Meer
Von Jürgen RothMeinen langjährigen Frankfurter Lieblingswirt – er genießt die Rente – rief jedermann Apollo. Mein Lieblingsgast im »Seven Bistro«, Walter, heißt bei den meisten Apollo, warum, habe ich bisher nicht in Erfahrung bringen können.
Der Name des Gottes der Klarheit und der Mäßigung will außerdem nicht recht zu ihm passen. Mein Freund L., der König der groben Bratwurst, berichtet mir regelmäßig von Apollos »Getränkeunfällen« nach Konferenzen am Dienstagsstammtisch im »Gasthof Keim«. Als Benamsung angemessen wäre daher, unter Abstrichen bei der Vitalitätskomponente, wohl eher Dionysos.
Das graue, strähnige, etwas fettige Haar fällt in den Nacken, der Schnauzer hängt kraftlos herunter. Die Stahlbrille klebt unter dem Nasensteg, eine milde Form der Seniorenschlampigkeit zeichnet seine Erscheinung aus: dreckerte Jacke, ausgelatschte, schmutzige Turnschuhe, eine waschbedürftige Hose, ein ordentlich gebrauchtes Stofftaschentuch, es hat sich aus der Zeit meines Großvaters herübergerettet.
Er sitzt immer auf demselben Barhocker, leicht zum Flachbildfernseher gedreht, einen Positionswechsel habe ich noch nie feststellen dürfen.
Hinter seinem Rücken sind die Novoline-Automatenspieler zugange. Die hätten mal vor ein paar Tagen die sanddumme ZDF-Vormittagssendung »Volle Kanne« sehen sollen, in der einer der üblichen Spezialexperten für alles, was ein Menschenleben auszumachen habe, darüber dozierte, dass die Spielsucht übler als die Trunksucht sei.
Auf den Doppeldeckerschnapsgläsern steht: »Leben. Lieben. Lachen.« Die Dreiliterflasche mit Reliefetikett auf der Anrichte enthält Kirschlikör der Marke »Ficken«.
Apollo trinkt Bier. Wenn er leise, beinahe so leise wie ein im Herbst fallendes Blatt, spricht, was äußerst selten vorkommt, dann »weltenpsychologisch« (Aenne Glienke) tiefengestimmt – meist über gerade Gestorbene. Die Traueranzeigen sind die Lektüre der alten Leute.
Ab und zu tastet Apollo nach einer Salzstange im Glas auf dem Resopaltresen und manövriert sie langsam und geringfügig zitternd zum Mund. Fast erstarrt hockt er gewöhnlich da, die Schultern hochgezogen, und manchmal neigt er den Kopf, auf den Fernseher stierend, ein wenig zur Seite, als wäge er einen Gedanken, gewiss aber keinen über die Folgen des Kirschlikörkonsums.
In fußballfreien Phasen laufen diese stundenlangen Youtube-Streams, die ich ausschließlich aus dem »Seven Bistro« kenne: »Summer Nostalgia«, »Summer Chillout«, »Summer Dreams«, »Summer Road Trip Mix«, »Summer Mix 2024 – Best Popular Songs 2024« – höllische Produkte der Kulturschrottindustrie, in denen sich die Zeit selber totschlägt, zusammengeschraubt aus stumpfsinniger Maschinenmusik (Dumm-dop-dumm-dop), Girlie-Gesingse und computerbearbeiteten oder -generierten Loop-Drohnenbildern in Bonbonfarben: Berge, Almen, Schluchten, Waldungen, Seen, Flüsse, Fjorde, wahlweise Archipele, Halbinseln, Klippen, Lagunen, Strände ohne Müll, Sonnenschirme, Resorts, Nobelferienhäuser, Segelboote, Yachthäfen, Promenaden, das Wasser strahlend blau und rein, alles in wunderbares Licht getaucht, diese miese Südkramgrütze à la Eiscreme- oder Bacardi-Werbung.
Jüngst klopfte André dem Walter auf die Schulter und meinte: »Na, Walter, so schee ham mir’s net! Ein Leben am Meer!« Apollo reagierte nicht.
In der Panoramatapetenwelt ebenfalls im Angebot sind: »Feeling good – Comfortable music that makes you feel positive«, »Wake up happy – A happy Acoustic/Indie/Pop/Folk Playlist to start your day« und »Musik, um aktiv und fröhlich zu arbeiten – fröhliche Musik für Geschäfte, Kaffee«.
Spieldauer jeweils: drei Stunden aufwärts.
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