Selma an Erde!
Von Patrick HönigIm rechtsrheinischen Köln sah es lange nicht so aus, als könnte die Ansiedlung von Kunst- und Kulturbetrieben dem Wegfall industrieller Arbeitsplätze etwas entgegensetzen. Verwundert reibt man sich heute die Augen. Schauspiel und Oper haben Interimsspielstätten gefunden, die überregionale Anziehungskraft entfalten, und auch der in einem »Werkstattverfahren unter Beteiligung der Stadtgesellschaft« über Jahre entwickelte Nutzungsplan für die ehemaligen Produktionsanlagen der Klöckner-Humboldt-Deutz AG, dem ältesten Motorenwerk der Welt, setzt neue Maßstäbe.
Das aus dem 3D-Drucker gestanzte Modell der »Hallen Kalk« hat etwas von Raumschiff Orion. Es blinkt nicht, es surrt nicht, und aus der Form gegangen ist es auch – aber es erzählt von der Zukunft einer Stadt, in der Arbeiten und Wohnen, Erkenntnis und Begegnung auf engstem Raum möglich sind. In Halle 70 soll das »Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland« (DOMID) einziehen, das erste seiner Art in der Republik, entstanden aus einer Initiative der Zivilgesellschaft und finanziert aus Mitteln des Bundes, des Landes und der Stadt. Die neue Webseite ist gerade entstanden, und ein Name ist auch gefunden. Vor geladenen Gästen wurde er verkündet: »Selma«.
Fünf Lichtjahre ist »Selma« noch von ihrem Bestimmungsort entfernt, und niemand weiß, ob es eine Punktlandung wird. Sicher ist nur, dass es noch viel zu tun gibt, etwa bei der Aufbereitung der Geschichte des Werks, das im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter beschäftigte und Rüstungsgüter so zuverlässig lieferte, dass die »Deutsche Arbeiterfront« der Nazis ihm den Titel des »Kriegsmusterbetriebs« verlieh. Eine Herausforderung wird auch sein, nicht beliebig zu werden, wenn Erzählungen über Arbeitsmigration und Fluchtmigration an einem Ort zusammengeführt werden. DOMID-Laboratorien sollen die Stimmung testen und den Boden bereiten.
Die vierte und letzte Satellitenschau ist jetzt am Ebertplatz zu sehen, ein bunter, urbaner Ort, über den in lokalen Medien eine heftige Angstraumdiskussion entbrannt ist, dessen Querung aber eher zum Nahtoderlebnis wird, weil er von Ausfallstraßen zerschnitten ist. Um den Platz herum gibt es Fast-food-Läden, ein 24-Stunden-Kiosk und das Programmkino »Metropolis«, dann steigt man, entlang stillgelegter Rolltreppen, in die Passagen hinab. Stellwände und pinkes Neonlicht weisen den Weg zur Ausstellung, untergebracht in zwei Avantgardegalerien, Gold + Beton und die Gemeinde. Im Fundus des DOMID gibt es 150.000 Ausstellungsstücke, 50 davon sind zu sehen. Zur Eröffnung ist die NRW-Integrationsministerin aus Düsseldorf angereist, die schwarze Dienstlimousine ist in der Senke des Platzes geparkt, schöner hätten es die Kuratoren nicht arrangieren können. Aber das DOMID will nicht nur ausstellen, sondern auch ins Gespräch kommen.
Projektleiterin Sandra Vacca hebt einzelne Objekte hervor und erklärt das Konzept der Ausstellung. Sie sagt, man wolle die Besuchenden behutsam einführen, mit dem großen Zeh zuerst ins Wasser, daher der Titel: »Handle with Care – Eine Ausstellung über Erzählungen, Gefühle und Perspektiven aus der Migrationsgesellschaft«. Es sei wichtig, sagt sie, den negativen Emotionen, mit denen das Thema Migration aufgeladen sei, positive entgegenzusetzen. Aber kann objektbasiertes Erzählen funktionieren?
In einem Schaukasten ist ein verbogener Zimmermannsnagel zu sehen, einer von 800, mit denen die Butangasflasche gefüllt war, die im Juni 2004 auf der belebten Keupstraße im migrantisch geprägten Stadtteil Mülheim detonierte. Ein Juwelier hatte den Nagel im zerborstenen Glas der Schaufensterscheibe seines Ladens gefunden und aufbewahrt, als Symbol einer Gewalt, von der er überzeugt war, dass sie von rechts kam. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten lange nicht sehen wollen, dass das Motiv für den Anschlag nicht ein Streit im Milieu, sondern Rassismus war. Erst Jahre später war die Tat dem »Nationalsozialistischen Untergrund« zugeordnet worden. Der Nagel also als Mahnmal gegen das Vergessen.
Auf den ersten Blick unscheinbar auch ein wandgroßes Schwarzweißfoto, unbarmherzig angestrahlt von einer Leuchtleiste. Es zeigt die Anspannung in den Gesichtern der »Gastarbeiter« (keine *in) beim Warten auf die Ergebnisse der Tests, die in einem Büro in Istanbul durchgeführt wurden, um zu entscheiden, wer zum Arbeiten nach Deutschland einreisen durfte. Auf einem Podest daneben ist ein Lungenfunktionsmessgerät ausgestellt, dessen Nadelausschlag über den weiteren Verlauf einer Biographie entschied. Es sind Assoziationsangebote, die etwas auslösen. Ein Besucher erzählt von seinem Vater, der aus Ägypten kam, um eine qualifizierte Arbeit aufzunehmen. Weil er in Köln niemanden fand, der ihm eine Wohnung vermieten wollte, zog er nach Quadrath-Ichendorf. Es gibt ein schönes Wort dafür: Alltagsrassismus.
Die Ausstellung als Begegnungsraum funktioniert, und doch ist, was DOMID da versucht, ein Riesenspagat. Einerseits will man Migrierenden ein Angebot machen, teilzuhaben am Migrationsdiskurs, andererseits bedient man sich einer Assoziationslogik, die nur selten Erwartungen durchkreuzt: Postkarten, Koffer, ein Rettungsring. Wie man neue Bilder erzeugen kann, zeigt Pauline Flory, Animationskünstlerin in einer Ateliergemeinschaft im »Kunstwerk«, Deutschlands größtem selbstverwalteten Kunstkollektiv, beheimatet in einer von Investoreninteressen bedrohten ehemaligen Gummifädenfabrik im Stadtteil Deutz. Für den Tag der offenen Ateliers hat sie eine Videoinstallation konzipiert, in der ein Hund mit langen Schlappohren läuft und läuft, sich dreckig macht und schon geht es von vorne los. Man denkt an ein unschuldiges, neugieriges Wesen, das sich im Umgang mit den Menschen und ihren Vorurteilen besudelt und dann, in Endlosschleife, alles abschüttelt und von neuem anfängt. So lange, bis Selma keinen Ort mehr braucht, an dem es ausstellt, sondern zur freien Bewegung, auch über Grenzen, nur noch eine Umlaufbahn.
»Handle with Care – Eine Ausstellung über Erzählungen, Gefühle und Perspektiven aus der Migrationsgesellschaft«, Gold + Beton/Gemeinde Köln, Ebertplatzpassage, Köln, bis -28. November 2024
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