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Aus: Ausgabe vom 21.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Krafttier Wal

Steigender Esofaktor: Kleine Kulturkämpfe auf der Frankfurter Buchmesse
Von Peter Merg
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Stand der Dinge: Mehr Wald

»Rotbraune Putin-Faschos«, schreit die junge Russin mit der weißen Rüschenbluse im Weggehen, während ihr Begleiter empört den Kopf schüttelt. Sie waren am Sonnabend an den jW-Stand auf die von Besuchern überrannte Frankfurter Buchmesse gekommen und hatten sich lautstark eingemischt, als eine ukrainische Frau (weniger Elan) und ihr deutscher Mann (mehr) mit blau-gelben Fahnen über den Schultern angefangen hatten, »Stunk zu machen«, wie der untersetzte Deutsche mit Bierbauch und Brille unumwunden zugab. Normale Härte für die Mitarbeiter am Stand. »Ein-zwei von der Sorte hast du immer pro Tag«, sagt Ingo Höhmann, Veteran des jW-Aktionsbüros. Als er und die ebenfalls heftig angegangene Chefredakteurin von Melodie & Rhythmus, Susann Witt-Stahl – die kurz zuvor einen von ihr herausgegebenen Band über den ukrainischen Faschismus vorgestellt hatte – bemerken, dass die Vier Vernunftgründen nicht zugänglich sind, lassen sie sie abblitzen. Was will man auch antworten, wenn es wegen einer kritischen Beschäftigung mit rechten Kräften heißt: »Ihr verratet den antikolonialen, antiimperialen Kampf des ukrainischen Volkes«? Allgemeine Begriffslosigkeit ist ein Signum der Zeit, die Nichtdiskussionsfähigkeit die Argumentationstechnik der Analphabeten.

Der ukrainische Nationalismus mag in Frankfurt am Main viele Anhänger haben, auf der Messe selbst begegnet man ihm eher selten im Vergleich zu anderen Erscheinungen des Irrationalismus. Die religiösen Grüppchen, von der Bibel- und Schriftenmission bis zu den Ahmadiyya-Muslimen, sind immer da und weitgehend harmlos. Störender ist da die Bundesbank, oder dass jedes Bundesland gefühlt zwei Repräsentationsstände bestückt. Doch auch sonst hat der Esofaktor zugenommen. Der tapfere italienische Meloni-Kritiker und Mafiaexperte Roberto Saviano erzählt existentialistisches Zeug über die Todesverachtung des organisierten Verbrechens, ohne politischen Gehalt. Tritt man zum Luftholen auf den Balkon, wabert einem entgegen: »… mehr Achtsamkeit, mehr in den Wald gehen, ein bisschen näher an der Natur sein …«. Steckt man in den Massen vor einer berstend vollen Leseinsel in der Halle 3.0, verfolgt einen die Abwägung auf der Bühne: »Ich glaube, mein Krafttier wäre ein Wal. Aber Krafttiere gehen eigentlich immer mit einem mit, vielleicht bräuchte ich da ein großes Aquarium.«

Verständlich, der leicht gequälte Gesichtsausdruck von Dichterfürst Thomas Gsella, der am Stand der Titanic die Wacht hält, bis irgendwann – wann genau? – die Ablösung aus der aktuellen Redaktion kommt. Die Rettung für das vor einem Jahr schwer angeschlagene »endgültige« Satiremagazin scheint noch immer aus seiner Vergangenheit zu kommen, jedenfalls verkauft sich der Nachdruck des ersten Heftes von 1979 mit dem berühmten »Titanic taucht was«-Titel augenscheinlich gut. Auch dass sich der aktuell arg aufreizend mit seinem Image als alter weißer Mann kokettierende Thomas Gottschalk generös zeigte, hatte offenbar seinen Anteil an der Sanierung. Er ist auf der Messe, um sein gerade erschienenes Buch vorzustellen, die »Bekenntnisse von einem, der den Mund nicht halten kann«. Das kann er tatsächlich nicht, auch wenn er in Frankfurt nahe dran ist, so fahrig wirkt er. Ob es als Parkinson-Patient klug ist, durch die Talkshows und Redaktionen zu tingeln, um zu verteidigen, dass er seinen Sohn wegen fallengelassener Vanilleeiskugeln ohrfeigte, muss er wissen, die in der Hand juckenden Belehrungsschellen lässt man schon deshalb stecken, um nicht in einen performativen Widerspruch zu geraten.

Zumal »Zigeunerschnitzel«-Fan Gottschalk an anderer Stelle auf seine unnachahmlich naive Art auch ein reales Ärgernis anspricht, freilich ohne es analytisch durchdringen zu können: Dass heute im Zeichen der Diskriminierungsbekämpfung oft einzelne Wörter oder Bilder symbolisch überhöht und mit Furor ausgetrieben, sogar historische Kunstwerke nachträglich gesäubert werden, ohne die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ausgrenzungs- und Ausbeutungsverhältnisse anzutasten. Moralischer Idealismus, magisches Denken. Dekadenzerscheinungen einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich selbst frisst.

Vielleicht doch mal wieder in den Wald gehen.

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