Skelettiert hinter Gittern
Von Oliver RastEin knöchriger Korpus im kalkweißen Totenhemd. Eine Decke mit Spitzensaum umhüllt den Thorax. Schattige Augenlider geschlossen, Augäpfel tief in der Augenhöhle. Nackenlanges, braunes Haar mit gräulichen Schläfen, nach hinten gekämmt. Die rechte Innenhand ruht auf dem linken Handrücken. Die Fingernägel spitz, das Nagelbett blutunterlaufen. Im Hintergrund ein Kerzenleuchter.
Das Lichtbild zeigt den aufgebahrten Leichnam. In Szene gesetzt, aufgehübscht. Für Gazetten, für Illustrierte. In den bekannten Fotostrecken fehlt ein Bild: Der Leib nackt, skelettiert auf einem kalten, metallenen Obduktionstisch. Vom Kehlkopf bis zum Schambein längs durchtrennt und notdürftig zusammengeflickt. Der wesenlose, entstellte Körper ist 183 Zentimeter lang, 39 Kilogramm leicht. Totenmaße. Die Totenmaße von Holger Meins. Nach 58 Tagen Hungerstreik, nach Zwangsernährung, nach Tortur.
Der im Oktober 1941 in Hamburg geborene Meins studierte zunächst Kunst. Nach dem Abbruch des Studiums zog er in die Frontstadt Westberlin, durchlief die gerade gegründete Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), wurde Kameramann, Filmemacher. »Wie baue ich einen Molotow-Cocktail?« – sein Kurzfilm von drei Minuten, eigens für das »Springer-Tribunal« an der Freien Universität Berlin im Februar 1968 fabriziert. Das Original gilt als verschollen, eine rekonstruierte Fassung existiert. Bei Agitprop-Filmchen als Handreichung für die studentische Revolte blieb es nicht. Meins schließt sich der Roten Armee Fraktion (RAF) an, wenige Monate nach ihrer offiziösen Gründung im Juni 1970 – das Papier »Die Rote Armee aufbauen« ist die erste Erklärung der Stadtguerilla, deren Abdruck Meins im Untergrundblatt Agit 883 durchgesetzt haben soll.
Es bleibt nicht bei Schnipseln und Postillen. Meins greift zur Waffe, etwa während der »Mai-Offensive« 1972, einer Anschlagserie mit enger Taktfolge. Höhepunkt: die Sprengstoffattacke auf das Europahauptquartier der US-Armee in Heidelberg. Von dort koordinierte der Secret Service den militärischen Nachschub für die Flächenbombardements im Vietnamkrieg.
Herolds »Wasserschlag«
Die Staatsmacht reagiert, mobilisiert, »Aktion Wasserschlag«. Kreiert vom Chef des Bundeskriminalamts (BKA) Horst Herold. Sein Ziel: »Durch einen Schlag ins Wasser die Fische mal richtig in Bewegung zu bringen.« Mutmaßliche RAF-Mitglieder also aufschrecken, aus ihren Verstecken locken, in die Flucht schlagen. Herold, der Erfinder der Rasterfahndung und Freund markiger Merksätze (»Wir kriegen sie alle«), fixiert mit dem 31. Mai 1972 den Stichtag. Nicht ohne Zustimmung des damaligen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher. Straßensperren und Fahrzeugkontrollen bundesweit, an Autobahnausfahrten und Grenzübergängen, Überwachungsflüge mit Hubschraubern.
Herolds Häscher spüren »nach einem Tipp aus der Bevölkerung« das RAF-Trio Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins auf. In Frankfurt am Main, im Stadtteil Dornbusch, im Hofeckweg, man legt sich vor dem dreistöckigen Apartmenthaus mit Garagenkomplex auf die Lauer. Es ist Donnerstag, Fronleichnam, 1. Juni, zirka zehn Minuten vor sechs Uhr morgens. Das Dreigespann steuert den Unterschlupf samt Depot an. Baader und Meins gehen in eine der Garagen, Raspe bleibt am Fahrzeug, wird von Observanten angesprochen, Schüsse fallen. Raspe wird festgesetzt, Handschellen klicken. Baader und Meins verschanzen sich im Unterstellplatz. Die Einsatzleitung zieht binnen weniger Minuten Kräfte zusammen, rund 150 Bewaffnete. Das Gros postiert sich vor dem Objekt, bildet einen engen Belagerungsring. Reporter rücken an, berichten aus sicherer Distanz, ein Fahndungsspektakel, live und in Farbe.
Unterdessen prescht ein Panzerwagen vor. Es wird todernst. Der Lautsprecher quietscht, dann eine Stimme mit pädagogischem Unterton: »Ergeben Sie sich. Was wollen Sie denn jetzt? Wie wollen Sie sich aus dieser Situation befreien? Es gibt keine Chance.« Meins und Baader überzeugt das nicht. Einzelne Schüsse, dann Salven. Eine Kugel landet im Oberschenkel von Baader. Meins bleibt unverletzt, wird von Uniformierten abgeführt, nur in Unterhose und Schuhen. Dabei verdrehen die MP-Träger dem Unterlegenen die Handgelenke. Schmerzgriffe. Das Zeit Magazin wird am 7. Juli 1972 titeln: »Der Schrei des Holger Meins.«
Marter mit »Nährstofflösung«
Beginn des Martyriums. Hinter hohen Mauern, hinter dicken Gittern – oder wie Unterstützer sagen: Kampf gegen »Isolationsfolter in der Vernichtungshaft«. Drinnen und draußen. Aktivisten, Anwälte, Intellektuelle gründen »Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD«. Schaffen kritische Öffentlichkeit, skandalisieren soziale Deprivation und Camera-silens-Experimente. Neurophysiologische Versuchsreihen, exemplarisch durchexerziert an Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin im »toten Trakt« der JVA Köln-Ossendorf.
Inhaftierte rebellieren. Im September 1974 etwa. Das Kollektiv der RAF-Gefangenen verweigert die Anstaltsnahrung. Hungerstreik (HS), der bislang dritte. Körper als Waffe. Denn die Abschaffung der Isolation sei die Bedingung, »die wir erkämpfen müssen, wenn Selbstorganisation der Gefangenen überhaupt eine realistische Möglichkeit von proletarischer Gegengewalt werden soll«, steht in der Erklärung.
Meins hungerstreikt mit rund 40 weiteren politischen Gefangenen seit dem 13. September; ab dem 30. des Monats wird er durch Anstaltsärzte und Sanitäter zwangsernährt. Mittels Magenschlauch wird ihm täglich eine »Nährstofflösung« verabreicht. Bisweilen nur rund 400 Kalorien, kaum ein Viertel des menschlichen Mindestbedarfs von 2.000 Kalorien. Die Zwangsernährung verletzt Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre.
Wenige Stunden vor Meins’ Tod trifft sein Anwalt Siegfried Haag ein. Der Mandant ist zu schwach zum Gehen, JVA-Bedienstete führen ihn auf einer Bahre vor. Haag verlangt von den Verantwortlichen Hilfe. Die unterlassen das, schließlich ist Sonnabend. Holger Meins stirbt. Er sei ermordet worden, sagen Unterstützer, »durch geplantes Verhungernlassen«. Am 9. November 1974, in der JVA Wittlich bei Trier in Rheinland-Pfalz.
Neun Tage nach seinem Tod wird Meins in Hamburg beerdigt. Es ist ein Abschied Tausender. Unter ihnen: Rudi Dutschke, begleitet von den Strafverteidigern Otto Schily und Hans-Christian Ströbele. Am Familiengrab warten Pressemeute und Schaulustige. Dutzende Linsen sind auf den früheren APO-Frontmann gerichtet. Dutschke tritt nach Schily an das offene Grab, bückt sich, streut eine Handvoll Sand in die Grube, dann ballt er die Faust in die Höhe – mit trauervollem Ruf: »Holger, der Kampf geht weiter!« Eine Geste, wohl nicht geplant, eher ein Impuls. Ein ikonenhaftes Lichtbild – wie das des skelettierten Meins auf dem Obduktionstisch.
Das einzige, was zählt, ist Kampf
Das einzige, was zählt ist der Kampf – jetzt, heute, morgen, gefressen oder nicht. Was interessiert, ist, was Du draus machst: ’n Sprung nach vorn. Besser werden. Aus den Erfahrungen lernen. Genau das muß man daraus machen. Alles andere ist Dreck. DER KAMPF GEHT WEITER. Jeder neue Fight, jede Aktion, jedes Gefecht bringt neue unbekannte Erfahrungen, und das ist die Entwicklung des Kampfes. (…) »Das Entscheidende ist, dass man zu lernen versteht.«
Durch den Kampf für den Kampf. Aus den Siegen, aber mehr noch aus den Fehlern, aus den Flipps, aus den Niederlagen. Das ist das Gesetz des Marxismus. Kämpfen, unterliegen, nochmals kämpfen, wieder unterliegen, erneut kämpfen und so weiter bis zum endgültigen Sieg – das ist die Logik des Volkes. Sagt der Alte. (…)
Entweder Schwein oder Mensch
Entweder überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod
Entweder Problem oder Lösung
Dazwischen gibt es nichts
Sieg oder Tod – sagen die Typen überall, und das ist die Sprache der Guerilla – auch in der winzigen Dimension hier: Mit dem Leben ist es nämlich wie mit dem Sterben. »Menschen (also: wir), die sich weigern, den Kampf zu beenden – sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben.« (…) Die Sache ist ja ganz klar: KÄMPFEND GEGEN DIE SCHWEINE als MENSCH FÜR DIE BEFREIUNG DES MENSCHEN: Revolutionär, im Kampf – bei aller Liebe zum Leben: den Tod verachtend. Das ist für mich: dem Volk dienen – RAF.
Letzter Brief von Holger Meins, 31. Oktober 1974. Die Gefangenen kommunizierten über Kassiber, ein internes »Infosystem«. Der Brief ist gewissermaßen eine Anklage gegen Manfred Grashof, der den Hungerstreik gegen die Isolationshaft Ende Oktober abgebrochen hatte.
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