An der Grenze
Von David HoffmannDie Region Urjanchai, heute bekannt als russische Republik Tuwa, blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Infolge der Xinhai-Revolution spaltete sie sich 1911/1912 faktisch von China ab. Die Provinz, etwa halb so groß wie Finnland, lag nördlich von der Äußeren Mongolei und südlich der russisch besiedelten Teile Sibiriens. Die Gebirge Westsajan im Norden, Tannu-ola im Süden und Altai im Westen schirmten Urjanchai geographisch mehr oder weniger ab. Hinzu kam, dass sich in den Gebirgen teilweise kilometerlange Höhlen erstreckten – für militärische Eroberer ein Alptraum. Neben einigen salzigen und anderen, sehr säurehaltigen Seen sowie kleinen wüstenähnlichen Gebieten profitierten die hauptsächlich agrarisch lebenden rund 70.000 Tuwiner von einem sehr fruchtbaren Boden und einer großen Anzahl Flüsse. Sowohl der Große als auch der Kleine Jenissej sowie der Chemtschik durchfließen die Region, bevor die drei Flüsse in den Jenissej, den zweitlängsten Strom Asiens, münden.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten immer mehr russische Bauern, nordamerikanische Pelztierjäger, sogenannte Trapper, und Händler in das Gebiet Urjanchai ein. Goldfunde Ende der 1830er Jahre sorgten für einen kleinen Boom, der jedoch nicht an ähnliche Siedlungsbewegungen wie in die damals noch chinesische Amurregion heranreichte. Neben der Aussicht auf Profit trieb auch Diskriminierung sogenannte Altgläubige, eine christlich-orthodoxe Minderheit im Zarenreich, vermehrt in die unter chinesischer Kontrolle stehende Gebirgsregion. Unabhängig vom Zuzug neuer Gruppen waren lokale tuwinische Adlige mit der Zugehörigkeit zu China unter der Mandschu-Dynastie unzufrieden. Innerhalb des Kaiserreiches zählte Urjanchai zur Äußeren Mongolei, also dem Teil, in dem sich keine chinesischen Siedler niederlassen durften. Die tuwinische Sprache gehört allerdings zur Familie der Turksprachen, ist also dem Altaischen und dem Uigurischen näher als dem Mongolischen. Trotz Gemeinsamkeiten in Fragen der Kultur und Religion strebte ein Teil der kleinen politischen Elite Urjanchais weg von der Mongolei. Als einzige Alternative blieb die Annäherung an Russland.
Letzter russischer Kolonialerwerb
Eine Gruppe von Adligen wandte sich deswegen nach der faktischen Abspaltung 1911/1912 mehrere Male an die Regierung des Zarenreiches, um Unterstützung für ihre Separation von China wie auch der Mongolei zu erhalten. Die Urheber des 1913 an Russland gerichteten schriftlichen Gesuchs waren jedoch eindeutig in der Minderheit. Die Mehrheit der regionalen Vorsteher und buddhistischen Lama, aus denen sich die Oberschicht hauptsächlich zusammensetzte, vertrat promongolische Positionen.¹ Die zaristische Regierung in Sankt Petersburg hatte jedoch ganz andere Ambitionen: Im Jahr des Gesuchs richtete sie eine eigene Behörde für die Kolonisierung des Gebiets ein.² 1914 erklärte sie, dass eine von Sankt Petersburg eingesetzte Kommission fortan den sogenannten Urjanchai Kraj im Status eines Protektorats regieren werde. Als Hauptstadt gründeten die Kolonialherren die neue Stadt Belozarsk (Weißer Zar). Das Schutzgebiet, der letzte zaristische Kolonialerwerb überhaupt, wurde dem Generalgouverneur von Irkutsk unterstellt. Die Kolonialregierung legte fest, dass die lokalen Adligen keinen Kontakt mehr zur Mongolei pflegen durften. Dort hatten Adlige unter Führung des religiösen Oberhaupts des Buddhismus in der Mongolei das sogenannte Bogd-Khanat errichtet. Dieses Khanat strebte nach Unabhängigkeit und beanspruchte Urjanchai als Teil der Mongolei, wurde jedoch von keinem Staat anerkannt.
Das Revolutionsjahr 1917 erfasste auch Urjanchai Kraj. Im Juli 1918 okkupierte die Weiße Armee des Admirals Alexander Koltschak für ein Jahr einen Großteil der russischen Kolonie in Nordasien, die Besatzung dauerte bis zum Juli 1919. Chinesische Truppen auf der anderen Seite eroberten aus Xinjiang kommend den Südwesten und mongolische Truppen den Süden Urjanchais. Vom Juli 1919 bis Februar 1920 besetzte die Rote Armee das Land, ehe die Weiße Armee vorübergehend die Kontrolle übernahm. 1921 verurteilte Georgi Tschitscherin, Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der RSFSR, der größten Republik der 1922 gegründeten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), die zaristische Landnahme der Region knapp ein Jahrzehnt zuvor. Nach dem Sieg lokaler Kräfte und der Roten Armee riefen tuwinische Revolutionäre im August 1921 die Volksrepublik Tannu-Tuwa aus.³ Die tuwinische Außenpolitik übernahm laut Verfassung das sowjetische Außenministerium.⁴ Zwar gab es einen tuwinischen Botschafter in Moskau, im wesentlichen aber regelten die Sowjets die Beziehungen Tuwas zur Außenwelt.
Als Besonderheit entstand im Jahr der Gründung Tannu-Tuwas die Russische Selbstverwaltende Arbeitskolonie (RSAK). Diese hatte ihre eigene Flagge, eigene Streitkräfte, eigene Schulen und ab 1926 mit dem Roten Pflüger auch eine eigene Zeitung.⁵ Die parteiaktiven Bürger der RSAK waren allesamt Mitglieder der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) und genossen zunächst sowjetrussische, später sowjetische Bürgerrechte. Diese Sonderregelung war nicht die einzige ihrer Art: Ähnliche Abmachungen trafen die sowjetrussischen Behörden auch in den vormaligen zaristischen Zentralasienprotektoraten Chiwa und Buchara.
Jenseits der Selbstverwalteten Arbeitskolonie forcierte die tuwinische Regierung unter Führung von einigen Nationalrevolutionären den Sprung in den Sozialismus und die Modernisierung. Die Tuwinische Revolutionäre Volkspartei (TRVP) prägte das politische Leben der Volksrepublik. Die Parteizeitung trug analog zum Pendant in Moskau den Namen Tuwinische Prawda. Die Bevölkerung wählte Repräsentanten in den Großen Chural, aus dessen Reihen dann Abgeordnete in den Kleinen Chural delegiert wurden. Dieser entsprach dem sowjetischen Präsidium des Obersten Sowjets. Regierungschef Tuwas war der Vorsitzende des Präsidiums des Kleinen Churals. Der Zusatz Tannu entfiel aus dem Staatsnamen im Jahr 1926: Aus Tannu-Tuwa wurde Tuwa.
Bedeutende Kohlevorkommen
Die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Volksrepublik hing eng mit der des Kusnezker Beckens zusammen. Die an Kohlevorkommen reiche Region, auch genannt Kusbass, galt nach dem Donbass als eine wichtige Schwerindustrieregion erst des Zarenreiches und dann der Sowjetunion. 1925 nahm das erste Elektrizitätswerk in der tuwinischen Hauptstadt seine Arbeit auf. Bautrupps stellten ein Jahr später den »Ussinsker Trakt« fertig, und schon kurz darauf fuhr das erste Auto über diese Straße nach Tuwa. Tuwiner, die an Universitäten studieren wollten, mussten das jedoch in der Sowjetunion oder der Mongolei tun, da es bis zum Ende der Volksrepublik keine höheren Bildungseinrichtungen gab.
Das Besondere am sowjetisch-tuwinischen Verhältnis war, dass die Sowjets die Unabhängigkeit der Volksrepublik nie anerkannten. In offiziellen Publikationen wiesen sowjetische Vertreter im Verlauf der 1920er Jahre auf die chinesische Herrschaft über Tuwa hin.⁶ Ebenso beim Nachbarn: In der ersten Hälfte der 1920er Jahre erkannte Moskau offiziell die chinesische Oberhoheit über die Äußere Mongolei an, schloss aber inoffiziell Verträge mit der Regierung der Mongolischen Volksrepublik, als handle es sich um einen unabhängigen Staat.⁷ Zudem organisierten die Sowjets Gespräche zwischen der ab 1921 in Ulaanbaatar regierenden Mongolischen Revolutionären Volkspartei (MRVP) und den chinesischen Nationalisten der Guomindang.⁸ Beginnend im Jahr 1921 kooperierte die Guomindang unter Sun Yat-sen mit den Sowjets. Unabhängig davon etablierte die weitgehend machtlose chinesische Zentralregierung im Sommer 1924 diplomatische Beziehungen mit der UdSSR. Sowohl die Regierung in Beijing als auch die Guomindang im südchinesischen Guangzhou beanspruchten die Mongolei und Tuwa als chinesisches Gebiet. Die sowjetische Regierung in Moskau spielte deswegen ein Doppelspiel.
Während die chinesischen Ansprüche theoretisch blieben, hatte die tuwinische Regierung mit der Mongolei einen schwierigen Nachbarn. Nach der Übernahme der Regierung in Ulaanbaatar durch die dortige Nationalbewegung in Form der MRVP veröffentlichte diese im September 1921 eine Erklärung, in der sie die tuwinische Unabhängigkeit annullierte. Außerdem machte sich eine Delegation auf den Weg nach Moskau, um eine Eingliederung Tuwas in die Mongolei abzusichern. Doch die sowjetische Regierung lehnte den mongolischen Wunsch ab.
Dass einige tuwinische Adlige in der Grenzregion offen Stimmung für einen Anschluss an die Mongolei machten, verkomplizierte die Situation zusätzlich. Als die tuwinische Regierung im März 1922 eine diplomatische Note nach Ulaanbaatar schickte, erwiderte die MRVP-Regierung, dass sie die Unabhängigkeit nicht anerkenne und Vertreter losschicke, um die Situation vor Ort evaluieren zu können. Im Frühjahr 1924 erhoben sich einige Rebellen in der Grenzregion Chemtschik und riefen dazu auf, die Region an die Mongolei anzuschließen.⁹ Die Tuwinische Volksrevolutionäre Armee ging gegen die Aufständischen vor, zugleich bat die Regierung die stärkere Rote Armee um Hilfe. Im Sommer desselben Jahres begannen dann die ersten Drei-Parteien-Gespräche von Vertretern der sowjetischen, tuwinischen und mongolischen Regierung. Auch nach dem Tod des Bogd Khan und der Proklamation der Mongolischen Volksrepublik im November 1924 beharrte die Regierung in Ulaanbaatar auf der Zugehörigkeit Tuwas zur Mongolei. Erst auf sowjetischen Druck hin erkannte die Regierung der Mongolei Tuwa im Sommer 1926 an. Nach Verhandlungen trat Tuwa das erste Mal 1929 und ein zweites Mal 1935 Grenzgebiete an die Mongolische Volksrepublik ab.¹⁰
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gab es etwas mehr internationale Aufmerksamkeit für Tuwa in Westeuropa. Die Weimarer Republik beispielsweise erkannte Tuwa de facto, aber nicht de jure an. Als einzige westliche Ausländer fuhren Deutsche nach Tuwa: Dem deutsch-österreichischen Archäologen und Sinologen Otto Mänchen-Helfen gelang sogar, als Teil einer Expedition der in Moskau sitzenden Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens (KUTW) 1929 in die Volksrepublik zu reisen und vor Ort zu forschen. Im Anschluss veröffentlichte er ein Buch über das im Westen noch weitgehend unbekannte Tuwa und beschrieb die Situation vor Ort wie folgt: »Seit 1921 ist Tuwa ein selbständiger Staat. Es hat eine Regierung, eine Hauptstadt, eine Armee, eine Staatsbank, sogar eigene Briefmarken, kurz alles, was zu einem Staate gehört.«¹¹ Aus der nordasiatischen Volksrepublik reisten tuwinische Delegationen oft nach Westeuropa.
Abbruch des Sozialismus
Mit der Anerkennung durch die Regierung in Ulaanbaatar eröffneten sich neue Möglichkeiten für die tuwinische Außenpolitik. Unter Donduk Kuular, einem vormaligen lamaistischen Mönch, der ab 1924 als Staatsoberhaupt regierte, lehnte sich die tuwinische Regierung immer mehr an die Mongolei an. Im Jahr 1928 dekretierte Kuular, dass der Buddhismus Staatsreligion sei, und verbat antireligiöse Propaganda. Unter seiner Führung sollte Tuwa zu einer Theokratie umgebaut werden. Wahrscheinlich nicht ohne das Plazet Moskaus und mit direkter Hilfe aus der Selbstverwalteten Arbeitskolonie putschte sich daher eine Gruppe von Absolventen der KUTW 1929 an die Staatsspitze. Kuular wurde verhaftet und später in der Haft ermordet.
Tuwa war nicht nur der zweite realsozialistische Staat, sondern auch der erste, in dem der Sprung in den Sozialismus wieder abgebrochen wurde: Nach einem bilateralen Abkommen löste die tuwinische Regierung die RSAK 1932 endgültig auf – bereits 1926 hatte die graduelle Integration der Selbstverwalteten Arbeitskolonie in das tuwinische Staatswesen begonnen. Auch die Kolchosen in der Volksrepublik wurden abgewickelt. Im darauffolgenden Oktober erklärte das Zentralkomitee der TRVP, dass das Land fortan eine »neue Art bürgerlich-demokratischer Republik« sei, die aber dennoch einen nichtkapitalistischen Weg verfolge.¹² Ab 1934 bezahlten die Tuwiner nicht mehr mit dem in der Sowjetunion üblichen Rubel, sondern zunächst dem mongolischen Tögrög. Ein Jahr später wurde eine eigene Währung eigeführt, der Akşas. Auch legalisierte man den private Handel wieder, und die Regierung unterstützte die Entstehung eines nationalen Bankenwesens. Ein weiteres Jahr später übernahm die tuwinische Regierung die bis dahin von den Sowjets direkt betriebenen Goldminen auf dem Gebiet der Volksrepublik und eröffnete auch die buddhistischen Klöster wieder. Außenpolitisch versuchte man in Kysyl, wie die tuwinische Hauptstadt seit 1926 heißt, sich der Mongolischen Volksrepublik anzunähern.
Das tuwinische Experiment endete mit dem Beginn des Großen Terrors in der Sowjetunion im Jahr 1936. Der Geheimdienst NKWD unter dem berüchtigten Lawrenti Berija dehnte die Repression über die Grenzen der UdSSR auf die Mongolei, Tuwa und das damals verbündete Xinjiang aus. Ein großer Teil der tuwinischen politischen Elite fiel dem Terror zum Opfer. Im Jahr 1938 ermordete die Geheimpolizei sogar Regierungschef Sat Churmit-Daschi.¹³ An der tuwinischen Staatsspitze konnnte Saltschak Toka gemeinsam mit früheren Kommilitonen von der Universität der Werktätigen des Ostens seine Macht festigen. Er erhielt als erster Mensch ohne sowjetische Staatsbürgerschaft den höchsten Orden des NKWD. Widerstand gegen einen sozialistischen Kurs gab es trotz der Repressionen noch bis ins Jahr 1941 hinein. Als Sondergesandten schickte der Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitroff, seinen im Reichstagsbrandprozess Mitangeklagten Wassil Tanew 1936 nach Tuwa. Erst 1935 hatte die Komintern die Tuwinische Revolutionäre Volkspartei als sympathisierendes Mitglied aufgenommen. Tanew blieb drei Jahre in Tuwa, um bei der Rückkehr der Volksrepublik in den Realsozialismus zu helfen.¹⁴
Nachdem sich die Führung unter Toka, dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei, durchgesetzt hatte, sandte die tuwinische Regierung im September 1939 einen ersten Antrag auf Beitritt zur Sowjetunion. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im selben Monat arbeitete die sowjetische Staats- und Parteiführung an der Eingliederung der drei baltischen Staaten, Ostpolens und Bessarabiens in die Sowjetunion. Die Eroberung Finnlands schlug fehl, jedoch gelang es Moskau, das Staatsgebiet der Sowjetunion um die anderen Gebiete zu erweitern. Andrej Schdanow, ein enger Vertrauter Stalins, der lange Zeit als möglicher Nachfolger gehandelt wurde, hatte sich dabei auf der sowjetischen Seite vor allem um Estland gekümmert und erhielt den Auftrag, nach Tuwa zu reisen. Nach der schnellen Angliederung Estlands verlief der Aufnahmeprozess der nordasiatischen Volksrepublik jedoch schleppend. Zunächst verabschiedete die tuwinische Staatsführung für das Land eine neue Verfassung, Russisch kam in den Schulen als neue Unterrichtssprache hinzu, und beim Schreiben in der tuwinischen Sprache wechselte man vom lateinischen ins kyrillische Alphabet.¹⁵ Eine weitergehende Anlehnung an die Sowjetunion jedoch gab es zunächst nicht.
Schwierige Aufnahme
Der Überfall der faschistischen Achsenmächte auf die Sowjetunion verlangsamte den Prozess der Aufnahme Tuwas in die UdSSR erneut. Die tuwinische Regierung erklärte Nazideutschland den Krieg.¹⁶ Durch Spendenkampagnen finanzierte die Bevölkerung den Kauf von Ausrüstung für die Rote Armee. Darüber hinaus organisierte die Regierung in Kysyl den Transport von Pferden, Skiern, Mänteln und Lederwaren in die Sowjetunion. Soldaten der Tuwinischen Volksrevolutionären Armee dienten als sogenannte Freiwillige direkt in sowjetischen Einheiten. Sie waren beispielsweise Teil des 25. Panzerregiments der Roten Armee und nahmen an der Befreiung der Tschechoslowakei teil. Leutnant Tschurgui-ool Chomuschku, der unter anderem an der Dnepr-Karpaten-Operation beteiligt gewesen war, erhielt sogar den Orden »Held der Sowjetunion«.
Nach den Jahren 1939 und 1941 sandte die Regierung 1943 bereits zum dritten Mal ein Gesuch um Aufnahme der Volksrepublik in die Sowjetunion nach Moskau. Auch wenn sich Generalsekretär Toka innenpolitisch seiner Feinde durch den Großen Terror größtenteils entledigt hatte, befürchtete er, dass Stalin geneigt sein könnte, Tuwa der Mongolei auf dem Silbertablett zu präsentieren. Denn der mongolische Regierungschef Chorloogiin Tschoibalsan verfolgte schon in Xinjiang, das seit 1942 unter der Kontrolle der chinesischen Zentralregierung der Guomindang stand, eine großmongolische Politik.¹⁷ Als Bollwerk gegen Japan spielte die Mongolei eine wichtige Rolle in der sowjetischen Politik in der Region. Tuwa hätte ein weiteres Ziel Tschoibalsans sein können.
Nachdem die Rote Armee 1944 die vormalige sowjetische Westgrenze erreicht hatte und alle sowjetischen Gebiete befreit waren, begann die Regierung in Moskau damit, die Grenzen im nahen Ausland neu zu ziehen. In Asien wirkte günstig, dass die Guomindang-Regierung der Chinesischen Republik im Verlauf des Jahres 1944 enorm geschwächt war. Im Rahmen der japanischen Operation Ichi-gō hatte das faschistische Kaiserreich vom April bis zum Dezember 1944 große Teile Zentralchinas zwischen dem Jangtsekiang und dem Gelben Fluss erobern können. Mit den kommunistischen Guerillas unter Mao Zedong lag die Guomindang ohnehin über Kreuz. Moskau hingegen agierte 1944 aus einer Position der relativen Stärke und zog die Grenzen im Norden Asiens teilweise neu. In Xinjiang spaltete sich die Zweite Republik Ostturkestan mit sowjetischer Hilfe vom Guomindang-treuen Rest der Provinz ab, und auf der Konferenz von Jalta konnte die sowjetische Regierung wenige Monate später durchsetzen, dass die Westalliierten die Unabhängigkeit der Mongolei anerkannten. Die Guomindang-Regierung folgte. Die sowjetischen Motive in Tuwa, in die auch die Jagd nach der Atombombe hineinspielte, harmonierten dabei mit denen der lokalen Führung von Saltschak Toka. Der wollte seine Macht sowohl gegen die großmongolischen Absichten Tschoibalsans in Ulaanbaatar als auch gegen innenpolitische Feinde absichern. 1944 waren in Tuwa Uranvorkommen entdeckt worden, daher vermuteten US-Beobachter, dass die Sowjets dort eine »Atomstadt« würden errichten wollen.
Autonomer Oblast
Am 17. August 1944 beschloss der Kleine Chural auf einer Sondersitzung die Aufnahme der Volksrepublik in die Sowjetunion. Eine dreiköpfige Delegation unter der Leitung von Saltschak Toka reiste nach Moskau. Dort beriet das Präsidium des Obersten Sowjets unter Michail Kalinin, dem Staatsoberhaupt der UdSSR auf dem Papier, über das Gesuch. Das Präsidium stimmte dem Antrag zu. Am Ende entschied ein kleiner Kreis von nicht mehr als 20 tuwinischen und sowjetischen Politikern über das Schicksal der Volksrepublik Tuwa. Diese hörte am 11. Oktober 1944 auf zu existieren. Das Gebiet erhielt den Status einer autonomen Oblast innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Erst 1961 ging aus dieser Oblast die Tuwinische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik hervor.
Auch wenn es unter Saltschak Toka propagandistisch keinen Zweifel am Sozialismus gab, sprechen die ökonomischen Daten eine andere Sprache: Der private Sektor in der tuwinischen Wirtschaft machte noch im Jahr 1943 fast zwei Drittel der Ökonomie des kleinen Landes aus. Über 90 Prozent der Herden verblieben in Privatbesitz. Erst innerhalb der Sowjetunion wurde der Realsozialismus dann vollumfänglich eingeführt. Toka übernahm den Posten des Ersten Sekretärs der KPdSU in der Oblast Tuwa. Seine Frau Chertek Antschimaa, von 1940 bis 1944 formelles Staatsoberhaupt Tuwas, wurde stellvertretende Vorsitzende der tuwinischen KPdSU-Parteiorganisation. Beide dominierten die Politik der Region bis in die 1960er Jahre.
Anmerkungen
1 Tanja Penter: Die Republik Tywa (Tuwa), in: Osteuropa 47 (1997), Nr. 7, S. 666–683, hier: S. 669
2 Зоя Юрьевна Доржу: К вопросу об установлении протектората России над Тувой в 1914 г. (Über die Frage der Etablierung eines russischen Protektorats in Tuwa im Jahr 1914), in: Власть – общенациональный научно-политический журнал 22 (2015), Nr. 4, S. 157–161, hier: S. 158
3 Richard B. Spence: White Against Red in Uriankhai: Revolution and Civil War on Russia’s Asiatic Frontier, 1918–1921, in: Revolutionary Russia 6, (1993), Nr. 1, S. 97–120
4 Ebd., S. 120, Fn. 85
5 Toomas Alatalu: Tuva – A State Reawakens, in: Soviet Studies 44 (1992), No. 5, S. 881–895, hier: S. 884
6 Robert A. Rupen: Tuva, in: Asian Survey 5 (1965), Nr. 12, S. 609–615, hier: S. 612
7 Bruce A. Elleman: Secret Sino-Soviet Negotiations on Outer Mongolia. 1918–1925, in: Pacific Affairs 66 (1993), Nr. 4, S. 539–563
8 Jon Jacobson: When The Soviet Union Entered World Politics. Berkeley/ u. a. 1994, S. 126
9 Vladimír Baar; Barbara Baarová; Jaroslav Kurfürst: Tuva and Mongolia – Between annexation and independence, in: Tomáš Hoch/Vincenc Kopeček (Hg.): De Facto States in Eurasia, Abingdon 2020, S. 63–78, hier: S. 71
10 Ebd., S. 71
11 Otto Mänchen-Helfen: Reise ins asiatische Tuwa, Berlin 1931, S. 6
12 Alatalu: Tuva – A State Reawakens (Anm. 5). S. 886
13 Mark Galeotti: From Tuva to Tyva: Nationalism vs. Economics, in: Boundary and Security Bulletin (1995), S. 78–80, hier: S. 78
14 Alatalu: Tuva – A State Reawakens (Anm. 5), S. 886
15 Ebd.
16 Denys J. Voaden: Mongolian and Tuvan Aid to Wartime Russia, in: Michael Gervers;Uradyn E. Bulag;Gillian Long (Hg.): Traders and Trade Routes of Central and Inner Asia: The »Silk Road«, Then and Now, Toronto 2007, S. 273–277, hier: S. 276
17 Alatalu: Tuva – A State Reawakens (Anm. 5), S. 886
David Hoffmann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. April 2024 über die Islamische Republik Ostturkestan: Kurzlebiger Separatstaat.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Carsten G. aus Leipzig (11. Oktober 2024 um 22:29 Uhr)Vielen Dank für den informativen Beitrag über eine recht unbekannte Weltregion! Wenn eine »graduelle Integration begonnen hatte«, dann trifft es der Begriff Integrierung (als Prozess) wesentlich besser. Ein graduell erübrigt sich außerdem. Zitat »bereits 1926 hatte die graduelle Integration der Selbstverwalteten Arbeitskolonie in das tuwinische Staatswesen begonnen«
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