Der große Flow
Von Gisela SonnenburgSchon das Stimmen der E-Gitarre von Andreas Willers vor dem Konzert hat etwas deutlich Surreales. Ein sanftes Gurren mit Hall, ein Surren wie aus dem Äther erklingt. So einen Sound hört man selten von einer Gitarre – und in Kombination mit der sängerischen Stimmakrobatik von Rudi Neuwirth machte Willers als Duo am Dienstag abend in der Berliner Maigalerie in der von Hannes Zerbe kuratierten Reihe »jW geht Jazz« dem ebenfalls ungewöhnlichen Musikernamen Jazztage alle Ehre.
Flehend, streichelnd, jubelnd singt Neuwirth das bekannte »You Go to My Head« (»Du steigst mir zu Kopfe«). Fred Coots schrieb den Song 1936, und von Benny Goodman und Frank Sinatra bis zu Marlene Dietrich und Ella Fitzgerald hat wohl jede Jazzgröße sich mit ihm befasst. Neuwirth bringt das Stück vor allem lasziv rüber – und man ist neugierig auf mehr.
Paradiesisch leicht und lässig ertönt »They Say It’s Wonderful« (»Sie sagen, es sei wunderbar«). Nur die Liebe kann mit der Titelzeile gemeint sein. Da purzeln allerdings plötzlich Geräusche heran, die von wilden Tieren stammen könnten. Es ist Neuwirth, der mit seiner Stimme spielen kann wie ein Zauberer mit einem Zylinder. Yeah, die Liebe ist hier animalisch. Und »It Could Happen to You« (»Es könnte dir passieren«) ist als nächster Song nur logisch: Exotik mit Verheißung siegt, die Gitarre bringt einen Hauch von Hawaii mit.
Das Solo von Andreas Willers bringt dann den großen Flow, einen Fluss aus allem, was in der Musik wesentlich ist: Energie, Gedanken, Gefühle. Die Phantasie darf weiter reisen, tiefer in die Südsee hinein vielleicht. Früher tanzte man auf Partys Calypso, heute eher Blues. »Glückspilz« nennt Willers dieses von ihm komponierte Stück übrigens, und er widmet es seinem Sohn: weil dieser Pianist geworden ist.
Die Vorteile, die ein Pianist gegenüber einem Gitarristen hat, sind kaum offensichtlich. Aber die originelle Kombination von einem E-Gitarristen und einer wandelbaren menschlichen Stimme ist so leicht nicht zu übertreffen. Auch in »Lush Life«, dem »üppigen Leben«, streben diese beiden Klangkörper – Instrument und Kehle – zugleich auseinander und bleiben doch harmonisch beisammen. Sie sind ein im wahrsten Sinn des Wortes eingespieltes Team.
Zeit für das Solo von Rudi Neuwirth: Er klingt darin wie ein Kontrabass, der eine Partnerin sucht und sie im Schlagzeug findet. Aber wenn er bald darauf lebensecht eine Trompete mimt, befürchtet man, dass Musikalienhandlungen pleite gehen müssen. Die Nofretete, »Nefertiti«, kommt außerdem mit Windgeräuschen von der Gitarre gut zurecht: Die Pyramiden stehen also im Sandsturm. Der Blues wird dazu nur gehaucht – und sanft gepfiffen. Ilse Werner war diesbezüglich eine Anfängerin gegen Rudi Neuwirth.
Gute Laune kommt auch bei den »Giant Steps«, den »Riesenschritten« von John Coltrane, auf. Die »Soul Eyes«, die »Seelenaugen«, die sonst oft eher cineastisch-opulent interpretiert werden, wirken mit den Jazztagen völlig verschmust. Gar zu schön und soft? Gegen zuviel Romantik hilft das schräg-witzige Willers-Stück »Zeh Moll« (c-Moll), das aus einzeln gesetzten Akkorden besteht, zu denen Rudi Neuwirth munter zwitschert.
Seit 1971 bezaubert »Witchi Tai To« von Jim Pepper die weltweite Jazzgemeinde mit indigenem Flair – und hier kommt der Song mit psychedelisch-rockigem Anklang als Abschluss. Gehet hin in Frieden, liebe Jazztage, und lasset uns nicht allzulang allein!
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