Kampftrinken mit Rosé
Von Marco GottwaltsUngefähr zu der Zeit, als der feine Journalist Hans Meiser 1988 in der Gladbecker Filiale der Deutschen Bank anrief, in der sich Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski samt einiger Geiseln verschanzt hatten, besuchte ich meine erste »richtige« Hafenkneipe. Zwar hatte ich zuvor bereits mit dem Trampermonatsticket die Bonner Republik bereist und war in der einen oder anderen Hafenpinte der Nord- und Ostsee eingekehrt, doch »richtige« Hafenkneipen waren das nicht. »Richtige« Hafenkneipen – so meine Vorstellung damals – versprühen keine gute Laune; sie haben so gar nichts mit dem fiktiven, von Vader Abraham erschaffenen »’t kleine café aan de Haven« gemein. Man betritt sie vielmehr ehrfurchts- und auch ein bisschen angstvoll. Man erwartet düstere Gestalten vom Schlage eines Rösner oder Degowski. Die dazugehörige Atmosphäre stellte ich mir wie die Kulisse in Eugene O’Neills Schauspiel »The Iceman Cometh« (Der Eismann kommt) vor:
»Das Hinterzimmer und ein Teil der Bar von Harry Hope’s an einem frühen Morgen im Sommer 1912. Das Hinterzimmer ist links durch einen schmutzigen, schwarzen Vorhang von der Bar abgetrennt, der hinten an der Bar ein Stück zurückgezogen ist, damit der Barkeeper durchgehen kann. Das Hinterzimmer ist mit runden Tischen und mit Stühlen so vollgestellt, dass es schwierig ist, sich durchzuzwängen. In der Mitte der rückwärtigen Wand sieht man eine Tür, die auf den Flur führt. Rechts in der Ecke befindet sich die Toilette, die in den Raum hineingebaut ist, und deren Tür die Aufschrift ›Hier‹ trägt. An der rechten Seitenwand steht eine Musikbox zwischen zwei Fenstern, die auf den Hinterhof gehen. Sie sind so verschmiert, dass man nicht hinaussehen kann. Die Wände und die Decke waren ursprünglich weiß, doch das ist lange her. Jetzt sind sie so fleckig, dreckig und vergilbt, dass ihre Farbe nur noch als schmutzig zu bezeichnen ist. Der Fußboden, auf dem ein paar eiserne Spucknäpfe stehen, ist mit Sägemehl bestreut. Das Licht kommt von je zwei Leuchtern an der Rückwand und an der rechten Seitenwand.«
Zu den dort gestrandeten Figuren und Charakteren gehören ein früherer Zirkuskassierer, ein früherer Polizist, ein früherer Student, ein ehemaliger Herausgeber eines Anarchoblattes, ein ehemaliger Anarchist, eine weitere Reihe von ehemaligen und früheren Irgendwasmenschen, Straßenmädchen und Veteranen. Problemklientel würde man in Kreisen eines städtischen Ordnungsamtes wohl sagen. Rösner und Degowski wären nicht groß aufgefallen.
Fäuste und Freunde
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob sich die Bar, die sich damals, 1988, noch am Hafen von Galway in Westirland befand, nun »Sailor’s Pub« oder »Sailor’s Bar« oder sonstwie nannte. Brian Nolan, Chronist und Fremdenführer aus Galway, meint, dass das Etablissement »irgendwas mit Sailor« hieß. Wie dem auch sei, ich betrat die Bar, die sich optisch als ein schäbiger, in die ganz späten Jahre gekommener, brutal verrauchter, insgesamt aber klassischer Irish Pub darstellte, mit leichter Nervosität. Was würde mich jenseits des mir entgegenströmenden abartigen Zigarettenqualms dort erwarten? Rüde Gesellen, die nur darauf gewartet hatten, einem leichtsinnigen jungen Milchbubi aus Deutschland zu zeigen, was eine irische Kehle zu trinken oder eine irische Faust zu leisten imstande ist? Und? Nichts dergleichen. Nein! Statt dessen eine herzliche, zuvorkommende Wirtin und trinkfreudige, lustige und höfliche Tresengesellen. Nun kam mir sicher zupass, das Deutsche zu dieser Zeit noch von dem Ruhme zehrten, der auf den »Leistungen« des vergangenen Weltkriegs fußte, und die in den Augen der Iren darin bestanden, den verhassten Brits während der Luftschlacht um England eine ordentliche Anzahl von Bomben auf die Städte geknallt zu haben. Vielleicht half mir auch, dass mich mein mageres Schulenglisch kaum etwas von der angebotenen Konversation verstehen ließ. So verließ ich das Lokal ohne ein blaues Auge, ohne Alkoholvergiftung, aber mit neuen »Freunden«. Allerdings: Solcherart Pub-Freundschaften in Irland überstehen die Nacht meistens nicht. Betritt man den Ort des Geschehenen am nächsten Tag erneut, darf man sich nicht darüber wundern, wenn sich der Freund von gestern heute ausschließlich seinem Pint und seinem Whiskey zuwendet, ohne überhaupt so etwas wie Wiedersehensfreude erkennen zu lassen. Ein Nicken kann dann schon als besondere Herzenswärme verstanden werden. Verstehe einer die Iren.
Eine signifikant lange Liste von aufgesuchten Hafenkneipen habe ich in meinem Leben danach nicht zusammentragen können; mir fällt allenfalls Gunter Gabriels ehemaliges Stammlokal »Harburger Fährhaus (bei Rosi)« ein, wo seinerzeit, so erzählte es die Inhaberin – der skurrile österreichische Schlagersänger Christian Anders (»Es fährt ein Zug nach Nirgendwo«) einige Zeit auf einer Eckbank nächtigte, nachdem ihm die zusammengesungene Kohle ausgegangen war. Ob er – wie ich an meinem Besuchstag – ständig das dümmliche Liedchen »Der Habicht von Rio und die Schnarchlappen« über sich ergehen lassen musste, sagte Rosi aber nicht. Berühmt war das Fährhaus für seine angeblich legendäre Pferdecurrywurst.
Mach keinen Ärger
Der Autor Daniel Röhnert hat sich vielen dieser Orte in aller Welt mutig genähert. Davon zeugen dreizehn mit vorzüglich trockenem, aber nicht schmucklosem Humor geschriebene Kapitel seines 2022 im Selbstverlag herausgegebenen Werkes »Hafenkneipen – Ein praktischer Reiseführer«. Nach einem fulminanten Vorwort, in dem der Autor die damals üble Gegend um die berüchtigte Bowery im New York des mittleren bis ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts (die mit ihren prekären Spelunken – allen voran »John McGurk’s Suicide Hall« – als Vorbild für O’Neills Schauplatz »Harry Hope’s« diente) skizziert und mit der heutigen Zeit kontrastiert, geht er selbstbewusst, doch nicht überheblich, vor allem aber neugierig dorthin, wo es – aus Sicht eines durchschnittlichen Pauschaltouristen – weh tut und wo er (der Pauschaltourist) allenfalls mit Polizeischutz hinginge. Dorthin, wo »wir« (Steinmeier), der sogenannte »Wertewesten«, uns unsere hochmoralistischen, angeblich ach so universellen Werte sonstwohin stecken können.
Wer solche Pubs, Bars oder Dives betritt weiß, dass er nicht weiß, was ihn erwartet. Als Röhnert in einer mexikanischen Bar im Hafengebiet von Los Angeles angesichts eines offenkundigen Troublemakers (»Du musst aufpassen, mächtig aufpassen, sonst bekommst du eines Tages aber dermaßen eins aufs Maul, und das hast du nur verdient«) den Bartender fragt, ob es hier häufiger Ärger gebe, antwortet der: »Gelegentlich, ist ja eine Hafengegend.« Durch eine größere Menge irgendeines mexikanischen Bieres (meine Wahl wäre Tecate gewesen) angetrieben, erörtert Röhnert mit dem Barkeeper die verschiedenen Optionen, wie man aus einer Kneipenauseinandersetzung am besten nicht als zweiter Sieger hervorgeht. Er erwägt: »Ich nehme eine Rolle Quarters, umschließe sie fest mit meiner Faust …«. Die ausgeschlafene Thekenfachkraft lacht nur und lässt wissen: »Bis du das gemacht hast, hat er ein Plastikfeuerzeug in der Faust und rammt’s dir von oben auf den Kopf.« So würde es wohl sein. Und dann gibt es noch eine Gratislektion für unseren mutigen Reiseschriftsteller: »Du hast jetzt genug drin« – und plötzlich auf Deutsch – »Auf Wiede’sehen, mein Freund.«
Ein Land rotzt
Doch nicht überall auf der Welt lauert Ärger hinter jedem Pitcher. Im Südpazifik etwa kann der Weltenbummler europäischer Provenienz (dort von den Einheimischen Palangi genannt) mit zumeist entspannter Ansprache rechnen – und dies ohne, dass man je davon gehört hätte, die Luftwaffe habe Bombenangriffe auf historisch gewachsene Feindesländer geflogen. Auf Samoa gewährt ihm ein Mann namens Lucky »Schutz«, ohne dass es einen erkennbaren Grund für dieses Angebot gibt – wenn man einmal von den Geschäftsanbahnungsversuchen der unvermeidlichen örtlichen Liebesdienerinnen absieht. Im Königreich Tonga erträgt er im »Tonga Bob’s« »Half man, half woman«-Tanzpersonen, die zu Queer-Disco-Knallern (Sie wissen schon: »I will survive«, »I am what I am«, »It’s raining men« usw.), in Stöckelschuhen um »ganze« Männer herumschawenzelten und sich von ihnen Geldscheine zustecken ließen. Auf den Färöer Inseln wird dem deutschen Hafenkneipenreisenden höflicherweise der deutsche Gruß entboten und dazu ein fröhliches »Heil Hitler!« entgegengeschmettert. Das ist nichts für Sensibelchen. Auch auf ein fachkundiges Gespräch über Überlebenschancen beim Kielholen in einer Bar am Regent Quay in Aberdeen darf sich der Leser freuen. Die schlüssig dargelegte Antwort lautet: FF BD. Das leuchtet ein. Was gibt’s noch? Einem gängigen Klischee folgend, versteht man sich in Frankreich aufs Savoir-vivre. Ob Rosé-Kampftrinken in einem Café an der Kanalküste dazugehört, lässt das Buch offen. Immerhin: Wie Rosé schmeckt, weiß so ziemlich jeder. Wie das im Westpazifik traditionell gereichte Getränk aus der Kava-Pflanze (lat. Piper methysticum, auf Deutsch Rauschpfeffer) zubereitet wird und schmeckt, vermutlich nicht. Glauben wir dem Autor:
»Kava wird in Kava-Bars gereicht. Die dünnen Wurzeln werden zunächst ausgesucht und gebündelt und durch einen Fleischwolf gedreht. Die Pflanzensäfte werden aufgefangen und mit Wasser und den Wurzelresten durch ein altes T-Shirt abfiltriert, solange bis das Extrakt dem Kennerblick der Barmänner standhält. (…) Der Geschmack im Mund ist pfeffrig. Nach Jahren des Konsums sei der Geschmack kaum noch zu ertragen, sagte unser Gastgeber, weswegen er gern eine Schokomilch dazu trinkt. Alle anderen spucken, nachdem sie an der Hinterwand ihres Rachens ein wenig Speichel zusammengeröchelt haben, den Restgeschmack aus. Ein ganzes Land rotzt laut und kehlig vor sich hin.«
Mit dieser Textur im Mund und Dröhnung im Hirn (»funktioniert«, urteilt Röhnert. Und: »Ein ziemlich überzeugendes Produkt«) lässt sich dem diesbezüglich wissensdurstigen Häuptling auf Vanuatu auch gleich viel besser erklären, was es eigentlich mit diesem ominösen Kommunismus auf sich hat (»Ich habe von dieser Sache gehört, Kommunismus, was ist das, worum geht es?«).
Apropos Geschmack: Selbst im dem »globalen Norden« abgewandtesten Winkel dieser Erde sieht sich der Autor immerwährend den brutalen Bombardements der globalen Bierindustrie ausgesetzt: den Produkten der (Geschmacks-)Verbrecher-Großkonzerne Carlsberg und Heineken. Dem können Sie problemlos entgegentreten; überall auf der Welt werden mehr oder weniger löbliche lokale Biere gebraut, selbst auf Tahiti, das kleiner ist als Hawaii. Falls Sie da mal rumkommen: Fragen Sie danach. Oder lesen Sie es nach bei Daniel Röhnert; der Mann kennt sich aus.
Marco Gottwalts ist freier Autor, Kneipenkenner und würde gerne mal Frank Zander treffen. Er lebt in Frankfurt am Main
Daniel Röhnert: Hafenkneipen – Ein praktischer Reiseführer. Eigendruck im Selbstverlag, Frankfurt am Main 2022, 150 Seiten, 18 Euro, zu beziehen über hafenkneipen@gmx.de
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