»In jeder Straße sieht man Feuer und Barrikaden«
Interview: Tim KrügerSeit das türkische Innenministerium am 4. November die Bürgermeister dreier kurdischer Städte von ihren Posten entfernt und an ihrer Stelle Treuhänder eingesetzt hat, kommt es zu heftigen Protesten. Wie war zuletzt die Situation auf den Straßen?
In Mardin, Batman und Halfeti protestieren die Menschen gegen diesen unrechtmäßigen Prozess. Wir sind seit Tagen auf der Straße, protestieren, halten Wache und sitzen vor den Rathäusern. Nicht nur in diesen drei Städten, sondern in allen Städten der Türkei und Kurdistans gibt es Proteste. Vor allem in Batman sind die Proteste sehr stark. In jeder Straße sieht man Feuer und Barrikaden, die der Polizei den Weg versperren. Die Proteste werden weitergehen, bis die Stadtverwaltung an die Bevölkerung zurückgegeben wird. Die Polizei geht barbarisch gegen die Demonstranten vor. In den betroffenen Städten wurden zehntägige Versammlungsverbote verhängt. Es kommt zu Massenverhaftungen sowie Folter und Gewalt bei der Festnahme. Sie greifen die Demonstranten unvermittelt mit Gummigeschossen an. Die Gewalt ist so massiv, dass sogar der lokale AKP-Gouverneur angekündigt hat, Ermittlungen gegen die Polizei einzuleiten. Wir haben alle Folterungen dokumentiert und werden uns an alle nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen wenden.
Wie passt das Vorgehen der türkischen Regierung zu den jüngsten Andeutungen Erdoğans und Bahçelis über mögliche Reformen oder gar eine Lösung der Kurdenfrage?
Die Reden von Erdoğan und Bahçeli sind nicht aufrichtig. Das können wir deutlich an der Aggression gegen Rojava und den Angriffen in Nordkurdistan sehen. Die Regierung ist durch ihre Position im Nahen und Mittleren Osten blockiert. Ihre ganze Innen- und Außenpolitik, die auf der Bekämpfung der Errungenschaften der Kurden beruhte, ist zusammengebrochen. Nun geht es ihnen darum, die Situation zu verwischen und die Kurden zu verwirren. Selbstverständlich wollen wir uns positiv annähern und versuchen, den Weg zum Frieden zu ebnen. Aber man kann nicht mit der einen Hand den Frieden zeigen und in der anderen Hand den Knüppel bereithalten. Wenn sie wirklich Frieden wollen, müssen sie die politischen Rechte der Kurden respektieren und unseren Status anerkennen. Mit den Angriffen versuchen sie, für den Fall, dass es einen Friedensprozess geben sollte, die Kurden zu schwächen.
Wie reagieren die anderen politischen Parteien in der Türkei?
Die wichtigste Oppositionspartei, die CHP, verhält sich besser als die anderen. Ihr Vorsitzender Özgür Özel hat anerkannt, dass es eine kurdische Frage gibt und dass der Staat nicht der Staat der Kurden ist. Auch bei seinem Besuch in Diyarbakır betonte er, dass die Hauptakteure die Kurden und das türkische Parlament seien. Obwohl die CHP während des Friedensprozesses 2013–15 gegen eine Lösung war, sagt sie jetzt, dass sie den Weg zum Frieden nicht blockieren wird. Die faschistische İyi-Partei versucht, die Stimmen der Nationalisten zu gewinnen und stellt sich gegen eine politische Lösung.
Schon im April hatte die türkische Regierung versucht, den gewählten Bürgermeister der Stadt Van aus seinem Amt zu entfernen, musste aber nach Massenprotesten zurückrudern. Sehen Sie eine Möglichkeit, die Regierung zum Einlenken zu zwingen?
Ja, denn diesmal ist der Widerstand noch größer. Auch in Istanbul-Esenyurt haben sie einen Treuhänder eingesetzt und auch dort und überall in der Türkei gehen die Menschen nun auf die Straße. Die Rathäuser sind nicht nur einfach Gebäude. Sie symbolisieren den Willen der Gesellschaft, der Jugend und der Frauen. Bei den Wahlen am 31. März hat die AKP ihre Position als stärkste Partei eingebüßt, und die Proteste zeigen, dass die Regierung das Vertrauen des Volkes vollständig verloren hat. Weil sie Angst haben, dass sich die Proteste ausweiten, schaffen sie noch mehr Polizei herbei. Doch das wird ihnen nicht helfen. Wir werden unsere Stadtverwaltungen zurückerobern.
Rêzan Kağanarslan ist Mitglied des Jugendrates der prokurdischen linken Dem-Partei
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