Nichts ist für die Ewigkeit
Von Norman PhilippenWie man sie auch verdreht und verwendet, die »Hure« erscheint in der öffentlichen Draufsicht meist als ein diskursives 1-D-Objekt. Ob in den Debatten um die »Hurerei« des vorletzten Jahrhunderts oder den aktuellen um europaweite »Sexkauf-Verbote«: Eine sich »prostituierende« Frau kann wahlweise Opfer oder Täterin, auch mal Heilige sein, ein Subjektstatus wird ihr auch als legale »Sexworkerin« – von den Freiern ebenso wie von ihren Verdammern und Schützern – selten zugesprochen. Wurden auch zig Weltgeschichten der Prostitution schon geschrieben, allzu viel wissenschaftlich Fundiertes enthalten sie nicht.
Höchste Zeit war es also, dass die Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Theodora Becker die »Dialektik der Hure« einmal gut historisch-materialistisch aufschreibt und in sechs Kapiteln aufzeigt, wie es »Von der ›Prostitution‹ zur ›Sex-Arbeit‹« eigentlich kommen konnte. Das Buch »Prostitution und Abolitionismus« (1890) des Venerologen Beniamin Tarnowski ausführlich analysierend, beginnt Beckers Darstellung damit, eine Gemeinsamkeit all jener – reaktionärer wie progressiver – Kräfte zu benennen, die sich im 19. Jahrhundert an die paternalistische Verteidigung/Verdammung des »Lustgewerbes« machten: »Entweder als ein Verbrechen der Prostituierten an der Gesellschaft oder als ein Verbrechen der Gesellschaft an den Prostituierten« – als irgendeine Art von delinquentem Verhalten wollten sowohl Pädagogen und Mediziner als auch Polizei die Prostitution sehen.
Anschließend habe (Kapitel 2) dann »die bürgerliche Wissenschaft (…) mit dem Begriff Prostitution das Lustgewerbe historisiert und zugleich verewigt«, sowie schließlich »mit der Prägung dieses Allgemeinbegriffs dazu beigetragen, das besondere Wesen oder vielmehr Unwesen der Prostitution in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern, und es zugleich namhaft gemacht«. Allerdings laut Becker »auf verkehrte, unhistorische Weise, indem sie es als Überbleibsel und Erbe älterer Gesellschaftszustände begriff, dessen Ende mit der Verwirklichung bürgerlicher Sittlichkeit und individueller Geschlechtsliebe zusammenfallen werde, oder als ein ewiges Menschheitsübel auffasste, das notgedrungen zu akzeptieren sei«. So sieht Becker ihre »dialektische Aufgabe« darin, dies unhistorische »Unwesen herauszuarbeiten« und »die verschiedenen Momente des Begriffs Prostitution zu artikulieren, Utopie und Realität, Allgemeines und Besonderes, Sinn und Funktion herauszuarbeiten und aufeinander zu beziehen«. Habe doch der »Allgemeinbegriff (…) zu dem Fehlschluss beigetragen, das Lustgewerbe – als Prostitution – als universalhistorisches Phänomen entweder insgesamt zu verdammen oder insgesamt zu romantisieren, ohne auf die jeweiligen gesellschaftlichen Herrschafts- und Produktionsverhältnisse zu achten, die dieses Gewerbe im Laufe der Geschichte geformt und sein Wesen radikal verändert haben, und ohne auf den Begriff zu bringen, was darin an positiven und negativen Momenten enthalten ist«.
Weder zur Verdammung noch Romantisierung, jedoch zu haltbarer Historisierung trägt »Die Dialektik der Hure« auch bei, indem sie (Kapitel 4) »Die neue Moral der Kommunisten« überprüft und feststellt, dass die »kommunistische Kritik (…), wenn auch aus anderen Gründen, kaum über die bürgerliche Perspektive hinaus« reichte, »wonach die Prostituierten entweder als bloße Opfer der (Männer-)Gesellschaft oder als illoyale und faule ›Volksschädlinge‹ galten – eben als Preisgegebene oder Verräterinnen«. Beckers Befund: »Die kommunistischen Kritiker (…) sahen die Prostituierten in doppelter Weise als integralen Teil der bürgerlichen Gesellschaft: entweder als vom Bürgertum benutzte und ausgebeutete Opfer oder als Komplizinnen der bürgerlichen Ausbeutungsordnung und Nutznießerinnen bürgerlicher Dekadenz und sexueller Perversion. Aus der Perspektive der kommunistischen oder sozialistischen Utopie kam der Prostitution keinerlei positive Rolle mehr zu, was die Sicht auf die Prostituierten oft noch negativer einfärbte als die der bürgerlichen Theoretiker.«
Ohne viel emotionale Einfärbung, dafür auf ausreichender Materialbasis (nicht nur) antibürgerlicher Theoretiker von Adorno bis Zetkin argumentierend, zeigt Becker zudem, wie die »Hure« zur »Prostituierten« und Ware wurde, weiß die Hure metaphysisch zu deuten und »Vom Gebrauchswert der Hure« so informativ zu berichten, wie den Weg »Von der Hurerei zur Sex-Arbeit« nachvollziehbar zu erzählen. Da die einzelne Betroffene dabei auf der Strecke und überhört blieb, zieht die »Dialektik der Hure« den feinen Schluss, Grisélidis Réal –»Schweizer Hure, Schriftstellerin, Künstlerin und Liebende« – das Schlusswort zu überlassen.
Ob die »Lust als Profession«, wie Becker behauptet, tatsächlich unter den »zwei Bedingungen eine gesellschaftliche Berechtigung« hat, dass sie entweder »elementare Bedürfnisse« befriedigt, »die andernfalls unbefriedigt blieben, oder sie (…) Produktivkraft in der erotischen Reichtumsproduktion (…), also zur eigentlichen Kunst« werden kann? Dann wäre Prostitution zwar immer noch »nicht unbedingt notwendige Arbeit, aber Teil der Überschuss- oder Luxusproduktion«. Da üppige Überschüsse vorerst aber vermehrt im Wehr- denn im Lustgewerbe zu beklagen sind, könnte es bis zur Kunstwerdung der Produktivkraft Prostituierte ganze lange Nachwendeweilen noch dauern. Zeit genug sicher, die »Dialektik der Hure« zu erwerben, zu lesen und die sachkundigen Seiten des Buches immer dann zu wenden, wenn, ob von Brüssel oder dem Boulevard, die »Hure« mal wieder unzweifelhaft undialektisch verhandelt wird.
Theodora Becker: Dialektik der Hure. Von der »Prostitution« zur »Sex-Arbeit«. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2023, 591 Seiten, 28 Euro
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