Ein Jahr Kriegsverbrechen
Von Jakob ReimannDie Geschichte Gazas der letzten zwölf Monate ist eine Geschichte von Kriegsverbrechen. In einem Jahr Krieg wurden 41.909 Menschen getötet, so die Angaben palästinensischer Behörden. Davon sind über zwei Drittel Frauen und Kinder, was auf eine wahllose Bombardierung hinweist, die keinen Unterschied zwischen zivilen und militärischen Zielen macht. Über zehntausend Tote mehr werden unter den Trümmern vermutet. Zusätzlich wurden 97.303 Menschen verletzt, wovon mindestens ein Viertel »lebensverändernde Verletzungen« erlitten habe, wie aus einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervorgeht. Dazu zählen etwa großflächige Verbrennungen, Lähmungen oder Hirnschäden. Tausende Gliedmaßen mussten amputiert werden. In den ersten Monaten des Krieges verloren jeden Tag 13 Kinder eines oder beide Beine.
Eine ausreichende Versorgung der Verletzten gibt es in Gaza schon lange nicht mehr. Im Zuge systematischer Bombardierungen durch israelische Kampfjets, Drohnen und Artillerie wurde nahezu jede medizinische Einrichtung der Küstenenklave beschädigt oder zerstört. 34 Krankenhäuser und 80 Gesundheitszentren mussten außer Betrieb gesetzt werden, nur wenige Einrichtungen sind überhaupt noch operabel. Hinzu kommen mindestens 131 Krankenwagen, die bombardiert, und 986 Pflegekräfte und Ärzte, die getötet wurden.
Im Februar wurde ein junger Mann unter vorgehaltener Waffe gezwungen, in das belagerte Nasser-Krankenhaus in Khan Junis zurückzukehren und die Tausenden Menschen, die sich dorthin retten konnten, zur Flucht aufzufordern. Im Anschluss wurde er vor den Augen seiner Mutter von Scharfschützen hingerichtet, berichtet eine vergangene Woche veröffentlichte Dokumentation von Al-Dschasira über den Vorfall, der damals weltweit Schlagzeilen machte. In derselben Doku werden sechs Männer interviewt, die als menschliche Schutzschilde missbraucht worden seien. Oft wurden demnach palästinensische Geiseln gezwungen, als erste in verlassene Häuser zu gehen, um mögliche Sprengfallen auszulösen. Ein Foto, das ein israelischer Soldat im November 2023 in Gaza-Stadt aufgenommen und ins Internet gestellt hat, zeigt zwei Gefangene, die vor einem Panzer gehen müssen, um so den Beschuss durch palästinensische Kämpfer zu verhindern.
Die israelischen Streitkräfte sind »die moralischste Armee der Welt«, versicherte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Videobotschaft wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Wer es hingegen wage, »unsere Soldaten der Kriegsverbrechen zu beschuldigen, hat keinen einzigen Tropfen Moral in sich«. Doch nicht zuletzt die mit Stolz von israelischen Soldaten auf ihren privaten Kanälen ins Netz gestellten Fotos und Videos zeichnen ein Bild systematischer Verrohung und Enthemmung, wie die Al-Dschasira-Doku festhält. Die Inhalte werden tausendfach geteilt und erreichen ein Millionenpublikum. Es gibt eine überwältigende Menge an Bildern und Videos, in denen Soldaten vor explodierenden Gebäuden posieren, ihr Raubgut präsentieren oder sich in der Unterwäsche von Palästinenserinnen zeigen, was ein besonders bizarrer Trend wurde. Viele dieser Fotos werden als Profilbilder in Datingapps genutzt.
Es handle sich hier nicht um eine bloße Sammlung von Einzelfällen, erklärt Richard Sanders, der Regisseur der Doku, am Dienstag gegenüber jW, denn die mutwillige Zerstörung oder Plünderung von Eigentum, Wohnhäusern und Geschäften scheine angesichts der Flut an Videomaterial »absolut weitverbreitet zu sein«. Das 8219 Combat Engineering Battalion, das im gesamten Gazastreifen mittels Sprengungen Häuser zum Einsturz bringt, hat zwischen Dezember und Juni die zuvor 13.000 Einwohner zählende Kleinstadt Khirbet Khusaa vollständig dem Erdboden gleichgemacht. »Wir (…) haben ein ganzes Dorf zerstört, als Rache für das, was sie dem Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober angetan haben«, prahlt ein Hauptmann des Bataillons in einem Instagram-Post.
Da all die Häuser nicht mit teuren Schlägen aus der Luft, sondern mit günstigen Sprengladungen, die sorgfältig im Innern der Gebäude plaziert werden, in die Luft gejagt werden, gehe »von diesen Gebäuden definitionsgemäß keine Gefahr mehr für die Soldaten aus«, so Regisseur Sanders weiter gegenüber jW. Die Sprengungen verfolgen damit keinen militärischen Zweck. Die Soldaten machten dies in der Regel selbst deutlich, wenn sie in den dazugehörigen Posts klarstellten, es gehe ihnen um »Vergeltung oder Rache«. Das Zurschaustellen der eigenen Verbrechen hat eine Eigendynamik entwickelt, erklärt Sanders, man wolle angeben und sich in Reichweiten überbieten: »Sie konkurrieren um Klicks.« Der Erfolg gebe ihnen recht, diese Art von Videos seien »sehr beliebt in Israel«.
In vielen Onlinevideos rühmen sich Soldaten auch der brutalen Folter an palästinensischen Gefangenen. Mehrere Überlebende kommen im Film zu Wort. Sie berichten von extremer Gewalt, die ihnen angetan wurde, von Strangulierungen, Aushungern und psychischer Folter. Ein Mann berichtet, er sei von einem Soldaten gezwungen worden, sich auf eine verwesende Leiche zu legen, und dieser habe gedroht, ihn hinzurichten, sollte er von der Leiche herunterkriechen. Ein anderer Mann berichtet über Vergewaltigungen im berüchtigten Foltergefängnis Sde Teiman. Einem nackten Insassen sei demnach eine Flüssigkeit über das Gesäß gegossen worden, woraufhin er von einem Hund vergewaltigt worden sei.
Jetzt, da der Gazastreifen in Trümmern liegt, kündigte Netanjahu die Vernichtung des nächsten Landes an. »Ihr habt die Wahl«, stellte der Premier am Dienstag in einer dreieinhalbminütigen Videobotschaft »an das libanesische Volk« seine zwei Optionen für den Libanon vor. Entweder folgen dessen Einwohner seiner Devise »Befreit euer Land von der Hisbollah« und beginnen als bevorzugtes Szenario einen Bürgerkrieg gegen die bestausgerüstete Miliz der Welt – oder das Land stürze »in den Abgrund eines langen Krieges, der zu Zerstörung und Leid führen wird, wie wir es in Gaza sehen«. kurzlinks.de/Gaza-Verbrechen
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