Ein letzter Versuch
Von Frederic SchnattererDie geplante größte Freihandelszone der Welt, sie zuckt noch. Am Mittwoch vergangener Woche bekräftigte Bundeskanzler Olaf Scholz das Interesse Deutschlands daran, die Gespräche zwischen der Europäischen Union und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur schnell abzuschließen. Vor dem Bundesverband des Deutschen Großhandels in Berlin betonte er, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten das Abkommen »politisch unterstützen«. Am selben Tag war er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zusammengekommen, der das Abkommen in seiner jetzigen Form ablehnt.
Zudem griff Scholz die EU-Kommission an. Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten die Zuständigkeit für die Handelspolitik nicht auf die EU-Ebene übertragen, nur um dann zusehen zu müssen, dass die angestrebten Abkommen nicht zustande kämen. Gerade »in der aktuellen geopolitischen Lage« sei es »inakzeptabel«, dass Brüssel keine neuen Freihandelsabkommen schließe. »Auf den letzten Metern der Verhandlungen brauchen wir Pragmatismus und Flexibilität von allen Seiten, denn das Abkommen mit dem Mercosur ist für die Diversifizierung und Stärkung der Widerstandsfähigkeit unserer Wirtschaft unerlässlich.«
Noch im Mai hatte der damalige Brüsseler Verhandlungsführer für die Gespräche zwischen EU und Mercosur, Rupert Schlegelmilch, gegenüber der brasilianischen Tageszeitung Folha de S. Paulo erklärt, die Unterzeichnung des Abkommens stehe kurz bevor. Nur die Wahlen zum EU-Parlament wolle man noch abwarten, dann könne endlich Bewegung in die Sache kommen. Jetzt, vier Monate nach der Wahl, sieht es jedoch nicht so aus, als würde das seit mehr als 25 Jahren verhandelte Abkommen bald unterzeichnet.
Am Montag vergangener Woche vermeldete das Handelsblatt sogar, die Vereinbarung stehe »vor dem Aus«. In ihrer Einschätzung stützt sich die Tageszeitung auf die Aussagen »mehrerer Diplomaten in Brüssel«. Die machen vor allem Frankreich für das womöglich endgültige Scheitern der Verhandlungen verantwortlich. Der Widerstand in Paris sei »zuletzt eher größer als kleiner geworden«. Dazu trage auch die neue Regierung unter Premier Michel Barnier bei, die auf die Tolerierung des eher protektionistisch ausgerichteten Rassemblement National von Marine Le Pen angewiesen sei.
Dass besonders der französische Agrarsektor unter dem Abkommen in seiner jetzigen Form leiden würde, ist kein Geheimnis. Seit Jahren stellen sich Landwirte und Agrarkonzerne gegen die Ratifizierung des eigentlich seit Juni 2019 vorliegenden Vertragstexts. Damit würde eine Freihandelszone mit rund 770 Millionen Menschen in der EU sowie den Mercosur-Staaten Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien entstehen. Laut derzeitigem Stand könnten die Mercosur-Staaten 93 Prozent ihrer Ausfuhren in die EU zollfrei abwickeln. Besonders attraktiv sind für sie für Produkte wie Zucker, Rindfleisch, Geflügel oder Ethanol. Auch andere europäische Länder wie Polen, Österreich oder Irland, die wie Frankreich über einen starken Agrarsektor verfügen, fürchten die Konkurrenz durch günstige landwirtschaftliche Produkte aus Südamerika.
Die deutsche Industrie hingegen wäre hauptsächliche Nutznießerin des Abkommens. Laut aktuellem Vertragstext würden in der entstehenden Freihandelszone die Zölle auf 91 Prozent aller Exporte aus der EU in die Länder des Mercosur abgeschafft. Besonders für die Auto-, Maschinen- und Chemieindustrie brächte das große Vorteile. Entsprechend drängen die großen Wirtschaftsverbände wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer seit Jahren auf eine baldige Ratifizierung.
Zuletzt hatte es Fortschritte bei Nachverhandlungen über »strittige Themen« gegeben, berichtete das Handelsblatt Anfang September. Als solche gelten insbesondere die Bereiche Umwelt und öffentliches Beschaffungswesen. Über den Inhalt wurden keine Details bekannt. Allerdings hieß es aus dem brasilianischen Außenministerium, wo die Gespräche stattgefunden hatten, dass in naher Zukunft eine weitere Verhandlungsrunde geplant sei.
Der Ball, das machte auch der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva erst kürzlich deutlich, liegt im Feld der EU. Am Rande der UN-Generalversammlung, die am 22. und 23. September in New York stattfand, traf sich Lula – ebenso wie seine Amtskollegen Javier Milei aus Argentinien und Santiago Peña aus Paraguay – mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Im Anschluss zitierten ihn mehrere Medien mit den Worten: »Ich war noch nie so optimistisch, was das EU-Mercosur-Abkommen angeht. Ich habe Ursula von der Leyen gesagt, dass Brasilien bereit ist, das Abkommen zu unterzeichnen.« Die Verantwortung liege jetzt allein bei der Europäischen Union, fügte er hinzu.
Noch vor Ende des Jahres, so die ursprüngliche Idee, sollte das Abkommen unterzeichnet werden. Ein möglicher Termin, den Lula erst kürzlich erneut nannte, wäre der G20-Gipfel, der im November in Rio de Janeiro stattfinden wird. Eine Alternative, so der Staatschef, könnte ein »Treffen mit Champagner am Sitz der Europäischen Union« sein. Auch wenn noch in dieser Woche Gespräche zwischen Unterhändlern von EU und Mercosur stattfinden, deutet derzeit allerdings nicht viel darauf hin, dass in Brüssel bereits die Flaschen kaltgestellt werden müssen.
Dokumentiert: Erklärung: »Stopp EU-Mercosur«
Seit Beginn der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Europäischer Union und Mercosur üben soziale Bewegungen, linke Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen auf beiden Seiten des Atlantik Kritik an dessen Inhalt und den erwarteten Folgen. So auch der Zusammenschluss »Stop EU-Mercosur Coalition«, dem mehr als 400 Organisationen und soziale Bewegungsorganisationen aus Europa und Südamerika angehören.
In einer Erklärung der Allianz, die auf der Webseite stopeumercosur.org einsehbar ist, heißt es:
»(…) Das EU-Mercosur-Abkommen gehört zu einer überholten Handelspolitik des 20. Jahrhunderts, das den Planeten zerstört: Es dient Konzerninteressen auf Kosten der planetarischen Grenzen, unhaltbarer sozialer Ungleichheiten und des Tierschutzes. (…) Das Freihandelsabkommen wird die Zerstörung und den Zusammenbruch der Artenvielfalt des Amazonas, des Cerrado und des Gran Chaco durch die Ausweitung von Viehzucht- und Ethanolquoten weiter fördern und ein extraktives Landwirtschaftsmodell fortführen, das durch Überweidung, die Ausweitung von Mastbetrieben und chemisch intensive Monokulturen gekennzeichnet ist. Es wäre ein verheerendes politisches Signal, dass schreckliche Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Lieferketten, die in diesem Abkommen angelegt sind, akzeptabel sind.
Das Handelsabkommen wird sowohl in Europa als auch in Südamerika Lebensgrundlagen zerstören und Kleinbauernfamilien und Arbeiter in die Knie zwingen. Es erhöht den Handel mit Agrarrohstoffen auf der einen und den Handel mit umweltschädlichen Autos auf der anderen Seite, und stellt daher eine unmittelbare Bedrohung für Arbeitsplätze in den Mercosur-Ländern dar. Es führt die Pfadabhängigkeit der südamerikanischen Volkswirtschaften als billige Exporteure von Rohstoffen fort (…)« (fres)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard H. aus Magdeburg (9. Oktober 2024 um 19:23 Uhr)»Mit dem Freihandelsabkommen könnten die Mercosur-Staaten 93 Prozent ihrer Ausfuhren in die EU zollfrei abwickeln. Besonders attraktiv sind Produkte wie Zucker, Rindfleisch, Geflügel oder Ethanol. EU-Länder wie Polen, Österreich oder Irland, die wie Frankreich über einen starken Agrarsektor verfügen, fürchten die Konkurrenz durch günstige landwirtschaftliche Produkte aus Südamerika.« Bemerkenswert am von der EU angestrebten Freihandelsabkommen ist, würde das Abkommen in Kraft treten, dass es zu einer noch schnelleren Zerstörung von Natur und Klima beitragen würde. Denn es sind eben diese Produkte, wie insbesondere Zucker, Rindfleisch, Geflügel, Ethanol und Soja, welche zu ihrer Erzeugung die Böden des Tropischen Regenwaldes (TR) nutzen, um z. B. zunächst als Zuckerrohr oder Soja angebaut zu werden, um anschließend weiter zu Zucker, Ethanol oder Sojaschrot verarbeitet zu werden oder um Rinderherden auf abgebrannten Flächen des TR weiden zu lassen und anschließend als Rindfleisch nach Europa zu exportieren. Dazu sollte man wissen, dass in Brasilien in den letzten 20 Jahren jährlich rd. 4 Mio. ha TR eben für die Erzeugung vorgenannter Produkte abgebrannt bzw. abgeholzt worden sind. Weiterhin sollte man dabei bedenken, dass auf einem ha TR sich rd. 500 Tonnen (t) Pflanzenmasse befinden, welche insgesamt einen Kohlenstoffgehalt (C) von rd. 40 % also von 200 t aufweist. Beim Abbrennen des TR wird demnach die Menge an C mit Sauerstoff zu CO2 oxidiert. Bei einem Mol-Verhältnis von CO2 zu C von 3,6 (stöchiometrisch) ergibt sich aus der Verbrennung von 200 t C/ha TR eine Menge von 720 t CO2/ha TR. Mit Bezug auf abgebrannte Flächen TR von 4 Mio. ha/a ergibt dies eine Menge von 2.880.000.000 t CO2 pro Jahr. Fazit: Nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens würde ein noch stärkerer Anreiz gegeben sein, noch größere Flächen TR/a abzubrennen, verbunden mit dem Ergebnis noch größere Mengen CO2 als bisher zu emittieren und dem Klima global noch größeren Schaden zuzufügen.
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