Abschied von der Petrokultur
Von Jörg TiedjenDie Westsahara-Befreiungsfront Polisario hat im vergangenen Monat einen großen Sieg errungen. Zum ersten Mal sei es einer antikolonialen Bewegung gelungen, direkten Zugang zu einem internationalen Tribunal zu erlangen, sagte am Freitag Manuel Devers, der Anwalt der Polisario-Front, bei einer Podiumsdiskussion im Berliner Mehringhof, die unter dem Titel »Widerstand im Gerichtssaal. Die Westsahara versus die EU und der Kampf gegen neokoloniale Plünderung« stand. Denn am 4. Oktober hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nach einem langen Verfahren in letzter Instanz geurteilt, dass, wer immer Geschäfte in der Westsahara machen will, dazu der Zustimmung ihrer Einwohner bedarf – die durch Frente Polisario vertreten werden. Wer sich nicht daran hält, riskiere Strafe. Denn der EuGH sei nicht zahnlos wie der Haager Gerichtshof, dessen Urteile weitgehend Empfehlungen blieben, hieß es in der Diskussion.
Mit Siemens ist auch einer der Großen unter den hiesigen Konzernen betroffen. Unter anderem mit seiner spanischen Tochter Siemens Gamesa hat er in der Westsahara riesige Windparks errichtet. Angesichts der Klimakrise könnte dies als an sich begrüßenswerte Unternehmung erscheinen. Doch das ist eine Täuschung. Wer wissen will, warum die Träume von der »grünen« Energie aus dem Maghreb nichts anderes als neokoloniale Phantasien sind, findet in der Studie »Saharan Winds« der britischen Hispanistin und Historikerin Joanna Allan eine Fülle teilweise verblüffenden Materials. Der Titel ist dabei ganz wörtlich zu nehmen. Es geht tatsächlich um das flüchtigste Element, das gleichwohl, erinnert Allan, ein Motor der Kolonisierung war, indem es den europäischen Flotten mit ihren Segelschiffen ermöglichte, globale Kontrolle zu erlangen.
»Grüne« Energiegewinnung ist in der Westsahara mit ihren Winden, für die im sahrauischen Hassania-Arabisch differenzierte Begrifflichkeiten zur Verfügung stehen und die weltweit schon der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry bekanntmachte, keineswegs neu. Als Spanien Ende des 19. Jahrhunderts in der Westsahara Fuß fassen wollte, die es als Kolonialgebiet reklamierte, errichtete es dort zuerst ein Fort, La Factoria genannt, das lange der einzige Stützpunkt blieb. »Nacht für Nacht stürmte der Wind durch das Gebäude, zerbrach die Lampen, stürzte die Soldaten in Dunkelheit und erfüllte alles mit dem Geruch von Petroleum. Um dieses Problem zu lösen, wurde 1913 der Elektroingenieur Jose Galvan Balaguer damit beauftragt, das Fort zu elektrifizieren.« Er baute eine Windturbine, »eine praktische Lösung für die Herausforderungen, die ›übermäßiger‹ Wind mit sich brachte«, so Allan.
Kurioserweise sei Siemens immer noch der »äolischen Vorstellungswelt« jener Zeiten verhaftet, die Allan anhand zeitgenössischer Reisebeschreibungen ausmalt. Im Kapitel »Gezähmte Winde. Siemens und der Siedlerkolonialismus unter der marokkanischen Besetzung« schildert Allan am Beispiel von Werbematerial, wie das Unternehmen seinerseits »den Wind kolonisieren« wolle. Offensichtlich betreibt nicht allein Marokko mit Hilfe angeblich »grüner« Technik Greenwashing, sondern auch Siemens. Schließlich mache der Konzern immer noch die meisten Einnahmen etwa mit Maschinen zur Verstromung fossiler Energieträger, wie Allan hervorhebt, und mit dem Strom aus den saharischen Windmühlen wird unter anderem das einst von Krupp in der Zeit des Franco-Regimes gebaute Förderband des dortigen Phosphortagebaus angetrieben.
Man mag anfangs fragen, ob sich etwas nicht Greifbares wie der Wind als Aufhänger einer immerhin wissenschaftlichen Analyse eignet. Doch mit Blick auf die Westsahara erweist sich der Ansatz als ergiebig. Allan erzählt über ihre Erfahrungen als Aktivistin, schildert Begegnungen und die Geschichte des Landes. Ein ganzes Kapitel ist allein der sahrauischen Poesie gewidmet. Nicht zuletzt erörtert die Autorin Strategien zur Befreiung vom »Energoregime« und der »Petrokultur«, wie sie es in Anlehnung an andere Autoren nennt. Nun, nach den Urteilen des EuGH, wird Siemens bei der Polisario-Front vorstellig werden müssen, wenn es seine Geschäfte in der Westsahara fortführen will. Wie heißt es in einem Lied von Fatma Brahim, dessen Text, wie Allan erklärt, geschrieben wurde, als die marokkanische Luftwaffe 1975 das Flüchtlingslager von Um Dreiga mit Napalm bombardierte: »Die Westsahara, meine Schwestern und Brüder, ist nicht zu verkaufen.«
Joanna Allan: Saharan Winds. Energy Systems and Aeolian Imaginaries in Western Sahara. West Virginia University Press, Morgantown 2024, 264 Seiten, ab 25 Euro (E-Book)
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