Das Leiden überlebt
Von Mona GroscheIn den USA ist Natasha Trethewey bereits seit vielen Jahren als Lyrikerin bekannt, 2007 erhielt sie den Pulitzer-Preis. So überrascht es nicht, dass »Memorial Drive: A Daughter’s Memoir« dort nach seinem Erscheinen 2020 ein immenses Echo hervorrief und auf der Bestellerliste der New York Times landete. Höchste Zeit also, dass auch das deutschsprachige Publikum diese herausragende Autorin kennenlernt. Ob das mit einem Taschenbuch gelingt, das auch noch den lapidaren Untertitel »Erinnerungen einer Tochter« trägt, bleibt abzuwarten. Immerhin ist es ein erster Schritt, Trethewey hierzulande dem Lesepublikum näherzubringen.
»Um ein Trauma zu überleben, muss man in der Lage sein, eine Geschichte darüber zu erzählen«, stellt die Autorin in ihrem Buch fest – und fasst damit präzise zusammen, was den Unterschied ihres Werks zu einigen anderen Buchtiteln ausmacht, die persönliche Traumata aufarbeiten. Nicht die Dramatik des Mordes, nicht der Schrecken der Tat stehen im Zentrum der Geschichte. Bei Trethewey liegt der Schwerpunkt auf der poetischen Verarbeitung des Erlebten. Sie verwandelt das individuelle Erinnern, Denken und Fühlen in ein fesselndes literarisches Werk, das berichtet, wie die Autorin zu der wurde, die sie heute ist und die ihr Metier perfekt beherrscht.
Dabei hat sich Trethewey die schwere Aufgabe gesetzt, das Leben ihrer Mutter nachzuzeichnen, die 1985 Opfer einer Gewalttat wurde. Verübt wurde der Femizid von ihrem Exmann (Tretheweys Stiefvater), als die Autorin 19 Jahre alt war. Zuvor hatte er beiden über Jahre hinweg Gewalt angetan, so dass sich die Mutter von ihm trennte. Als er schließlich verhaftet wurde, glaubte die Familie, das Kapitel sei abgeschlossen. Doch er konnte die Zurückweisung nicht ertragen und bedrohte Mutter und Tochter mit seiner Schusswaffe. Bis heute verfolgt Tretheway die schwierige Frage, ob sie nur lebt, weil es nicht sie, sondern die Mutter zuerst getroffen hat.
Über Jahrzehnte hinweg hatte die Autorin alle Erinnerungen an diese Zeit verdrängt, bis dann ein Zufall dazu führte, dass sie diesem Wendepunkt in ihrem Leben ein literarisches Werk widmete. Als sie nach Atlanta zurückkehrte, wo das Verbrechen einst geschehen war, führte sie eine zufällige Begegnung zurück an den Tatort am Memorial Drive. Daraufhin beginnt sie, die Erinnerungen in ihr Bewusstsein eindringen zu lassen – unterstützt von präzise recherchierten Fakten, u. a. aus der damaligen Fallakte.
Dennoch baut Tretheway hier kein True-Crime-Szenario auf. Vielmehr ist es ihrem erzählerischen Talent geschuldet, dass sie den brutalen Mord mit der Geschichte ihrer ungewöhnlichen Familie verknüpft. So erfahren wir, wie sie als Kind als »Zebra« beschimpft wurde, da sie aus einer »gemischtrassigen« Ehe stammt, die in den USA bis in die späten 1960er noch verboten war. Wir erleben mit ihrer Familie alltägliche Anfeindungen und offenen Rassismus, angesichts dessen Natasha früh lernt, sich mit aller Kraft gegen Diskriminierung zu wehren. Vorbilder sind ihre Großmutter und ihre Großtante Sugar, die ein Gewehr griffbereit im Haus haben, falls der Ku-Klux-Klan es einmal nicht bei nächtlichen Drohgebärden belässt. Mit Stolz und Mut versucht die Familie, ihr Leben davon möglichst unbehelligt zu führen. Doch beide Elternteile, die durchs Studium oft lange voneinander getrennt leben müssen, sind dem nicht gewachsen. Sie trennen sich schließlich und Natashas Mutter geht eine neue Ehe mit dem emotional gestörten »Big Joe« ein, ohne zu ahnen, dass sie damit ihr Todesurteil unterzeichnet.
Trethewey nimmt ihre Erfahrungen großen Leids als Ausgangspunkt, um das Leben ihrer Mutter nachzuzeichnen. Zugleich erkundet sie, wie ihr eigenes Leben und ihr Schaffen als Autorin nicht nur durch die Tragik, sondern auch durch den Überlebenswillen und die Widerstandskraft ihrer Familie geprägt wurden. Damit ist ihr ein eindringliches Werk gelungen, das harte journalistische Fakten mit zarter Poesie mischt und noch lange nach der Lektüre nachhallt.
Natasha Trethewey: Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter. Ins Deutsche übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann, Btb-Verlag 2024 , 256 Seiten, 17 Euro
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