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Aus: Ausgabe vom 09.11.2024, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Widerstand organisieren

»Wir haben eine Welt zu gewinnen«

Über Formen und Bedeutung von Meuterei in unseren Tagen und die Erfolge der belgischen Partei der Arbeit. Ein Gespräch mit Peter Mertens
Interview: Daniel Bratanovic
Meuterei in Großbritannien. Streik der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger des National Health System (NHS) für bessere Bezahlung, London im Mai 2023

Ihr neues Buch heißt »Meuterei«. Warum dieser Titel? Worauf bezieht er sich?

Mein Buch beginnt in Großbritannien mit den Streiks im Gesundheitswesen im Sommer 2023. Ich erzähle da von einer Krankenschwester, die zum ersten Mal in ihrem Leben streikt, und sie erklärt, warum sie das tut. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als die englischen Bergleute Mitte der 80er Jahre gegen Premierministerin Margaret Thatcher streikten. Dieser Arbeitskampf ist in das kollektive Gedächtnis der internationalen Arbeiterbewegung eingegangen, und es hält sich die Wahrnehmung, dass zu jener Zeit die Kampfbereitschaft viel größer gewesen sei als heute. Aber was kaum einer weiß: Im Sommer 2023 gab es in England mehr Streikaktionen als damals. In Frankreich ist es das gleiche. Im Kampf gegen Macrons Rentenreform gab es mehr Streiktage als im legendären Jahr 1968. Die gängige Erzählung lautet, es gebe keine Formen des kollektiven Widerstands mehr. Aber das stimmt nicht. Sie sind derzeit bloß noch nicht politisiert, eher spontan, gewerkschaftlich, auf ökonomische Fragen beschränkt. Deshalb spreche ich von Meuterei: 1768 strichen Seeleute in Sunderland die Segel, um ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Die Aktion war eine der ersten großen Arbeitsniederlegungen und wurde damals als Meuterei bezeichnet. Und seit dieser Meuterei, bei der die Seeleute die Segel strichen (»striking the sails«), hat sich im Englischen das Wort »strike« für einen Ausstand etabliert.

Es gibt im Buch allerdings noch eine zweite Begriffsebene für Meuterei.

Ja. Den Buchtitel verdanke ich im Grunde Fiona Hill, einer ehemaligen Mitarbeiterin des Sicherheitsrats im Weißen Haus. Als die UN-Vollversammlung Russland wegen seines Angriffs auf die Ukraine verurteilt und ein Drittel der Staaten die Zustimmung zu dieser Verurteilung verweigert hatte, nannte sie das Meuterei. Und ich dachte mir: Stimmt, auch das ist eine Form von Meuterei. Eine ganze Reihe von Ländern folgt nicht mehr den Maßgaben der Vereinigten Staaten. Und diese Verweigerung der Länder des globalen Südens beschreibt der zweite Teil des Buchs. Es ist eine Meuterei, die sich gewissermaßen am Oberdeck abspielt, also auf der Ebene der Staaten. So hat die vom ANC geführte Regierung Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof ein Verfahren gegen Israel angestrengt. Das ist von symbolischer Bedeutung, weil Südafrikas ANC diejenige politische Kraft ist, die erfolgreich gegen die Apartheid gekämpft hat. Gleichzeitig kämpft die südafrikanische Stahlarbeitergewerkschaft Numsa gegen denselben ANC wegen dessen Korruption und Privatisierungspolitik. Das ist dann die Meuterei unter Deck. Unten der Klassenkampf, oben der Widerspruch gegen die etablierte Weltordnung.

Meuterei in ihrer ersten Bedeutung wäre demnach nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer Stärkung der Arbeiterbewegung. Wo stehen wir da gegenwärtig? Mir scheint, von einer kampfbereiten Arbeiterbewegung, wie sie in England von Thatcher zerschlagen wurde, sind wir meilenweit entfernt.

Sicher, es gab eine Zeit, in der ohne die Arbeiterbewegung nichts ging, in der sie in einigen Bereichen die Hegemonie besaß. 40 Jahre neoliberaler Kapitalismus waren katastrophal und haben diesen Zustand gründlich geändert. Doch nun befinden wir uns in einer Phase der Wiederaufrichtung, und ich bin guten Mutes. Zwar sind die alten industriellen Strukturen, in denen es eine gut organisierte Arbeiterbewegung gab, verschwunden. Dennoch gibt es in Europa und den USA Ansätze für den Wiederaufbau einer starken klassenbewussten und kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Aber es stimmt schon, von den Zuständen, wie sie noch in den 80er Jahren herrschten, sind wir weit entfernt, da ist noch eine Menge zu tun.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite, das ist die zweite Bedeutungsebene, bleibt, Sie haben es bereits angedeutet, ein großer Widerspruch zu konstatieren. Da gibt es Staaten, die eine Änderung der Weltordnung anstreben, die aber mitunter, was ihre Innenpolitik angeht, alles andere als ein fortschrittliches Programm verfolgen und in denen ja auch ein bisweilen scharfer Klassenkampf geführt wird. Müsste man nicht sagen, dass diese Staaten aufstrebende kapitalistische Nationen sind, die also bei gleicher Produktionsweise das Niveau der westlichen Staaten erreichen wollen und dabei mit einer wachsenden Arbeiterklasse im eigenen Land konfrontiert sind?

Das ist ein Prozess, der auf globaler Ebene betrachtet werden muss. In Brasilien beispielsweise wirft Präsident Lula die Frage auf, wem die natürlichen Ressourcen gehören sollen, zu welchem Zweck sie ausgebeutet werden. Sollen sie US-amerikanischen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden oder sollten die jeweiligen Nationen die Kontrolle behalten? Das ist eine sehr relevante Frage. Die Bewegung der blockfreien Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war wesentlich politischer, als es BRICS heute ist. Politisch ging es um Unabhängigkeit, aber ökonomisch bestand eine nahezu vollständige Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten und vom Dollar. Heute verhält sich die Sache umgekehrt. BRICS hat keine eigentlich politische Agenda und ist viel heterogener zusammengesetzt, aber die ökonomische Macht ist viel größer als damals, vor allem wegen Chinas wirtschaftlicher Bedeutung. Die BRICS-Staaten suchen eine Alternative zum Dollar, zur Weltbank etc. Das ist fortschrittlich, ohne dass BRICS per se ein fortschrittliches Bündnis wäre. Es bietet aber die Chance für eine Kooperation der Staaten des globalen Südens. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, der Umstand, dass ein Land vom Zahlungsverkehr abgeschnitten werden sollte, zeigte die Notwendigkeit an, alternative Zahlungssysteme zu etablieren. Das ist ein fortschrittlicher Vorgang. Aber kein Grund, naiv zu sein. Natürlich herrscht etwa in Brasilien oder in Südafrika kapitalistische Produktionsweise. Es gibt eine Neigung zum binären Denken: Wer ist der Gute, wer ist der Böse? Ich denke, die Welt ist komplizierter.

Es gibt ein ausgesprochen häufig anzutreffendes Bedürfnis nach einfachen Antworten, das Denken in Widersprüchen fällt schwer.

Ja, aber um im Bild zu bleiben: Wir haben es mit einer doppelten Meuterei zu tun.

Ein anderer, wiederkehrender Aspekt in Ihrem Buch ist die Kritik an der gigantischen Konzentration in verschiedenen ökonomischen Branchen, bei der Lebensmittelproduktion, in der Ölindustrie, im Bankensektor. Klar wird, es geht um die Eigentumsfrage. Wer viel besitzt, bestimmt. Ist das ein Plädoyer für eine neue Eigentumsordnung?

Im Bereich der Lebensmittelproduktion gibt es die übermächtigen ABCDs: ADM (Archer, Daniels, Midland), Bunge, Cargell, Dreyfus. Ein Gigant wie Cargill kontrolliert alle Stufen der Herstellung – von den Samen bis hin zu den fertigen Produkten im Supermarkt. Und in Zeiten der Inflation werden auf diesem Wege Superprofite generiert. Das ist alles andere als ein demokratischer Vorgang. Diese Monopole bestimmen, was wir essen, sie zerstören die Vielfalt des Saatguts. Ich schätze, es wird früher oder später eine Debatte darüber geben, wie wir die Monopole zerschlagen und eine Demokratisierung der Produktion erreichen können. Das gleiche gilt natürlich auch für die Ölindustrie und den Bankensektor. Oder nehmen wir den Energiebereich. Da wurde der Ukraine-Krieg dazu instrumentalisiert, die Preise für Strom und Heizung drastisch anzuheben. Und im belgischen Parlament stellt sich ein Abgeordneter der Liberalen, die den privaten Energiemonopolen alle Macht gegeben haben, hin und sagt, die Leute sollten Schals tragen. Ich habe nach ihm gesprochen und gesagt, das tun die Leute bereits, aber wir haben das generelle Problem zu lösen, dass diese Unternehmen einen permanenten Raubzug führen. Eine Bewegung wie die der Gelbwesten in Frankreich hat indes gezeigt, dass viele Menschen so etwas nicht mehr länger hinnehmen wollen. Auch dieser Protest war recht eigentlich nicht politisch, ging noch nicht aufs Ganze, aber auch er war eine Art Meuterei. Ich vermute, wir werden weitere vergleichbare Formen solchen Protests erleben.

Welche Perspektiven ergeben sich daraus?

Als ich in Südafrika war, um mein Buch vorzustellen, sprachen mich die Leute an und klopften mir aufmunternd auf die Schulter. »Du kommst aus Europa? Mit all dem Rechtsextremismus?« Das waren Menschen, die vor politischer Verfolgung in Bolsonaros Brasilien, Modis Indien oder Saieds Tunesien geflohen waren. Ich habe ihnen geantwortet, dass nicht die extreme Rechte das wichtigste Problem in Europa sei, sondern das mangelnde Selbstbewusstsein der Linken. Wir haben eine Welt zu gewinnen, und es ist an uns, sie zu gewinnen. Ich habe genug von all den Treffen, auf denen die Stärke der extremen Rechten verhandelt wird. Das ist deprimierend. Die Menschen müssen ermutigt werden, sie sollen wieder stolz sein können, Arbeiter zu sein und einer klassenorientierten Gewerkschaft anzugehören. Das ist etwas, was wir mit unserer Partei in Belgien versuchen.

Ihre Partei, die PVDA-PTB, ist gemessen am Zustand der Linken, sagen wir in Deutschland, ziemlich erfolgreich. Sie würden also sagen, die Partei ist drauf und dran, ihre Ziele zu erreichen?

Nein, das wäre eine vorschnelle Einschätzung. Wir dürfen nicht aufhören zu lernen und entsprechende Schlüsse zu ziehen. Auch in Belgien gibt es selbstverständlich noch viel zu tun. 2003 haben wir mit dem Neuaufbau unserer Partei begonnen, und wir wussten von Anfang an, dass wir unsere Ziele bei den folgenden Wahlen nicht erreicht haben würden. Eine Partei der Arbeiterklasse aufzubauen, eine Partei, die wirklich in deren Kultur und an deren Arbeitsstätten verankert ist, das braucht Zeit. Wir sind von Tür zu Tür gegangen, um mit den Leuten zu sprechen, und inzwischen, nach 20 Jahren, haben wir etliche starke Grundeinheiten. Wir haben uns damals drei Ziele gesetzt: Politisierung, Organisierung und Mobilisierung. So haben wir uns in die Lage versetzt, von kleineren Aktionen zu immer größeren überzugehen. Über unsere Vorgehensweise herrscht innerhalb der Partei große Einigkeit, es gibt keine Fraktionskämpfe. Dabei ist unsere Praxis nicht beliebig, wir stehen auf dem Boden fester Prinzipien. Wir sind eine marxistische Partei, die für den Sozialismus kämpft, das weiß jeder. Wir diskutieren sehr gründlich über die jeweilige Taktik angesichts wandelnder Situation, also über Flexibilität. Und je prinzipienfester eine Partei ist, desto flexibler kann sie agieren. Flexibilität ohne Grundsätze ist nichts, das macht dich zur Marionette.

Welche politischen Themen sind der Partei momentan die wichtigsten?

Nach den Parlamentswahlen im Juni stehen wir vor der Bildung einer neuen Regierung. Und zu erwarten steht eine sehr weit rechts stehende Regierung, die sich vor allem zusammensetzen wird aus dem Mouvement Réformateur, der größten liberalen Partei, die radikal neoliberale Positionen vertritt, und der Nieuw-Vlaamse Alliantie, die zwar keine faschistische Partei ist, aber sehr, sehr weit rechts steht. Diese Regierung wird einen Angriff auf die Löhne, auf die Renten und auf das Streikrecht führen. Dagegen planen wir eine Kampagne. Hinzu kommt, dass wir fortlaufend Proteste gegen den Völkermord in Gaza organisieren.

Belgien ist im Grunde genommen geteilt zwischen der Wallonie im Süden und Flandern im Norden. Gibt es Unterschiede in der politischen Schwerpunktsetzung in den beiden Regionen? Ist die PVDA-PTB dort unterschiedlich ­einflussreich?

Brüssel als dritte Region kommt noch hinzu. Und ja, die politische Situation ist durchaus unterschiedlich. Im Süden gibt es eine viel stärkere sozialistische und gewerkschaftliche Tradition. In der Wallonie bestand lange eine sozialdemokratische Hegemonie, die wahrscheinlich noch immer existiert. Der Norden dagegen steht politisch viel weiter rechts. Im Süden werden die Faschisten nicht toleriert, bekommen keinen Platz in den Medien. Im Norden ganz anders. Da werden die Faschisten von Vlaams Belang in jede Fernsehsendung eingeladen, sie sind dort völlig normalisiert. Umgekehrt wird im Norden versucht, uns mit antikommunistischen Kampagnen zu marginalisieren. Unabhängig davon besteht aber im ganzen Land in den zentralen politischen und sozialen Angelegenheiten – Renten, Löhne, Wohnungsfrage – eine einheitliche Situation. Die sozialökonomischen Probleme haben einen Klassenhintergrund, keinen regionalen oder sprachlichen. Wir sind die einzige Partei, die landesweit agiert, und so haben wir die Möglichkeit, in ganz Belgien eine einheitliche Kampagne zu fahren.

Wo ist die Partei stärker, im Norden oder im Süden?

Organisatorisch im Norden, nach Wählerzuspruch im Süden. Aber bei den vergangenen Wahlen haben wir in Antwerpen 20 Prozent der Wählerstimmen erobert und wurden damit zweitstärkste Kraft in dieser ökonomisch wichtigsten Stadt. In Brüssel haben wir 20 Prozent erreicht, in Liège und Charleroi jeweils etwa 18 Prozent. In Antwerpen hat man im Vorfeld versucht, uns als islamisch-kommunistische Pro-Taliban-Front darzustellen. Auf ganzen vier Seiten in der wichtigsten Lokalzeitung wurde vor uns gewarnt. Für uns war das, der Wahlausgang beweist es, gar nicht so schlecht.

In welchem Verhältnis steht die Partei zu den Gewerkschaften?

Wir haben sehr viele Mitglieder, die zugleich Mitglieder der Gewerkschaft sind. Und nach meiner Einschätzung gibt es sehr viele Gewerkschafter an der Basis, die mit uns sympathisieren. Auf der Funktionärsebene sieht das schon anders aus. In manchen Sektoren besteht eine gute Zusammenarbeit, aber es gibt auch Widerstand dagegen, denn die sozialdemokratische Kontrolle des Funktionärsapparats ist noch immer ungebrochen. Warten wir ab, was passiert, wenn die neue Regierung im Amt ist. Es könnte nämlich sein, dass die flämische Sozialdemokratie Teil der Regierung wird, nicht aber die wallonische. Es wäre das erste Mal, dass nur eine der beiden sozialdemokratischen Parteien in die Regierung eintritt. Und dann wird es auf gewerkschaftlicher Ebene spannend. Ein Teil muss die Regierungspolitik verteidigen, der andere wird sie kritisieren. Da ergeben sich für uns ganz neue Möglichkeiten.

Peter Mertens ist Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit (PVDA-PTB). Jüngst erschien von ihm im Berliner Brumaire Verlag in deutscher Sprache das Buch: »Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät«. Mertens ist Referent der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der Tageszeitung junge Welt am 11. Januar 2025 in Berlin-Wilhelmsruh. Infos unter: https://www.jungewelt.de/rlk Ticketverkauf unter: https://www.jungewelt-shop.de

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