Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 19.10.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Großer Tiergarten

Schleichender Ruin

Weltberühmt: Der Große Tiergarten in Berlin steht zwar unter Denkmalschutz, aber auch unter vielfältigem Stress
Von Gisela Sonnenburg
Architektonisches Juwel: Das deutlich zerstörte Teehaus nach einem Feuer
Vereinzelung statt Dreierbaumgruppen ist die neue Devise im Bezirk Berlin-Mitte
Verschlammt und im Sommer algengrün: Eines der vielen Gewässer im Tiergarten

Was wäre Berlin ohne seinen Großen Tiergarten? Das Auslaufgebiet für menschliche Städter ist seit dem 16. Jahrhundert historisch gewachsen und wandelte sich unter Friedrich II. vom Jagdgebiet zum Stadtpark. Die organischen Linien, die die Natur hier zeichnet, sind von beeindruckender Schönheit. Zugleich ist Berlins größter Park zentral gelegen – und ein Spiegel der Seele der Hauptstadt. Einwohner und Touristen, Einsame und Gruppenmenschen finden sich im grünen Heiligtum. Doch mit der Ruhe ist es längst vorbei. Seit die Sandwege zu mit Sand bestreuten Pflasterstraßen umgebaut wurden, rasen die Radler wie auf Rennstrecken hindurch. Spaziergänger fühlen sich mitunter fehl am Platz. Neu eingezogene Wege lichten zudem die Waldanteile.

Der jüngste Trend im Tiergarten hat mit den Radwegen zu tun, er stammt aus New York oder Sankt Petersburg, vielleicht auch aus Castrop-Rauxel: Leute auf Fahrrädern kutschieren ihr Haustier im kindgerechten Anhänger durch die Natur. Mag in der Welt Krieg herrschen, mögen die Preise explodieren, mag das Leben zunehmend schwer sein: Im Tiergarten ist die Welt noch überschaubar und augenscheinlich fast in Ordnung. Dazu passt dieses Hobby der Hundeberliner. Für sie ist selbstverständlich, dass eine Bracke, also ein Jagdhund, majestätisch in einer Art fahrendem Zelt thront. Oder dass eine ältere Dame sich auf einem Fahrrad ohne Gangschaltung abstrampelt, damit ihr schmutzigweißer Terriermix Frischluft bekommt. Der moderne alte Hund geht nicht mehr Gassi, er wird Gassi gefahren.

Markus Schwenke, zuständiger Revierleiter vom Bezirksamt Mitte von Berlin, ist schon froh, wenn die Vierbeiner nicht ohne Leine durchs Gebüsch pesen. Dort könnten sie zur Brutzeit nicht nur die Vegetation zertrampeln, sondern auch die am Boden brütenden Nachtigallen, die heimlichen Hüterinnen der Lieder der Nacht, vertreiben. Das wär’s dann mit dem Nachwuchs der selten gewordenen Vögel.

Anfällig geworden

Artenvielfalt ist ein Stichwort, wenn es um den Naturschutz geht. Auffallend ist das Leid aller Bäume, wenn Stürme und Hitze sie ramponieren. Obwohl der diesjährige Sommer reich an Regen und an Stürmen eher arm war: Insgesamt hat sich die Trockenheit in den vergangenen 20 Jahren stark verschärft. Die Bäume wurden dadurch anfällig. Hinzu kommen Winde, die stärker sind und öfter stürmen als früher. Die sensible Erdkrume zerbröselt unter ihnen, kann kein Wasser mehr aufnehmen noch speichern.

»Im Tiergarten haben wir das Problem, dass es unter der Krume nur noch Sand gibt«, sagt Schwenke. Der durchlässige Boden müsste besonders intensiv bewässert werden. Aber Schwenkes Straßen- und Grünflächenamt in Berlin-Mitte hat für die Pflege der öffentlichen Grünanlagen im Revier des Tiergartens gerade mal 37 Außendienstmitarbeiter. 210 Hektar groß ist allein der Tiergarten. Für die Mülleimerentleerung nach Wochenenden und Feiertagen werden darum Aufträge an externe Dienstleister erteilt, leider aber auch für die Baumpflege.

Wenn man dann die traurigen Reste eines Holzfällermassakers sieht, weiß man: Hier waren bezahlte Kräfte im Auftrag des Bezirks Mitte am Werk. Sie haben zur Natur wohl oftmals eine Nullbeziehung. In diesem Jahr wurden nahe dem Großen Stern schon im September radikale Rückschnitte ausgeführt, was gesetzlich wegen der Vogelbrut verboten ist. Ohne gewichtigen Grund darf in Deutschland nur in der Zeit von Oktober bis Februar gefällt und stark zurückgeschnitten werden. Aber in Berlin fehlen Mittel und gutes Personal. Dabei ist der Tiergarten ein Gartendenkmal, steht also unter besonderem Schutz.

Demnächst soll in der Hauptstadt aber noch mehr gespart werden, auch am öffentlichen Grünzeug. So mancher Baum – ob Eiche, Ahorn oder Buche – dürfte dadurch bedroht sein. Offiziell wird zwar nur mit Notwendigkeit gefällt. Aber wenn man hinsieht, wie drastisch der Baumbestand in den vergangenen Jahren verändert, sprich reduziert wurde, gewinnt man den Eindruck, hier gehe es nicht ums Wohl der Landschaft, sondern darum, die Sache mit möglichst wenig Aufwand in den Griff zu bekommen. Bäume regelmäßig auszulichten und auf ihre Standfestigkeit zu überprüfen, ihr Laub zu beseitigen und ihre Krankheiten zu kurieren ist schließlich aufwendig.

Der neueste Vorwand zur Fällung: Bäume, die mal nach altem Rezept in kleinen Gruppen gepflanzt wurden, damit sie sich gegenseitig vor Wind und Sonnenhitze schützen können, werden von drei auf einen Baum vermindert. Weil sie sich nach neuer Lesart angeblich gegenseitig behindern. Nun ist die Bildung eines Laubdachs in solchen Fällen aber eigentlich erwünscht, und dass Bäume, die jahrzehntelang harmonisch miteinander wuchsen, plötzlich als gegenseitige Feinde interpretiert werden, wirkt doch arg abstrus. Solistisch ist ein Baum zudem bei Sturm viel stärker gefährdet als im Trio.

Christian Zielke von der Pressestelle des Bezirksamts Mitte bemüht viele Worte, um die geplanten Abholzungen plausibel zu machen und zu rechtfertigen. Artenvielfalt und die Vitalität der Bäume werden als Gründe angeführt, da die Bäume angeblich miteinander konkurrieren. Licht und Wasser seien für den einzelnen zu knapp, so dass man die Baumanzahl durch Fällungen herunterschraubt.

Altes schützen

Aber gegen Wasserknappheit würde ganz klar eine bessere Bewässerung helfen. Und wenn ein Baum zuwenig Licht hat, sieht man ihm das an. Prophylaktische Fällungen wirken eher willkürlich. Und: Seit über zehn Jahren wird im Tiergarten auch nach Sicherheitskriterien umgestaltet. Man kann es drehen und wenden, wie man will – dem Tiergarten droht schleichender Kahlschlag. Daran werden einige Jungbäume und die robusten Büsche, die ans trockenere Klima angepasst sind und die neu gepflanzt werden sollen, nicht viel ändern. Denn das Herz eines solchen Parks ist sein Bestand an alten Bäumen. Sie müssten viel stärker geschützt statt leichtfertig gefällt werden.

Die alten Bäume sind dickstämmig und hochgewachsen. Sie verbrauchen weniger Wasser als junge Bäume und liefern dennoch mehr Sauerstoff, wobei sie auch noch mehr CO2 aus der Luft ziehen als jüngere Exemplare. Alte Bäume sind also extrem nützlich. Und schön dazu. Das Rauschen ihres Laubes bezaubert im Sommer, im Winter ragen ihre kahlen Äste am Horizont malerisch weit in den Himmel. Buchen verströmen den Charme gewachsener Historie. Große Ahornbäume wirken mysteriös, sind oft teils hohl, können die innere Leere aber heilen. Alte Eichen beeindrucken mit Verzweigungen. Diese Bäume können Jahrhunderte überdauern. Götterbäume hingegen, deren Handel noch von der EU verboten wurde, werden nur etwa 80 Jahre alt. Sie kommen aber gut mit Trockenheit zurecht und wurden vom Landschaftsgärtner Peter Joseph Lenné im 19. Jahrhundert als Glanzstücke in den Tiergarten gesetzt.

Solche Bäume ohne gewichtigen Grund zu fällen, das ist fürs Naturempfinden eine Schande und auch eine Sünde wider den Umweltschutz. Dennoch behauptet das Bezirksamt Mitte, ein nach etlichen Fällungen verbleibender Baumbestand gleiche den Laubverlust wieder aus, weil sich die nicht gefällten Bäume besser entwickeln könnten. Man hat es allerdings nie erlebt, dass ein Baum Laub für drei entwickelt.

Naturschutz ist in Zeiten, in denen Grünen-Politiker Waffen ohne Ende herstellen und abfeuern lassen, wohl nur noch was für Utopisten. Wälder werden heutzutage zerstört, damit naturfeindliche Windräder installiert werden, und Wiesen werden plattgemacht, damit Solarfelder entstehen, an denen Vögel sterben, die sie für Seen halten und mit hohem Tempo zur Landung ansteuern. Unter den Solarplatten herrscht ewiger Schatten – die bunte Vielfalt von Blühwiesen hat da keine Chance. In solch einer Zeit soll ausgerechnet ein Stadtpark aufwendig gepflegt werden?

Es wäre ein Anfang, zur Vernunft zurückzufinden. Berlin müsste in seine Parks, allen voran in den Großen Tiergarten, viel mehr investieren, als es das tut. Der Verfall der Stadt würde damit, zumindest was Grünflächen angeht, aufgehalten. Ob man zusätzlich Regeln findet, um die Feierlustigen, die ihren Müll hinterlassen, zur Rechenschaft zu ziehen, ist eine weitere Frage. Denn der Schutz des Parks hängt auch vom Verhalten seiner Nutzer ab und der Menge an Abfallbehältern, wobei Berlin beispielsweise über deutlich weniger als Hamburg oder Wien verfügt.

Abbild der Gesellschaft

Besonders tragisch muten die Zelte und provisorischen Behausungen von Obdachlosen im Tiergarten an. Mitunter riecht man sie, bevor man sie sieht, weil auch die Fäkalien ihrer Bewohner anbei zu finden sind. Vor allem aber stören sie die Tierwelt, denn nachts sind viele Viecher wie Füchse und Igel auf der Jagd. Schon der Geruch von Menschen kann sie stören. Man merkt: Auch ein so unpolitischer Ort wie ein Stadtpark zeigt auf, wie eine Gesellschaft versagt.

Nach Gesprächen mit den wilden Zeltern, durchgeführt von Sozialarbeitern, erfolgt die behördliche Räumung. Dann wird entsorgt, was nicht ins Grün gehört. Trotzdem steht oft bald ein neues Zelt da: Die Einsiedelei im Park ist für jene, die sonst nichts haben, verlockend. Aber auch Großveranstaltungen im Regierungsviertel – von der Fanmeile über die Demo bis zum CSD – stören und zerstören die Natur im Tiergarten. Außer den Bäumen leiden Büsche und Hecken. Die Bundesrepublik, meist verantwortlich für die Ansammlungen von Tausenden von Menschen, zahlt nicht einen Cent für die Pflege und den Erhalt des Tiergartens. Das ist eigentlich nicht einzusehen.

Singvögel brauchen laut Markus Schwenke nach einem Massenevent oft mehrere Tage, bis sie sich wieder trauen, »piep« zu sagen. Die Stille zwischen lautstarkem Fest und dem zarten Neuanfang der Vogelwelt ist kein gutes Zeichen für einen lebendigen Park. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zwar das Prinzip vom »Parkpflegewerk« entwickelt, um eine Pflegeplanung zu gewährleisten. Aber gut ist damit noch längst nicht alles. Dass die historischen Gasleuchten, einst als Freiluftmuseum in den Alleen installiert, schon seit Jahren nicht mehr intakt sind, ist noch das geringste Problem des Tiergartens. Der langsame Ruin der Natur ist hingegen substantiell.

Er betrifft auch die zahlreichen Gewässer, die das Durchwandeln des Parks so einzigartig erfrischend und zu einem echt romantischen Erlebnis machen könnten. Die meisten Teiche und Kanäle sind jedoch verschlammt und im Sommer algengrün. Das Geld, um sie zu pflegen, fehlt schon lange. Berlin hat zwar fast 1.500 Einkommensmillionäre. Auch Milliardäre leben in der Region: Friede Springer, die demnächst Ehrenbürgerin von Berlin werden soll, und Mathias Döpfner haben ihre Milliarden mit dem von Axel Springer gegründeten Verlag gemacht. Andere Berliner gründeten Konsumketten oder Softwarekonzerne. Aber keiner dieser Reichen und Superreichen hat ein Herz für den weltberühmten Tiergarten, der dringend größere Finanzspritzen braucht, um sein hübsches Gesicht zu wahren.

Kürzlich brannte auch noch das Teehaus nahe der Altonaer Straße ab. Ein Gutachten soll nun klären, ob man die Reste des einstigen Reetdachgebäudes nicht gleich ganz abreißen sollte. Damit verliert Berlin ein architektonisches Juwel. Aber in einer Stadt, in der ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung gerade verarmt, während zugleich ein luxuriöser Schattenmarkt existiert, wundern sich schon viele gar nicht mehr.

Die Oase der Erholung, sie ist bedroht. Und obwohl der Tiergarten viel Stress ausgesetzt ist – durch Touristenschwärme und Horden von Radfahrern, durch Großveranstaltungen und feiernde Besucher –, erhält der Bezirk Mitte keinerlei zusätzliche Mittel für den Prachtgarten. Der zuständige Stadtrat Christopher Schriner (Bündnis 90/Die Grünen) möchte dazu kein Statement abgeben.

Noch bleibt den Berlinern die Möglichkeit, sich beim Spazierengehen im Tiergarten eins zu fühlen mit der Natur und kurzzeitig aus der Hektik auszusteigen. Einen Platz zu finden, an dem man keinen Verkehrslärm hört, gelingt dort allerdings nicht mehr. Vor 15 Jahren war das anders – wie so vieles.

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