Retter und Opfer zugleich
Von Reinhard LauterbachDie Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) hatte insgesamt sieben Generalsekretäre. Fünf davon sind im Amt gestorben, dem letzten zerfiel das Land unter den Händen. Nikita Chruschtschow, der dritte in der Reihe, wurde nach elf Jahren an der Parteispitze bei einem Plenum des Zentralkomitees im Oktober 1964 abgelöst; offiziell aus Gesundheitsgründen und auf eigenen Wunsch, aber das glaubte schon damals niemand. Trotzdem reagierte die sowjetische Bevölkerung auf die Ablösung gleichgültig. Was hatte der Mann falsch gemacht, dass er entgegen der vor und nach ihm geübten Praxis von den eigenen Genossen abgesägt wurde?
Im Gedächtnis der Nachwelt ist Chruschtschow heute noch durch ein Bild und eine Rede. Das Bild stammt von der UN-Vollversammlung im Herbst 1960, wo er angeblich mit seinem Schuh aufs Rednerpult geschlagen haben soll, um seinen Argumenten Nachdruck zu verleihen. Ob es sich wirklich so zugetragen hat, ist bis heute umstritten. Da es in der Debatte um die Entkolonialisierung ging, kann es genausogut so gewesen sein, dass Chruschtschow mit Blick auf das Publikum in den islamischen Ländern, wo das Zeigen einer Schuhsohle ein Zeichen extremer Geringschätzung ist, an diese Assoziation anknüpfen wollte.
XX. Parteitag
Chruschtschows wichtigste Rede wurde am letzten Tag des XX. Parteitags, am 25. Februar 1956, hinter verschlossenen Türen gehalten. Sie dauerte nach unterschiedlichen Berichten zwischen vier und fünf Stunden und befasste sich mit »dem Personenkult und seinen Folgen«. Inhalt war eine Abrechnung mit den unter Stalin eingerissenen Methoden in der Behandlung wirklich oder potentiell andersdenkender Parteimitglieder. Chruschtschow konfrontierte die Delegierten mit dem, was viele von ihnen gewusst haben müssen – der Redner mit Sicherheit, weil er in den 1930er Jahren aktiv an den »Säuberungen« in der ukrainischen Sowjetrepublik mitgewirkt hatte. Dass sich die terroristische Herrschaft Stalins allein auf dessen pathologischen Charakter reduzieren lässt, ist heute längst von der Forschung überholt. Doch diente diese Darstellung dazu, allen strukturellen Nachfragen, wie es habe sein können, dass in einer Millionenpartei ein einzelner Mensch solche Macht habe erringen und ausüben können, einen Riegel vorzuschieben. Ursprünglich für den internen Gebrauch in der Partei gedacht, blieb die Rede nicht lange geheim und schlug sowohl in der sowjetischen Öffentlichkeit als auch in den »Bruderländern« ein wie eine Bombe. Der von Stalin eingesetzte polnische Parteichef Bołeslaw Bierut erlitt noch auf dem Parteitag einen Herzanfall, dem er zwei Wochen später erlag. Im Herbst desselben Jahres kam es in Ungarn und Polen zu »nationalkommunistischen Abweichungen«, von denen die ungarische bewaffnet niedergeschlagen wurde.
Chruschtschows Weg an die Parteispitze hatte 1953 direkt nach Stalins Tod begonnen. In wechselnden Koalitionen gelang es ihm, zunächst den gefürchteten Geheimdienstchef Lawrenti Berija verhaften und nach einem Geheimprozess erschießen zu lassen. Danach ließ er seine Mitverschwörer ins zweite Glied zurückzustufen und nahm selbst die Spitzenposition ein. Mit der Ausnahme Berijas – und einiger Mitstreiter wie Wiktor Semjonowitsch Abakumow – blieben diese Veränderungen aber gewaltlos. Die ganze Parteispitze befürchtete, dass angesichts der Routine, mit der fiktive Komplotte wie die »Ärzteverschwörung« von 1952 fabriziert wurden, sie die jeweils nächsten Opfer sein könnten. Das Ende des auf schiere Repression gegründeten Führungsstils der Stalinzeit war in der zweiten Reihe der Parteispitze gewollter Konsens und half, Chruschtschows Weg an die Spitze zu ebnen.
Schwieriger wurde es mit dem, was der neue Generalsekretär außer Vergangenheitsbewältigung noch vorhatte. Das Ende der Stalinschen Methoden fiel auch zusammen mit dem wachsenden Bewusstsein, dass die Ökonomie der Arbeitslager und der Zwangsarbeit äußerst ineffizient war und das Land in einer Phase intensivierter und technologieorientierter Rivalität mit den USA nicht mehr voranbringen konnte. Dass Chruschtschow auf mehr Offenheit der Diskussion – im Rahmen der sowjetischen Grundordnung und ihrer ideologischen Prämissen – setzte, sollte eben auch Kreativitätspotentiale freisetzen und helfen, den Vorsprung des Westens in Sachen Arbeitsproduktivität aufzuholen. Chruschtschow war allerdings insofern ganz der Voluntarist Stalinscher Schulung geblieben, als er das Land von Kampagne zu Kampagne hetzte: Erst sollte die Unproduktivität der kollektivierten Landwirtschaft durch die Erschließung zusätzlicher Anbauflächen kompensiert werden. Dann brachte Chruschtschow von einer Reise in die USA die Idee mit, in der UdSSR Futtermais anzubauen, um so die Basis für die industrielle Fleischproduktion zu schaffen. Das schlug auf groteske Weise fehl, unter anderem, weil das Klima in der Sowjetunion eben doch ein anderes ist als im Mittleren Westen der USA. Die Hektik bei der Einführung dieser Neuerungen gleicht derjenigen, mit der 20 Jahre und einige Enttäuschungen später Michail Gorbatschow die Sowjetunion zu Tode reformierte.
Apparatprobleme
Zu Chruschtschows unbestreitbaren Erfolgen gehört der Beginn einer breitangelegten Wohnungsbaukampagne, die die Epoche der »Kommunalwohnungen« beendete und Millionen Familien zwar kleine und bescheiden ausgestattete, aber doch abgeschlossene Wohnungen in den bis heute »Chruschtschowkas« genannten vier- bis fünfstöckigen Mietskasernen verschaffte. International begann unter ihm – und seinem US-Pendant John F. Kennedy – die Epoche der Rüstungskontrolle. Chruschtschow soll nach dem erfolgreichen Test einer Wasserstoffbombe auf der arktischen Insel Nowaja Semlja beschlossen haben, mit den Atomtests in der Atmosphäre Schluss zu machen.
Das Genick brachen ihm innerparteilich seine Versuche, die Privilegien der Funktionärsklasse zu beschneiden: Dienstwagen zum persönlichen Gebrauch, Zugang zu Sondergeschäften mit Delikatessen, die der normale Verbraucher nie zu Gesicht bekam. Das untergrub seinen Rückhalt unter den Funktionären. Nachdem die Ernte von 1963 schlecht ausgefallen war, fand sich ein Anlass, ihn zu entmachten. Der Apparat, den er aus der »Furcht des Herrn« befreit hatte, fühlte sich nach elf Jahren selbstbewusst genug, den »Herrn« aus dem Amt zu wählen, als dessen Politik seinen Interessen zuwiderlief. Sein Nachfolger wurde Leonid Brechnew, der bis zu dessen Tod im Jahr 1982 regierte. Chruschtschow lebte noch sieben Jahre als »Pensionär von unionsweiter Bedeutung« mit Staatsdatscha und Limousine. Sein Beitrag zum zivilisierten Umgang mit Personalwechseln blieb bestehen.
Nicht nach der Pfeife
Mein Vater versuchte, Lösungen zu finden, die es erlaubten, die Volkswirtschaft aus den endlos aufeinander folgenden Fehlschlägen herauszuführen, aber im Rahmen der Struktur, die wir heute als »administratives Kommandosystem« bezeichnen. Dessen Logik verlangte, dass die Leitung sich auf allen Ebenen bis herunter zum Landkreis in alle Fragen der Produktion einmischen und ein genaues Auge auf jeden Betrieb, jede Kolchose, jede Werkstatt (…) und jede Maschine haben musste. (…) Dieser Ansatz verlangte im Grunde, dass in der Partei auf allen Ebenen Spezialisten sitzen mussten, die sich mit allen Details bestens auskannten. Auf diese Weise wuchs die Zahl der Fachleute im Apparat immer weiter an, und in der Sache lief es immer schlimmer. Der Apparat dagegen wurde maßlos aufgebläht. (…)
Mein Vater vertrat die Auffassung, dass die Volkswirtschaft wesentlich komplizierter geworden sei, und dass die Sekretäre eines Gebiets- oder Kreiskomitees nicht gleichzeitig Spezialisten für Industrie und Landwirtschaft sein konnten. Also mussten zwei parallele Apparate aufgebaut werden. (…) Dass sich die Parteiführung vielleicht in die wirtschaftlichen Details überhaupt nicht einmischen sollte, kam damals niemandem in den Sinn. (…)
Über viele Jahre lebte unsere Führung in dem Alptraum, dass die USA uns mit einem Atomschlag vernichten konnten, ohne dass wir etwas dagegen hätten tun können. Jetzt, nachdem wir Raketen hatten, hatten beide Weltmächte gleichgezogen, und mein Vater drängte auf eine Reduzierung der Armee um fast 50 Prozent, um menschliche und finanzielle Ressourcen für die Volkswirtschaft freizusetzen. (…) Das rief Unzufriedenheit in der Generalität hervor: Sie fürchtete, an Gewicht und Privilegien zu verlieren. Damit wollten sie sich nicht abfinden, aber mein Vater war unerbittlich; (…) er hatte nicht vor, nach der Pfeife unserer heimischen Militaristen zu tanzen.
Sergej Chruschtschow: Pensioner sojusnowo snatschenija (Ein Rentner von unionsweiter Bedeutung), Moskau 1991, S. 17, 19. Übersetzung: Reinhard Lauterbach
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Leserbrief von Ralph Petroff aus Schweinfurt (15. Oktober 2024 um 20:53 Uhr)Meiner Meinung nach ist Chruschtschow viel zu spät abgelöst worden – denn er hat 1964 bereits zu viel Schaden angerichtet. Das begann schon mit seiner widersprüchlichen und vielfach verlogenen Tirade gegen Stalin (wie man das konstruktiv hätte machen können, zeigten später die Chinesen mit Mao). Vor allem aber hat er mit vielen Thesen – so der friedlichen Koexistenz als Anbiederung an den Westen, die Thesen von Staat und Partei »des ganzen Volkes«, vom »parlamentarischen Weg zum Sozialismus« – die Saat des Opportunismus in der kommunistischen Weltbewegung gelegt. Von Chruschtschow bekamen sozialdemokratische Positionen erstmals höhere »kommunistische« Weihen. Dem hätte viel früher Einhalt geboten werden müssen.
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Leserbrief von Wolfgang Reinhardt aus 99734 Nordhausen (15. Oktober 2024 um 11:49 Uhr)Chruschtschow war weder Opfer noch Retter. Der US-amerikanische Historiker Grover Furr (Chruschtschows Lügen, ISBN 978-3-360-02187-8) und der ital. Prof. Losurdo (Stalin, ISBN: 978-3-89438-496-8) haben nach Öffnung der sowj. Archive nachgewiesen, daß Stalin im Gegensatz zu Chr. ein guter Politiker war. So war er gegen Personenkult, war dafür, daß sich die Partei aus Regierungsgeschäften heraushält, sie den Fachleuten überläßt, wollte, daß sich der Kommunist zum Parteilosen verhält wie ein Gleicher zu Gleichen, zumal es zu positiven Resultaten führen könne, wenn die Parteimitglieder durch Parteilose kontrolliert werden. Die Wahlpraxis müsste geändert werden, die Sowjets müssten in wirklich gewählte Organe verwandelt werden. Es sei falsch, die Partei mit dem Staat zu identifizieren usw. Stalin regte die Beförderung von Parteilosen auf Verantwortungsposten an und erkannte, daß ohne materiellen Anreiz die Heranbildung spezialisierter Arbeiter und Techniker nicht möglich ist. Nicht Stalin ließ Unbequeme ermorden. Es war Chruschtschow, zuerst als 1. Sekretär der Stadt und des Bezirks Moskau bis Januar 1938, dann als 1. Sekretär der Ukraine, auf dessen Verantwortung hin in den Jahren 1937 und 1938 mit die häufigsten Massenrepressalien, Verhaftungen und Hinrichtungen stattfanden. Übrigens brach Chr. Recht, indem er die Krim ohne Zustimmung des Obersten Sowjets an die Ukraine verschenkte. Es lohnt, die Bücher zu lesen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (17. Oktober 2024 um 11:42 Uhr)Stalin soll gefordert haben, dass sich »die Partei aus Regierungsgeschäften heraushält«. Wo haben Sie das gelesen? Etwa bei Losurdo, der in Bezug auf Stalin so gut wie gar nichts verstanden hat (siehe »Genosse Domenico Losurdos ›Flucht aus der Geschichte‹«) ? Marx, Engels, Lenin und Stalin werden sich im Grab umdrehen. Es wäre geradezu fahrlässig, wenn sich die Kommunistische Partei, also »der fortgeschrittenste, klassenbewußteste und deshalb revolutionärste Teil der Arbeiterklasse« aus Regierungsgeschäften »heraushielte«.
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Leserbrief von Michael Wetterhahn aus Panketal (14. Oktober 2024 um 10:35 Uhr)in Ihrem o.a. Beitrag sagen sie, dass die Episode mit Chruschtschow Shuh bei der UNO-Vollversammlung 1960 umstritten sei. 1960 war ich 16 Jahre alt und schon damals politisch sehr interessiert. Das Klopfen mit dem Schuh konnte ich im Westfernsehen eindeutig sehen. Ich nehme an, in den Archiven gibt es noch den damaligen TV-Bericht. Der Begriff "umstritten" gehört nach Alexander Neu (Nachdenkseiten vom 1.10.24) zu den Werkzeugen von Journalisten, um andere Meinungen und Positionen zu diskreditieren; deshalb bitte nicht mehr verwenden. Ansonsten schätze ich Ihre Beiträge sehr. Allerdings in dem o.a. Beitrag vermisse ich, dass gerade in der Chruschtschow-Zeit in der Sowjetunion viele "Pioniertaten" geschahen, erstes Atomkraftwerk, erstes Passgierdüsenflugzeug, 1957 Sputnik und später der Weltraumflug von Juri Gagarin usw. Gerade diese Ereignisse nährten bei Vielen die Überzeugung/Hoffnung, die Sowjetunion ist auf dem Vormarsch und wird die USA wirtschaftlich überholen. Seine Absetzung 1964 habe ich als Student im 2. Studienjahr erlebt, sehr viele meiner Kommilitonen waren davon sehr betroffen. Die Brechnew-Periode wurde dann als Rückschritt und Stillstand erlebt. Ich weiß auch nicht inwiefern Chruschtschow Walter Ulbricht ermutigte das System der "Neuen ökonomischen Politik der Planung und Leitung" zu starten. Allerdings bei Ulbrichts Freundschaftsreise 1964 in die Sowjetunion machte er sich in einigen Bereichen dort keine Freunde, da er belehrend auftrat; das kann nicht sein, dass der Führer der kleinen DDR dem "großen Bruder" erklärt, wie man eine bessere Wirtschaftspolitik macht. Diese Details habe ich von meinem Schwiegervater Klaus Wilczynski erfahren, der als Journalist der Berliner Zeitung Ulbricht begleitete.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (14. Oktober 2024 um 09:52 Uhr)Die Wahrheit über Chruschtschow – in Kurzform – wäre gewesen: »Mit Chruschtschow, der dem Imperialismus Friedensfähigkeit bescheinigte, erhob der Revisionismus in der Sowjetunion sein kahles Haupt. Seine Amtszeit wurde im Westen als ›Tauwetter-Periode‹ gefeiert. Zwar wurde er 1964 noch von Breschnew ausgebremst, jedoch wurde 25 Jahre später durch Gorbatschow mit der Zerstörung der Sowjetunion Chruschtschows Werk vollendet«. Stattdessen bekommen wir Unbekömmliches aus der Giftküche der bürgerlichen Geschichtsschreibung aufgetischt: »Die terroristische Herrschaft Stalins«; »dessen pathologischer Charakter«; »auf schiere Repression gegründeter Führungsstils der Stalinzeit«; »die Ökonomie der Arbeitslager und der Zwangsarbeit«. Aus welch trüben Quellen bedient sich der Autor? Vielleicht hier? - Wladislaw Hedeler hat sich mit »Bestsellern«, in denen schon im Titel ähnliche Formulierungen vorkommen, eine goldene Nase verdient: »Das Grab in der Steppe. Leben im GULAG«; »Stalinscher Terror 1934–1941«; »Chronik der Moskauer Schauprozesse«; »Josef Stalin oder: Revolution als Verbrechen«; »Der Große Terror in der UdSSR 1937–1938«. Seltsamerweise hat es Hedeler sogar geschafft, als Herausgeber zwei Bücher im jW-Shop (»Kritische Neuausgabe« von Lenin) zu platzieren.
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