Trümmer im Schummerlicht
Von Frank SchwarzbergReizarmut öffnet die Sinne. Minimalistisch wie in einem Kaurismäki-Film geht es in der Goldkante in Bochum-Ehrenfeld zu. Tresen, Flohmarktmobiliar, eine wandgroße Fensterfront (ohne Gardine mit Goldfaden), Schummerlicht. Im Hinterzimmer finden manchmal Konzerte statt, und manch andere Bühne ist größer als hier der gesamte Raum. Dennoch drängeln sich am Donnerstag abend geschätzt 100 Leute hinein. Nur ganz hinten an der Wand lassen sie noch etwas Platz für Drumset, Keyboard, Verstärker, Effektgeräte – und eine Band, die zwischen all dem balancieren und agieren wird: Suzan Köcher’s Suprafon.
Ihr drittes Album erschien im Oktober und heißt »In These Dying Times«. Als Köcher etwa zur Hälfte des Konzerts den Titelsong daraus ankündigt, beklagt sie die Zunahme von gesellschaftlicher Spaltung und Hass. Die allermeisten im Raum werden wissen, dass sich zudem das unselige Solinger Attentat im August während ihres Auftritts auf einem Stadtfest in ihrer Heimatstadt ereignete. Geredet wird weiter nicht darüber, Köcher wünscht sich allgemein »mehr Gemeinschaft – so wie heute«, und dann werden wieder, wie den ganzen Abend schon, die Trümmer dieser Zeit weggetanzt und weggespielt.
Das Debüt der Band »Moon Bordeaux« (2017) enthielt wunderschöne Folkrockchansons mit melancholischen Melodien und punktgenauen Arrangements. Über allem schwebend: Suzan Köchers ungekünstelte, klare, mitunter verhallte Altstimme. 2019 entfernte die Band sich etwas von klassischen Songstrukturen, spielte atmosphärischer und psychedelischer, während das neue Album nun das Beste aus diesen beiden Ansätzen vereint. »Psychedelic Dream Pop Disco« nennen Suprafon selbst ihren Ansatz, und das trifft es schon ganz gut, wenn auch unzureichend: Folk Rock scheint noch immer auf, eine Prise French Pop (sie covern, extrem rockig, Françoise Hardys »Le temps de l'amour« von 1962), dann wieder die treibende Live-Energie von, oh ja, Led Zeppelin, und manchmal erinnert so etwas wie das Riff zu »Living in a Bad Place« in Einfachheit und Effektivität an Black Sabbath.
Für all das brauchst du einen expressiven Drummer, sie haben ihn: Dale Lohse, sehr druckvoll zusammenspielend mit Janis Rosanka am Bass. Und du brauchst einen Gitarristen der Extraklasse; einer reicht, wenn er Julian Müller heißt. Der Mann (Koproduzent, Songwriter und Arrangeur) ist sein eigenes Gitarrenduell, sein Livespiel eine Ohren- und Augenweide. Suzan Köcher, im Glitzerdress und mit maskenhaft geschminkter Augenpartie, singt zwischen Shouten und Flüstern und spielt dazu Gitarre, Percussion oder spaciges Keyboard – sie ist das Zentrum dieser Performance, drum herum kann sich die Band austoben.
In diesen Songs stecken enorm viele Detailtüfteleien und Arrangementideen, die das Publikum auf intelligente Art wie mühelos mitreißen. Es ist ihr ganz eigenes Gemisch, das so entsteht, ein futuristischer Sound, von den 70ern her gedacht. Der klingt in der winzigen, nur äußerlich kargen Goldkante wild wie auf dem »Psychedelic Dream Pop Disco«-Tourposter. Sehr laut. Und dabei so klar und schön wie der Sternenhimmel aussieht, auf dem beseelten Nachhauseweg durchs Bochumer Viertel.
Suzan Köcher's Suprafon: »In These Dying Times« (Unique Records)
Letzte Tourtermine: 7.12. Rüsselsheim, 12.12. Dortmund, 13.12. Braunschweig
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