Der innere Gegner
Von Norbert WohlfahrtJe mehr das Ideal der »liberalen Demokratie« Schaden nimmt, desto stärker melden sich diejenigen zu Wort, die dieses Ideal zum Maßstab einer moralisch unantastbaren Freund-Feind-Unterscheidung erheben. Die wehrhafte Demokratie stellt sich ihren Gegnern, und sie beruft sich dabei auf eine Werteordnung, die eine universelle Gültigkeit zum Maßstab hat. Der Universalismus des westlichen Wertesystems ist nicht diskussionsfähig, weil die demokratischen Werte von Gleichheit und Freiheit nur durch die Staaten repräsentiert werden können, die – »mit den Vereinigten Staaten als ihrem befleckten Symbol«¹ – den westlichen liberalen Demokratien zuzuordnen sind. Als menschenrechtlich verpflichtete Verfassungsstaaten handeln demokratische Staaten nach Maximen von allgemeiner Gültigkeit und mit einer Reichweite, die nichts und niemanden ausschließt. Dieser Universalismus sieht sich in Staat und Nation verwirklicht, und sein Anspruch realisiert sich als politische Gemeinschaft.
Die Freiheit, die Verfassung und Gesetze zum Inhalt dieses Universalismus machen, formuliert ein »Wir«, das alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger umfasst und damit schon vom Prinzip her jegliche Anliegen, die dieses »Wir« in Frage stellen, ins Abseits stellt. Damit ist der Feind schon ausgemacht, ohne dass man länger über dessen Argumente und Anliegen nachdenken müsste. Wer, wie Wladimir Putin, die westliche Werteordnung angreift, ist bestenfalls ein Nihilist², und Kritiker der liberalen Demokratie sind unverbesserliche Rechts- oder Linkspopulisten, die das Ewiggestrige repräsentieren.
Die Freiheit, die der westliche Universalismus garantiert, steht aber, will man der politischen Bildungsliteratur glauben, in einem nicht unproblematischen Zusammenhang mit dem Prinzip der Sicherheit, das den dauerhaften Bestand der freiheitsgewährenden Gesellschaftsordnung garantieren soll. Die liberale Demokratie belässt es deshalb nicht bei einer bloß ideologischen Ächtung ihrer Gegner, sie hat Vorkehrungen getroffen, sich gegen ihre Feinde zu wehren und gegen diese aktiv vorzugehen. Das Konzept der »wehrhaften Demokratie« umfasst einen Instrumentenkoffer aus sowohl strafrechtlichen als auch verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die auch als Mittel eines präventiven Verfassungsschutzes gelten. Hierzu gehören beispielsweise die Notstandsgesetze, die Berufsverbote der 1970er Jahre, die staatlichen Reaktionen auf die Gewalt der RAF oder die Erkenntnisse und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes.
Aktuell sieht sich die wehrhafte Demokratie durch den Aufschwung der AfD herausgefordert, und ein Parteiverbot wird zum Schutz der liberalen Demokratie in Erwägung gezogen. Die Bürgerinnen und Bürger, die diesen Staat als Souverän verkörpern, sollen sich gegen diejenigen wehren (können), die als Feinde der Demokratie diese Souveränität in Frage stellen. Es ist offenkundig, dass dieses »Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit« etwas mit der politischen Macht zu tun haben muss, die über die Sicherheit gebietet und definiert, was gefährdend ist und was nicht.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie ein auf Wehrhaftigkeit orientiertes Normensystem, das gegen autoritäre Tendenzen und antidemokratische Ideologien schützen soll, mit dem Wesen der Demokratie, der Legitimierung ihrer politischen Ordnung durch das Volk, in Übereinstimmung zu bringen ist.
Freiheit und Gewalt
Wenn, wie der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn behauptet, die Entstehung des modernen Staates sich im »Spannungsverhältnis von Freiheit und Gewalt« lokalisiert,³ dann ist für ihn der Machtanspruch der wehrhaften Demokratie konstitutiv für das, was sie sichert: die Freiheit. »Ein friedliches System wie die Demokratie kann nur friedlich sein und bleiben, wenn es sich mit allen Optionen legitimierter Gewalt gegen seine Feinde wehrt, weil jene den friedlichen und diskursiven Umgang mit Konflikten ontologisch ablehnen, also den Modus operandi des Demokratischen nicht anerkennen.«⁴ Was hier als selbstverständliche Norm formuliert wird, ist der Sache nach keineswegs unmittelbar einleuchtend: Die Willensfreiheit des einzelnen bedarf zu ihrer Entfaltung einer Souveränität, die mit Gewalt darauf achtet, dass der freie Wille sich nicht gegen die Ordnung erhebt, die seine Freiheit schützt. Die »Ermächtigung zur individuellen Freiheit« (Salzborn), die das Wesen des souveränen Staates ausmacht, beruht auf dessen legitimierter Gewalt. Und wenn der Staat diese gegen das einzelne Individuum geltend macht, dann sichert er auch dessen Freiheit.
Hans Kelsen, das Urgestein der Demokratietheorie, hat in seiner Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« (1929) den hier formulierten Widerspruch eingehend behandelt, und er erkennt in dem Grundgedanken der Wehrhaftigkeit (den einzelnen Willen zum Gehorsam gegenüber dem allgemeinen Willen zu zwingen), einen »Bedeutungswandel des Freiheitsgedankens«. Bezug nehmend auf Rousseau und dessen Feststellung, dass der Untertan seine ganze Freiheit aufgibt, um sie als Staatsbürger wieder zurückzuerhalten, weist er auf den Widerspruch hin, der dem Begriff der wehrhaften Demokratie innewohnt: »dass der Staatsbürger nur durch den allgemeinen Willen frei sein kann und dass man daher denjenigen, der diesem Willen den Gehorsam verweigert, indem man ihm gegenüber den Staatswillen erzwingt, zwingt – frei zu sein«.⁵
Was die staatliche Gewaltausübung von anderen Herrschaftsformen unterscheidet und sie als demokratisch adelt, ist ihre Legitimation durch das Volk. Das Volk repräsentiert den substantiellen Souverän, der die Befugnis, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können (nach Carl Schmitt ist dies der Inbegriff von Souveränität) einer Herrschaft überträgt, die die legitimierte Gewalt gegenüber den ihr Unterworfenen ausübt. »Demokratie ist Herrschaft des Volkes über das Volk«, formuliert Kelsen und fügt gleich hinzu, dass der Begriff des Volkes ein Konstrukt darstellt, das seine Einheit nur durch die Regelungen der staatlichen Rechtsordnung erhält, der die vielen einzelnen unterworfen sind. Das Volk als Einheit existiert insofern nur als Objekt der Herrschaft, die über es ausgeübt wird, während es als Subjekt der Herrschaft im Wahlakt an der Erzeugung der staatlichen Ordnung beteiligt ist, die dann sein durch Recht und Verfassung fundamentiertes Gewaltmonopol ausübt.
Folgt man dem Konzept der wehrhaften Demokratie, dann ist dies allerdings auch nur bedingt der Fall. Denn in den Grundrechten legt der demokratische Staat fest, dass bestimmte Rechte dauerhaft gelten und damit dem Willen des substantiellen Souveräns entzogen sind. Bestimmte Grundsatzentscheidungen werden als unabänderlich festgelegt und der Entscheidung der jeweiligen Mehrheit entzogen.⁶
Schutz des Eigentums
Die Freiheit, die der souveräne Staat dem einzelnen gewährt, ist eine Abstraktion. Ihr Inhalt ist der Schutz des Eigentums, also die Garantie, dass jedes Volksmitglied mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seinen materiellen Reichtum mehren kann. Es ist kein Geheimnis, dass die Gesellschaftsmitglieder sich hinsichtlich dieser Mittel gehörig unterscheiden und dementsprechend mit Blick auf die Eigentumsvermehrung höchst unterschiedliche Resultate zu verzeichnen sind. In der rechtsphilosophischen Begründung des bürgerlichen Staates wurde dieses Problem noch thematisiert, wenn Hegel im Paragraph 243 der Rechtsphilosophie feststellt, dass die an die Arbeit »gebundene« Klasse »der Empfindung und des Genusses der weitern Freiheit (…) der bürgerlichen Gesellschaft« unfähig wird. Die bürgerliche Gesellschaft als rechtlich gesicherte Sphäre der individuellen Freiheiten sichert die freie Verfügbarkeit des Privateigentums und schafft dadurch einen gesellschaftlichen Antagonismus zweier Klassen, die sich als Eigentümer und Eigentumslose gegenüberstehen.
Wenn der demokratische Staat sich die Anerkennung des Privaten auf die Fahne schreibt, dann weiß er natürlich, dass es hierbei nicht um die Sphäre der Freizeitgestaltung geht (die es auch in Autokratien geben soll), sondern um die Anerkennung höchst unterschiedlicher, um nicht zu sagen gegensätzlicher Interessen der Privateigentumsvermehrung. Die sich im Begriff des Volkswillens spiegelnde soziale Homogenität erweist sich in der Realität als gesellschaftlicher Antagonismus, auf den die wehrhafte Demokratie eine Antwort finden will: »Staatliche Ordnungen in der Moderne basieren auf Interessen, die in einer Gesellschaft immer im Konflikt miteinander stehen müssen«, heißt es lapidar bei Salzborn. Der so definierten sozialen Heterogenität wird eine Konfliktordnung gegenübergestellt, die dauerhaft »wehrhaft sein« muss gegen jene, »die ihren substantiellen Bestand in Frage stellen«. Die wehrhafte Demokratie agiert im Spannungsverhältnis von »homogener Normenordnung und heterogener Wirklichkeit«, und wenn die Heterogenität der Gesellschaft dazu genutzt werden soll, »die homogene Normenordnung zu stürzen – muss der Staat wehrhaft gegen seine nun als Feinde agierenden Gegner sein«.⁷
Kriegstüchtiger Volkssouverän
Nun ist es nicht so, dass der Zusammenhang von politischer Herrschaft und kapitalistischer Gesellschaft immer gleich einseitig zugunsten eines Plädoyers für die Homogenität der Staatsgewalt aufgelöst wird. Gleichheit und Gerechtigkeit werden unter dem Stichwort »Krise des Kapitalismus« als gefährdet wahrgenommen und als Entfernung der Demokratie von ihrem Ideal thematisiert. Die feinsinnige Unterscheidung von »Marktvolk« und »Staatsvolk« (Wolfgang Streeck) will zeigen, dass die Demokratie vor besonderen Herausforderungen steht: Die politische Macht verschiebt sich immer weiter in Richtung der (Finanz-)Marktakteure und stärkt damit das »Marktvolk«. Die Schlussfolgerungen, die aus dieser Diagnose der Gefährdung einer souveränen Volksherrschaft durch die Eigensinnigkeiten kapitalistischer Verwertungsinteressen gezogen werden, weisen allerdings überwiegend auf die Notwendigkeit einer wehrhaften Demokratie hin, die nicht zu einer »marktkonformen Demokratie« verkümmern darf: »Bürger eines Staatsvolkes leben in einem Land mit nationalstaatlichen Grenzen, mit einer Geschichte und sind Teil eines Wir, dem sich auch die Frage stellt: Was ist gut für alle zusammen? Investoren pendeln grenzüberschreitend zwischen Handelsplätzen mit Gerichtsständen und sind mit der Frage konfrontiert: Was ist gut für mein Geld oder das Geld meiner Kunden?«⁸ Die Freiheit, die die demokratische Herrschaft mit dem Schutz des Privateigentums garantiert, darf nicht dadurch gefährdet werden, dass dieses Privateigentum rücksichtslos seine Eigeninteressen verfolgt – auch aus kapitalismuskritischer Perspektive wird der demokratische Staat so zum Retter der Ideale, in deren Namen er regiert.⁹
Dass die Volksherrschaft so weit ginge, dass ein Volk sich selbst in den Krieg schickt, würden wohl selbst hartgesottene Werteidealisten nicht behaupten. Allerdings beharren die Politiker, die im Namen des Volkes die Staatsgeschäfte erledigen, hartnäckig darauf, dass sie einem höheren Auftrag folgen, der ihnen das Handeln diktiert. Die Aufgabe, vor der eine Demokratie steht, die die Fähigkeit, Kriege zu führen, zum Maßstab innerer und äußerer Militarisierung erhebt, ist die Stärkung der inneren Feindabwehr zur Sicherung der staatlichen Handlungsfähigkeit. Die »Zeitenwende« erhebt das Militärische zum Leitbild gesamtgesellschaftlicher Identität und überträgt damit das für eine Wehrmacht gültige Prinzip der »Inneren Führung« auf die Anforderungen einer kriegstüchtigen Gesellschaft.¹⁰ Damit stellt sich natürlich die Frage, inwieweit die wehrhafte Demokratie noch mit dem Ideal des liberalen Rechtsstaates vereinbar ist.
Die »Fallstricke der wehrhaften Demokratie« (Wolfgang Merkel) bestehen nach Hans Kelsen unter anderem darin, das, »wer für die Demokratie ist, (…) sich nicht mit in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen« dürfe, »zur Diktatur (zu) greifen, um die Demokratie zu retten«.¹¹ Demgegenüber steht die Auffassung, dass »es gerade die Prinzipien und Verfahren der Demokratie sind, die den Demokratiefeinden als Trojanisches Pferd dienen«.¹² Demokratietheoretisch stellt sich also die Frage, »ob das Verbot einer Partei, die in Umfragen im Bund auf 20 Prozent, in einzelnen ostdeutschen Bundesländern auf 30 Prozent der Wählerschaft kommen kann, nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch demokratietheoretisch zu legitimieren« ist. Die Frage, ob die »normative Imprägnierung« des demokratischen Staates im Sinne von »Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat« nicht nur ein Parteiverbot, sondern auch das Verbot der finanziellen Förderung zum Inhalt haben muss, muss zumindest erwogen werden, so der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Wenn man dem Deutschnationalismus der AfD schon nichts argumentativ entgegenzusetzen hat, dann muss sich die Wehrhaftigkeit in Vorgehensweisen materialisieren, die es der AfD nicht ermöglichen, »sich als Opfer der repressiven Systemstrukturen zu stilisieren«. Die demokratische Resilienz erfordert »republikanische Tugenden«, die »in die demokratischen Parteien und Institutionen getragen werden«.¹³
Die wehrhafte Demokratie belässt es aber nicht nur bei der Erwägung von Parteiverboten und der Forcierung verfassungsschutzgestützter Überwachungen aller als Rechts- oder Linkspopulisten dingfest gemachten Kritiker des demokratischen Betriebs.¹⁴ Die »Stärkung der Wehrhaftigkeit Deutschlands« erfolgt ganz im Sinne der wehrhaften Demokratie, die allein in der Lage ist, unsere Freiheit zu sichern: »Unsere Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit, unsere Sicherheit für Freiheit unseres Lebens.«¹⁵
Die Stärkung gesamtgesellschaftlicher Resilienz ist eine Aufgabe, die das »Zusammenspiel von militärischer und ziviler Verteidigung ermöglicht« und die Gesellschaft »zivilverteidigungstüchtig« machen soll.¹⁶ Eine wehrhafte Demokratie hat sich an den veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen zu orientieren und muss deshalb der Maxime folgen: »Alle Bürger eines Staates sind geborene Verteidiger desselben.«¹⁷ Wehrhaftigkeit muss – so die Forderung – als innere Haltung gegenüber Krise und Krieg verstanden werden, und dementsprechend muss die Zivilgesellschaft zu einem Baustein einer kriegstüchtigen Gesellschaft erzogen und ertüchtigt werden.
Die wehrhafte Demokratie, so lässt sich zusammenfassen, ist ein Mittel der inneren und äußeren Feindbekämpfung und der gesellschaftlichen Aufrüstung. Diese Selbstwahrnehmung erzeugt mit potentieller Geschwindigkeit auch die Frage, wer sich diesem für die Nation so essentiellen Auftrag entgegenstellt. In den Medien und einem nicht unerheblichen Teil der Wissenschaft wird der darin enthaltene Fahndungsauftrag ernstgenommen. Man fühlt sich aufgerufen, diejenigen zu stellen, die der Demokratie auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit entgegenstehen.
Resilienz fördern
So tritt die durch Volkssouveränität beglaubigte Demokratie schließlich auch noch ihrem eigenen Volk gegenüber, um es zur Wehrhaftigkeit zu erziehen und kriegstüchtig zu machen: »Die staatliche Förderung der Zivilgesellschaft sollte als Teil der kontinuierlichen ›Betriebskosten‹ der wehrhaften Demokratie in Deutschland verstanden werden. (…) Angesichts gesellschaftlicher Polarisierung und Destabilisierungsversuchen von innen- und außenpolitischen Akteuren, muss demokratische Resilienz kontinuierlich gefördert und verteidigt werden. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie sollte deshalb dazu beitragen, Deutschlands wehrhafte Demokratie aktiv und für zukünftige Herausforderungen fit zu machen.«¹⁸
Stellt sich schlussendlich die Frage, welches Volk es eigentlich ist, das hier zur ethisch fundierten Wehrhaftigkeit ertüchtigt werden soll. Die Verschmelzung innerer und äußerer Feindbekämpfung erfordert einen kritischen Blick auch auf das Volk, das hier als Souverän agiert. »Wenn Demokratie Herrschaft des Volkes ist, dann kann es nicht folgenlos bleiben, wenn das Volk als prinzipiell feste Größe fragwürdig wird, seine Substanz sich ändert und eine zahlenmäßig erhebliche Diskrepanz zwischen dem deutschen Volk als der Summe aller Staatsangehörigen einerseits und der innerhalb des Bundesgebietes ansässigen Bevölkerung andererseits festzustellen ist. Was wird aus der ›Herrschaft des Volkes‹, wenn der Begriff des Volkes ›undeutlich‹ wird, der spezifische Legitimationsquell der Demokratie verdunstet, diffus wird, nicht mehr abgrenzbar ist?«¹⁹
Der Begriff der wehrhaften Demokratie, ursprünglich auf die äußere Feindabwehr bezogen, wird damit zu einem Signum der inneren Feindbekämpfung in der Dreifaltigkeit von »Sicherheit stärken, Migration ordnen, Radikalisierung vorbeugen«, so der Titel des im September beschlossenen Maßnahmenpakets der »grün-schwarzen« Landesregierung Baden-Württembergs. Die Fortschritte der wehrhaften Demokratie sind unübersehbar. Ob damit die »liberale Demokratie« gerettet wird, steht auf einem anderen Blatt.
Anmerkungen:
1 Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Universalismus als rettende Alternative, Berlin 2022, S. 10
2 »Wenn Putin überhaupt eine Ideologie hat, dann eine nihilistische, eine Art Wille zur Macht«, schreibt Omri Boehm. Ebd., S. 11
3 Samuel Salzborn: Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung, Leipzig 2024, S. 54
4 Ebd., S. 55
5 Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, Ditzingen 2019, S. 20. Kelsen schlussfolgert: »Es ist mehr als paradox, es ist ein Sinnbild der Demokratie, wenn in der genuesichen Republik über den Gefängnistüren und auf den Ketten der Galeerensklaven das Wort ›Libertas‹ zu lesen war.« Ebd., S. 21
6 Hierzu zählen die Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte, die Festlegung der Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, die Bindung der Freiheit von Forschung und Lehre an die Verfassungstreue, die Verwirkung von Grundrechten, das Vereinsverbot u. a. m.
7 Salzborn (Anm. 3), S. 106 f.
8 Lutz Wingert: Von Krisen und Grenzen. Marktvolk und Staatsvolk im entgrenzten Kapitalismus. In: Journal of Modern European History (2014), Heft 12, S. 65
9 Dass der Staat, der mit seiner Herrschaft eine Gesellschaft von Privateigentümern fördern will, hierdurch Gleichheit und Gerechtigkeit realisiert, gibt Anlass zu einer nicht auszurottenden Staatskritik: Er schafft es einfach nicht, dies in zureichendem Maße zu garantieren. Als ob das Sozialgesetzbuch nicht Zeugnis davon ablegen würde, dass er über die Folgen der von ihm gewollten Gesellschaftsordnung nicht Bescheid wüsste.
11 Hans Kelsen: Verteidigung der Demokratie. In: Horst Dreier (Hg.): Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl., Mannheim 1990, S. 163f.
12 Karl Löwenstein: Militant Democracy and Fundamental Rights. In: The American Political Science Review 31 (1937), No. 3/4, S. 423
13 Wolfgang Merkel: Die Fallstricke der wehrhaften Demokratie, 29.3.2024, verfassungsblog.de/die-fallstricke-der-wehrhaften-demokratie
14 Um ein Beispiel zu nennen: Die bayerische Staatsregierung hat die Möglichkeit, Klimaschutzaktivisten einen Monat lang präventiv in Gewahrsam zu nehmen, als Akt einer wehrhaften Demokratie verteidigt: »Präventivmaßnahmen sind notwendig, um Straftaten, die angekündigt werden, die offenkundig kurz bevorstehen, zu verhindern«, sagte Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) nach einer Kabinettssitzung am Dienstag in München (Bayrische Staatszeitung, 8. 11. 2022).
15 Annalena Baerbock, Deutschlandfunk, 6.4.2023
16 Ralph Tiesler: Die Zeitenwende betrifft uns alle. In: Innere Führung 3/2024, S. 14
17 André Schröder/Guido Gutzeit: Seite an Seite in die Zukunft. Wie Wehrhaftigkeit zu unserem gemeinsamen Bundeswehrselbstverständnis wird. In: Innere Führung 3/2024, S. 24 f.
18 Sophia Koller/Alexander Ritzmann: Demokratische Resilienz: Der innen- und außenpolitische Nexus der Extremismusprävention, fourninesecurity.de/2023/02/01/demokratische-resilienz-der-innen-und-aussenpolitische-nexus-der-extremismuspraevention
19 Otto Depenheuer: Ende der repräsentativen Demokratie? Eine Staatsform vor der Alternative ihrer selbst. In: Henk Botha/Nils Schack/Dominik Steiger (Hg.): Das Ende des repräsentativen Staates? Demokratie am Scheideweg, Köln 2016, S. 216
Norbert Wohlfahrt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. Juni 2024 über die Ambitionen der EU kriegstüchtig zu werden
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (25. November 2024 um 07:30 Uhr)Es ist durchaus wichtig, wenn die gebrochenen Argumentationslinien heutiger bürgerlicher Theorien mit ihren eigenen Begrifflichkeiten und Methoden hinterleuchtet und die Schwachstellen aufgedeckt werden, in denen sie sich regelmäßig verhaken. Noch wichtiger scheint allerdings zu zeigen, wie sehr sich diese Theorien um exakte Definitionen ihrer Ausgangsbegriffe und -thesen herummogeln und damit ganz oft schwammig am Problem vorbeireden. Die Begriffe Freiheit und Demokratie sind zu wichtig im gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs, um bei ihrem Gebrauch hinter das zurückfallen zu dürfen, was uns Marx, Engels und Lenin dazu ins Stammbuch geschrieben haben. Vielleicht wäre das ein guter Ansatzpunkt, diesem einen zweiten Artikel folgen zu lassen. Denn eines ist heute schmerzlich zu erkennen: Die Klarheit der Begrifflichkeiten und die Schärfe der Positionen, die sie formulieren konnten, ist der heutigen Arbeiterbewegung weitestgehend abhanden gekommen. Eines aber ist klar: Wenn wir uns auf die Begrifflichkeiten unserer geistigen Gegner einlassen, landen wir irgendwann zwangsläufig auch bei jener Art zu denken, die sie uns bewusst überstülpen wollen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (24. November 2024 um 22:26 Uhr)Schöner, abstrakter Artikel. Damit könnte man sich auch auseinandersetzen: »Freiheitliche demokratische Grundordnung; Ein wesentlicher Aufgabenschwerpunkt des Verfassungsschutzes im Bund und in den Ländern ist die Beobachtung von Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) gerichtet sind. Mit der fdGO als unbestimmtem Rechtsbegriff ist dabei nicht die Verfassung bzw. das Grundgesetz in seiner Gesamtheit gemeint, sondern die unabänderlichen obersten Wertprinzipien als Kernbestand unseres demokratischen Systems.« (Quelle: https://www.verfassungsschutz.de/DE/verfassungsschutz/auftrag/verfassung-schuetzen/verfassung-schuetzen_node.html). Wer steht denn da über dem Grundgesetz?