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Aus: Ausgabe vom 19.10.2024, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Kindheit im Nachkriegsberlin

»Als Jugendlicher begann der Plan, ganz weit wegzugehen«

Über das Aufwachsen in Westberlin, Ungleichheit trotzende Freundschaften und ein Waisenhaus in Kapstadt. Ein Gespräch mit Lutz van Dijk
Interview: Lena Reich
Große Familie: Die Waisenkinder des »Homes for Kids in South Africa«-Heims im Township Masiphumelele (Kapstadt, Dezember 2023)
Lutz van Dijk

Sie haben im zurückliegenden Sommer Ihren autobiographischen Roman »Irgendwann die weite Welt« veröffentlicht. Darin erzählen Sie von Ihrem Aufwachsen in Westberlin Ende der 1950er bis in die 60er Jahre. Zur Zeit sind Sie mit dem Buch auf Lesereise durch Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Wie läuft es?

Die Lesungen sind ausverkauft. Das große Interesse, die Fragen zu dem Buch sind eine Überraschung für mich, weil ich eher bescheiden über mein Leben denke. Aber es scheint, als würde das Gespräch über die Möglichkeit für eine sprachlose Zeit, doch Worte zu finden, Leute berühren. Es sind aber nicht nur Leute meiner Generation im Publikum, sondern immer auch viel, viel Jüngere, die mit einem ganz anderen Selbstverständnis von Kindheit und Queerness sozialisiert sind.

Sie sind 1955 geboren und heute ein schwuler, selbstbewusster Mann, der mehr als 40 Bücher herausgebracht hat. Wie waren Sie als Kind?

In erster Linie war ich ein teures Kind, weil meine Eltern die Schulden für eine überlebenswichtige Magenoperation, die ich als Baby hatte, zehn Jahre lang bei der katholischen Kirche abstotterten. Aber ich war vor allen Dingen ein Suchender. Ich wusste nicht, wo ich hingehörte. Die Außensicht auf mich war sicher, dass ich ein artiger Junge, aber ein sehr schwieriger Jugendlicher war. Das stimmt weitgehend.

Heute ist Lankwitz ein gutbürgerlicher Stadtteil im Westen Berlins. Als Sie Ende der 50er Jahre mit Ihren Eltern und Ihrem älteren Bruder dort wohnten, lebten vor allem arme Menschen in einem Teil von Lankwitz. Wie haben Sie die Gegend erlebt?

Mein Bruder und ich spielten viel in den Kriegsruinen, was uns unsere Mutter streng verboten hatte. Wir zogen bald von einer Alt- in eine Neubauwohnung. Meine Mutter kniete beim Einzug vor der Heizung und sagte immer wieder: »Es wird warm.« Die Zeit des Kohleschleppens war vorbei. Uns gegenüber war die sogenannte Mau-Mau-Siedlung: Dort wohnten Flüchtlinge, Vertriebene und Ausgebombte. Wir wohnten quasi in einer sozialen Brennpunktgegend, wo die Kinder auch im Winter ohne Schuhe zur Schule kamen. Es gab ein großes Ausmaß an Armut, und diese Kinder faszinierten mich: wie dort ganz andere Kommunikations-, aber auch ganz andere Freundschaftsstrukturen eine Rolle spielten. Meine Eltern sagten immer wieder: Spielt nicht mit denen, das gibt Ärger.

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern …

Genau, wie das schöne Lied von Franz-Josef Degenhardt. Aber diese Schmuddelkinder wollte ich kennenlernen: Oleg, ein russischstämmiger Deutscher, seine Tante Ludmilla, Lisa. Sie wurden meine Freunde, worüber ich sehr glücklich war. Und sie akzeptierten endlich auch meinen besten Freund Anton, der in meinem Haus wohnte und wegen einer Knochenkrankheit extrem mager und unsicher war. Am Ende unserer Grundschulzeit haben wir, einige Kinder aus den Neubauten, mit den Kindern aus den Sozialbauten in einer Fußballmannschaft gespielt. Und ja, wenn Sie so wollen, wurden damals riesige soziale Unterschiede von so ein paar Kindern überbrückt. Das war nicht gesellschaftsverändernd, aber das veränderte unsere kleine Welt.

1961 wurde die Mauer gebaut. Hat der Bau Ihr damaliges Leben in irgendeiner Weise tangiert?

Wir wohnten nicht weit weg von der Mauer. Als Kind habe ich Fußball gegen sie gekickt. Als Jugendlicher wurde mir klar, dass ich nicht einfach in die Welt aufbrechen könnte, wenn ich nicht einen Pass habe und somit durch die DDR »in die Welt« kommen kann. Aber tatsächlich war Berlin-Lankwitz ein Dorf.

Sie erzählen sehr intensiv von Ihrer Mutter, die mit Migräne kämpfte. Wie stark war sie vom Krieg traumatisiert?

Ganz stark. Sobald das Wort Krieg nur fiel, reagierte sie panisch, schloss sich im Klo ein. Wir haben sie heulen gehört. Oft hat sie sich tagelang hinter zugezogenen Gardinen verbarrikadiert und war nicht ansprechbar. Einmal hatte sie eine Andeutung gemacht: Als die russischen Soldaten in Berlin waren, versuchte sie sich mit alter Kleidung und Kohle im Gesicht auf alt und hässlich zu schminken. Das hätte einmal eben nicht geklappt. Daher wussten wir, dass sie vergewaltigt worden war. Und wie wir später auch von unserer Oma erfahren haben, wohl auch von mehreren Soldaten. Der Krieg blieb eine offene Wunde. Und Sprachlosigkeit beherrschte den Alltag. Es war unvorstellbar für eine arme Familie, eine Therapie zu machen. Unvorstellbar, weil viele dachten, dass so etwas nur für verrückte Reiche gewesen wäre. Und meine Mutter hätte sich selbst nie als verrückt bezeichnet.

Wie hat sich diese erlebte Gewalt im Alltag bemerkbar gemacht?

Gewalt an Kindern war normal. Mein Freund Oleg wurde von seinem alkoholkranken Vater missbraucht. In der Schule kamen Lehrer, die kriegsversehrt waren und Nazis, die nur Befehle kannten: Marsch, Marsch! Hinsetzen! Mund halten! Diese Lehrer prügelten in der Grundschule und auch in der Oberschule. Da fand keine Elternschaft, dass das ein Problem sein könnte. Erst langsam änderte sich etwas. Meine Klassenlehrerin, die wir alle liebten, war so ein tolles Vorbild. Bei uns daheim gab es keine körperliche Gewalt.

Aber Ihre Eltern stritten sehr viel …

Sie stritten sich immer wieder aufs heftigste und redeten dann drei Tage kein Wort miteinander. Es war wie in einer Totenkammer. Wir haben gegessen, ohne ein Wort zu reden. Wir haben uns angezogen und sind aufs Klo gegangen, ohne ein Wort zu reden. Dieses Schreien und Schweigen, das war gewaltvoll. Ich habe stets versucht, sie zu versöhnen, mit kleinen Zettelchen und Briefchen und kleinen Blumen draufgemalt. Als ich irgendwann als Jugendlicher realisiert habe, dass das nicht erfolgreich ist, begann der Plan, ganz weit wegzugehen. Ich wollte ein eigenes Leben führen und niemandem zur Last fallen.

Würden Sie dennoch sagen, Sie hatten eine »gute« Kindheit?

Wir waren sicher eine arme Familie, aber wir hatten Schuhe, Essen und waren nicht so arm wie die Kinder in der Siedlung gegenüber. Ich fühlte mich sicher. Meine Eltern waren sehr emotional und kannten keine Scham, auch nicht körperlich. Mein Vater stand nackt vor dem Spiegel und hat sich eingecremt, und wir haben irgendwie gedacht: »Oh, der sieht ja gut aus.« Und: »Der hat ja tolle Muskeln.«

Also war Ihr Vater auch Vorbild für Sie?

In jedem Fall. Er brachte uns viele Sachen bei, wie man etwa Schuhe flickte, Dinge reparierte, und zeigte uns, verantwortungsvoll mit Ressourcen umzugehen. Und meine Mutter hat uns, wenn sie nicht Angst vor Krieg hatte, am Abend liebevoll ins Bett gebracht. Wir fanden es immer ganz toll, wenn sie uns dann geküsst hat. Also, es gab auch gute Momente in meiner Kindheit.

Das große Schweigen über die Nazizeit wurde erst zehn Jahre später gebrochen. Wie gelingt es Ihnen dennoch, in Ihrem Roman eine Sprache für diese Sprachlosigkeit zu finden?

Ich versuche, sehr konsequent die Sichtweise des Kindes einzubehalten. Also: Der Junge sieht. Er beobachtet, hat aber nur begrenzte Worte, um das zu beschreiben, was er denkt. Trotz der begrenzten Worte wollte ich nachvollziehbar machen, wo dieser Junge, also ich, am Anfang verloren war, aber dann durch eine Beharrlichkeit doch einen Weg findet. Es ist ja nicht nur der Krieg. Ich habe sehr früh bemerkt, dass ich nicht auf Mädchen stehe. Ich fand Jungenskörper faszinierend. In meiner Kindheit gab es überhaupt kein Wort für »homosexuell«. Und »schwul«, wenn es irgendwo auftauchte, war weitgehend unverständlich oder was ganz Negatives für Jungs, die sehr weiblich waren oder halt nicht als »echte Jungs« galten.

Anton, der etwas ältere Nachbarjunge aus der Neubausiedlung, wurde Ihr bester Freund und »Ihr« Freund. In einem Kellerversteck haben Sie gelesen, gekuschelt, onaniert.

Als ich mit 13 oder 14 Jahren realisierte, dass es den Paragraphen 175 gab, gegen Männer, die andere Männer oder Jungs begehrten, begriff ich, dass ich im Grunde kriminell war. Aber ich habe gedacht, das Gesetz muss sich irren. Ich habe mich niemals als kriminell gefühlt. Erst bei meinem Freund Martin, Sohn eines US-Soldaten und einer Berlinerin, habe ich mich geoutet. Da war ich dann schon 15.

Sie schreiben in Ihrem Buch, wie Sie eine »Herrenbar« aufsuchen. Wie war das?

Mein Freund Martin, der ja nicht schwul war, hatte mich ermutigt, mir mal »richtige Schwule« anzugucken. Über seinen älteren Bruder John hatte er erfahren, dass es in Schöneberg Treffpunkte für Schwule geben solle. So bekam ich auch eine erste Anschrift. Ich fuhr also eine Stunde mit dem Fahrrad von Lankwitz nach Schöneberg in die Motzstraße. In einer Kellerbar klopfte ich an die Tür, wurde hereingelassen, nachdem ich behauptet hatte, nicht 15, sondern volljährig zu sein. Und dann saßen da diese griesgrämigen älteren Herren an einer Theke, starrten mich an und kriegten den Mund nicht auf. Ich war entsetzt. Das sollten richtige Schwule sein? Ich war mit Abstand der Jüngste an diesem Abend. Ich trank meinen Apfelsaft, und als dann immer noch nichts passierte, habe ich nur gedacht: Wenn das jetzt Schwule sind, dann bin ich vielleicht doch nicht schwul. Ich bin nie wieder dahin.

Der Paragraph 175 wird in der Bundesrepublik 1969 abgemildert, und Schöneberg entwickelt sich zum Synonym der freien, schwulen Szene. Sie gehen nach New York, werden nicht mehr nach Berlin zurückkehren. Heute leben Sie in Kapstadt, wo Sie 2001 gemeinsam mit Ihrem Mann sowie südafrikanischen Aktivistinnen und Aktivisten ein Kinderhaus in einem Township gegründet haben. Wie kam es dazu?

Auf meiner ersten Reise durch Südafrika – zu Apartheidzeiten hatte ich Einreiseverbot – traf ich Ende der 1990er Jahre eine Krankenschwester, mit der ich viel über AIDS redete, eine Krankheit, die im Westen vor allem die Homosexuellen betraf. Es gab bereits antiretrovirale Medikamente gegen die HIV-Infektion, aber nicht in Südafrika. Präsident Thabo Mbeki, der Nachfolger von Nelson Mandela, hatte das damals verhindert. Er leugnete das Virus und verteufelte die Pharmaindustrie, ließ aber faktisch vor allem die Mehrheit der armen Menschen im Stich. Seinetwegen starben nachweislich mehr als 300 000 Menschen. Als ich die Krankenschwester fragte, wie ich sie unterstützen könnte, sagte sie: »Wir brauchen diese Medikamente, und wir brauchen ein Zuhause für die Kinder, deren Eltern an AIDS verstorben sind. Sie werden sonst auf der Straße sterben.«

Sie haben mit Freundinnen und Freunden Geld gesammelt und das »Homes for Kids in South Africa«, kurz Hokisa, in Masiphumelele, einem der kleineren Townships in Kapstadt, errichtet.

Es gab bereits ein Grundstück auf einem ehemaligen Müllplatz, aber kein Material zum Hausbauen. Dafür wurde das Geld gesammelt. Maurer, Tischler oder Dachdecker aus dem Township haben dann das erste Haus gebaut, nach Feierabend, kostenlos. Weil die Idee allen einleuchtete. Für die Medikamente habe ich eine deutsche Medikamentenorganisation gefunden, die uns einmal im Monat auf Rezept unseres Kinderarztes die Medikamente geschickt hat.

War das nicht illegal?

Klar. Auf der Zollerklärung durfte nicht »Antiretroviral« stehen. Also stand da »Antibiotika«. So haben wir über ein Jahr lang Medikamente ins Land gebracht. Als das dann endlich durch einen neuen Gesundheitsminister geändert wurde, haben wir uns wahnsinnig gefreut. Und dann haben wir alles verbrannt in einem Lagerfeuer, was uns noch hätte Schuld nachweisen können. Immerhin hatten wir eine geheime Rückendeckung: von Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu.

Das Waisenhaus Hokisa besteht mittlerweile seit 22 Jahren …

Masiphumelele ist mit rund 40.000 Bewohner*innen das kleinste und südliche Township von Kapstadt. Es entstand am Ende der Apartheid, als Menschen sich ansiedelten, weil sie auf der Suche nach Arbeit aus dem Ostkap gekommen waren. Viermal kam das Militär und zerstörte die einfachen Blech- oder Holzhütten mit Gewalt. 1994 wurde Nelson Mandela Präsident und garantierte allen Menschen in Südafrika ein Bleiberecht da, wo sie wohnten. Zu Beginn hieß deshalb die Siedlung auch Site 5, die Bewohner selbst nannten es in Xhosa Masiphumelele, was soviel heißt wie: »Wir werden es schaffen.«

30 Jahre gehören die ständig wachsenden Townships mit ihrer maroden Architektur zum traurigen Normalbild Südafrikas. Wie hat sich die Struktur seit Ihrer Ankunft in Ihrer Nachbarschaft verändert?

Unser Kinderhaus liegt in der Gegend von Masi, in der es Strom, Wasser und eine Müllabfuhr gibt, nicht weit entfernt von einer Grundschule, einer Tagesklinik und einer Bibliothek. Knapp ein Drittel der Menschen leben hier so wie wir: privilegiert. Die anderen zwei Drittel leben den Umständen entsprechend miserabel. Die »Wetlands« stehen etwa ganz ohne Infrastruktur da. Da teilen sich dann mehrere Häuser eine Toilette. Meist sind das so eine Art Dixi-Toiletten. Die Umgebung ist nachts nicht beleuchtet. Die Zahlen körperlicher und sexueller Gewalt sind extrem hoch.

Seit den Wahlen 2024 gibt es eine Koalitionsregierung in Südafrika mit der Democratic Alliance. Hat sich seither vor Ort irgend etwas merkbar verändert?

Nein. Nichts.

Sie sind in der Nachbarschaft anerkannt und arbeiten eng mit dem Sozial- und Jugendamt zusammen. Was erwartet die Kinder bei Ihnen?

Die meisten Kinder, die zu uns kommen, sind Waisen, deren Eltern an AIDS verstorben sind. Nicht selten sind sie selbst infiziert. Viele von ihnen haben bereits in ihren jungen Jahren extreme Gewalterfahrungen gemacht. Sie haben auch keine Verwandten mehr, die sie aufnehmen könnten. Bei uns finden rund zwanzig Kinder ein dauerhaftes Zuhause und stabile Beziehungen, so dass sie sorgenlos ihrer Schul- und Berufsausbildung nachgehen können. Wir unternehmen mit ihnen viele Ausflüge, gehen einmal in der Woche in eine Bibliothek. Wir versuchen, zuerst eine Familie zu sein und keine Institution.

Lutz van Dijk, 1955 in Westberlin geboren, ist Pädagoge und Buchautor. Er lebt im niederländischen Amsterdam und im südafrikanischen Kapstadt. Von ihm sind dieses Jahr in deutscher Sprache der Roman »Irgendwann in die weite Welt«, die Neuausgabe des Bands »Jüdische Leben. Berichte aus 4.000 Jahren« und das Kinderbuch »Damals hieß ich Rita. Die Geschichte von Rozette Kats« erschienen.

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