bevor. Hier gab es Sitzblocken, Bauern mit ihren Traktoren stellten sich quer. Teilweise kam der Transport nur im Schrittempo voran, aber er kam voran. Polizei und Bundesgrenzschutz räumten die Sitzblockaden und bahnten mit Schlagstöcken und Wasserwerfern den Weg.

Der Transport war schließlich nach 21 Stunden durchgekommen. Aber der politische Preis war hoch, vor allem weil noch zwölf weitere Castortransporte folgen sollten, die alle ähnlich abliefen. Im Wendland herrschte permanenter Ausnahmezustand, und im gesamten Bundesgebiet wuchs die Unterstützung. Ohne Tausende von Polizisten waren die Transporte nicht durchzusetzen. Vom Dauerthema Atomkraft profitierten Die Grünen.

Der Ausstieg

Im Jahr 2000 handelte die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) mit der Energiewirtschaft den »Atomkonsens« aus. Es wurden die Grundlagen eines Ausstiegs aus der Kernenergie vereinbart. Der Bundestag beschloss im April 2002 das »Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität«, in dem erstmals der Ausstieg aus der Atomenergie entschieden wurde.

Aber nach der Bundestagswahl 2009 bildeten CDU und FDP die Bundesregierung. Die schwarz-gelbe Koalition unter Angela Merkel (CDU) verfügte eine Laufzeitverlängerung für die noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke. Die letzten Meiler sollten erst 2040 vom Netz gehen.

Alles änderte sich schließlich mit dem 11. März 2011, der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Ein durch ein Seebeben verursachter Tsunami traf auf das an der japanischen Küste errichtete Atomkraftwerk. In einigen Reaktorblöcken führte das zur Kernschmelze, und große Mengen radioaktiven Materials wurden freigesetzt. Die Katastrophe führte in vielen Ländern, allen voran in der Bundesrepublik, zu einem Stimmungsumschwung. Am 30. Juni 2011 beschloss der Bundestag, dass die letzten Reaktoren bis Ende 2022 abgeschaltet werden sollten. Acht Atomkraftwerke wurden vom Netz genommen.

Der letzte Castortransport Ende November 2011 aus dem nordfranzösischen Le Havre war allerdings bereits beschlossen und sollte noch stattfinden, woraufhin die Anti-AKW-Bewegung einen heißen Herbst ankündigte. Tatsächlich war der Widerstand gegen den 13. und letzten Castortransport so heftig wie nie zuvor. Mehr als 100 Blockaden mit Tausenden Menschen verzögerten die Weiterfahrt. Am Ende brauchte der Zug 126 Stunden, um an sein Ziel zu gelangen. Nie hatte es so lange gedauert, nie waren die Kosten so hoch gewesen. Auf etwa 33,5 Millionen Euro bezifferte Innenminister Uwe Schünemann (CDU) die Belastungen für die Landeskasse.

Im September 2020 gab die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) bekannt, dass der Salzstock in Gorleben nicht als Standort für ein deutsches Endlager für hochradioaktiven Atommüll infrage käme. Ein Jahr später wurde das Erkundungsbergwerk in Gorleben endgültig stillgelegt, und der Rückbau begann.

Mit dem 15. April 2023 endete die Nutzung der Atomkraft in der Bundesrepublik. Indes bleibt die Frage nach einem Endlager ungeklärt. 21 Castorbehälter mit hochradioaktiven, verglasten Abfällen aus deutschen Atomkraftwerken stehen noch in den Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien. Für diesen und anderen Atommüll sucht die Bundesregierung weiterhin ein Endlager in Deutschland. Bis zum Jahr 2031 sollte diese Suche abgeschlossen sein. Aber Ende 2022 erklärte das Bundesumweltministerium, dass dieser Termin wahrscheinlich nicht eingehalten werden kann. Mit einer Inbetriebnahme wird mittlerweile nicht mehr vor dem Jahr 2074 gerechnet.

Bernd Langer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. Januar 2024 über die Identitären: Hip und Nazi.

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