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Aus: Ausgabe vom 03.12.2024, Seite 12 / Thema
Autoritärer Kapitalismus

Abwehr nach außen

Die Rechte hat sich modernisiert und profitiert von den Verheerungen des Neoliberalismus. Das Plazet der herrschenden Klasse aber hat sie (noch) nicht
Von Gerd Wiegel
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Leider beileibe nicht mehr nur Witzfiguren. Aktuellen Umfragen zufolge wollen zwischen 17 und 19 Prozent der Wählerinnen und Wähler bei der vorgezogenen Bundestagswahl Ende Februar die AfD wählen (Mannheim, 7.6.2024)

In der kommenden Woche erscheint Heft 140 der Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Herausgebern den Aufsatz »Gründe für den Aufstieg der modernisierten Rechten« von Gerd Wiegel. Das vollständige Heft kann bestellt werden unter: zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)

Unter der Überschrift »Autoritärer Kapitalismus« beschreibt Frank Deppe »die Rechtsverschiebung im politischen System der Staaten des Westens«, die er in einen Zusammenhang mit dem »Übergang von der ›langen‹, expansiven Welle kapitalistischer Expansion im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in eine lange depressive Welle krisenhafter Entwicklung seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09« bringt.¹ Der Aufstieg einer autoritären Rechten ist demnach der politische Ausdruck einer Krisenerscheinung des Kapitalismus, der aus einer expansiven Welle in den Zustand der Stagnation und der Vielfachkrise übergegangen ist. Unbestimmt bleibt, ob der Aufstieg einer autoritären, modernisierten radikalen Rechten dabei eine beklagenswerte Begleiterscheinung dieser Krise des Kapitalismus ist oder ob er Teil der autoritären Krisenlösung des »herrschenden Blocks« ist, der man sich bedienen kann, wenn sich die Widersprüche weiter zuspitzen.

Eine ähnliche Frage, zumindest eine ähnliche Diagnose, trieb vor mehr als 20 Jahren den Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer an, als er zusammen mit Dietmar Loch den »Schattenseiten der Globalisierung« nachging und die Frage aufwarf, »inwieweit mit einer neuen Qualität globaler Ausweitung des kapitalistischen Systems eine Rückentwicklung liberaler demokratischer Prozesse einhergeht«.² Heitmeyer hatte sich den Aufstieg einer modernisierten radikalen Rechten in Österreich, Frankreich, Italien und weiteren Ländern angesehen, wie er sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre immer deutlicher abzeichnete, und brachte ihn in Zusammenhang mit den weltweiten Auswirkungen eines aggressiven neoliberalen Kapitalismus, der in dieser Zeit seinen Höhepunkt erreichte. Mit Blick auf die Bundesrepublik führte er aus: »Die zu verfolgende These geht davon aus, dass sich ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so dass neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden.«³

»Autoritärer Kapitalismus« ist das zentrale Stichwort 2001 bei Heitmeyer und 2024 bei Deppe, und es stellt sich die Frage, ob es sich in beiden Diagnosen um dasselbe Phänomen handelt. Haben wir es mit einer seit zwanzig Jahren andauernden autoritären Entwicklung zu tun? Wie hat sich das Verhältnis von liberalen Elementen dieses Kapitalismus zu den immer vorhandenen autoritären Tendenzen verändert, und wer oder was ist der Treiber dieser Entwicklung? Während Heitmeyer den Prozess der Autoritarisierung auf dem Höhepunkt der neoliberalen Hegemonie in den Blick nimmt, konstatiert Deppe diese in der Phase des zumindest ideologischen Zerfalls dieser Hegemonie. Für den parteipolitischen Aufstieg einer radikalen Rechten sind diese Etappen von Bedeutung, denn am Ende eines hegemonialen Zyklus hat sie realistische Aussichten, die entstandenen politischen Repräsentationslücken zu füllen und daraus politische Macht zu generieren.

Der Aufstieg von Parteien wie der FPÖ, dem Front National oder der Lega Nord in Italien in den 1990er Jahren vollzog sich in einer Phase der endgültigen Durchsetzung eines neoliberalen Kapitalismusmodells in Westeuropa, das weitreichende Auswirkungen auf die sozialstaatlichen Systeme der einzelnen Länder und das Verhältnis von Kapital und Arbeit hatte. Die Auflösung des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit, der für eine zumindest ansatzweise Umverteilung von oben nach unten und eine Befriedung der Klassenauseinandersetzungen durch finanzielle Beteiligung, politische Repräsentanz und sozialstaatliche Garantien sorgte, beendete diese Phase. Anders als in Großbritannien und den USA machten sich die veränderten Bedingungen in vielen Staaten erst im Laufe der 1990er Jahre voll bemerkbar. Der mit den veränderten Verwertungsbedingungen des Kapitals einhergehende Siegeszug des Neoliberalismus änderte die Rolle der politischen Träger der alten Ordnung. Der von Tony Blair und Gerhard Schröder beschrittene »Dritte Weg« der Sozialdemokratie war Ausdruck dieser Veränderung und wies die an die Sozialdemokratie gerichteten Erwartungen an eine Einhegung des Kapitalismus in aller Klarheit zurück. Im internationalen Wettbewerb der Globalisierung endete der »rheinische Kapitalismus« und mit ihm die klassische Rolle der Sozialdemokratie. Die ideologischen Übernahmen aus dem Reservoir des Neoliberalismus führten einerseits zur zunehmenden Abwendung größer werdender Teile der abhängig Beschäftigten von der Sozialdemokratie, sorgten aber andererseits dafür, dass sich Elemente dieser Ideologie auch in den arbeitenden Klassen verbreiteten.

Ideologische und politische Einbrüche der extremen Rechten in die Anhängerschaft der Sozialdemokratie waren in vielen Fällen eine Folge dieser Entwicklung – in Frankreich beschrieben zum Beispiel von Didier Eribon, in Italien dokumentiert über die wahlpolitischen Erfolge der Lega in zahlreichen früheren Hochburgen der Sozialisten und Kommunisten und in Österreich durch die voranschreitende Entwicklung der FPÖ zur führenden »Arbeiterpartei«.

Diese Phase ist von einer starken Aneignung neoliberaler Ideologieelemente durch die modernisierte extreme Rechte gekennzeichnet. Herbert Schui und andere hatten schon in den späten 1990er Jahren die ideologischen Verbindungen des Neoliberalismus zum Ideologiebestand der extremen Rechten über die Brücke des Sozialdarwinismus herausgearbeitet.⁴ Eine Aneignung, die bis heute eine wichtige Rolle spielt.

Heitmeyer bezeichnet die gesellschaftspolitischen Auswirkungen dieser Verbindung als »rohe Bürgerlichkeit«, die er über zehn Jahre unter dem Stichwort »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« in der Langzeituntersuchung »Deutsche Zustände« untersucht hat. Ethnozentrismus, Rassismus und zahlreiche weitere Formen der Abwertung sozial schwacher Gruppen werden von ihm als Ausdruck der Verinnerlichung neoliberaler Leistungsanforderungen bewertet, die von den Trägern dieser Ideologie gegen all jene in Stellung gebracht werden, die diesen Anforderungen (vermeintlich) nicht gerecht werden. Die Vorwürfe gegen Asylbewerber, Geflüchtete und zahlreiche andere Gruppen sind nicht allein rassistisch motiviert. Vorgehalten wird ihnen, »leistungsloses« Einkommen und staatliche Unterstützung zu beziehen, während sich die den neoliberalen Leistungsanforderungen unterwerfenden »Normalbürger« um ihren gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum betrogen fühlen. Die Bücher von Thilo Sarrazin sind Ausdruck dieses »Rassismus der Leistungsträger« und der »normal arbeitenden Bevölkerung«, die vor allem den Mittelklassen entstammen und bis heute einen wichtigen Bezugspunkt der modernisierten radikalen Rechten bilden. Inzwischen sind zentrale Elemente dieser Ideologie auch in größeren Bereichen der Arbeiterklasse verbreitet und gegenwärtig in Debatten zum Thema Bürgergeld oder Flucht und Migration abrufbar.

Hinzu kommt ein dritter Punkt, der das Bild eines seit mehr als zwanzig Jahren autoritärer werdenden Kapitalismus modifiziert. Mit dem von Nancy Fraser beschriebenen »progressiven Neoliberalismus«⁵ ging eine Welle kultureller Liberalisierung einher, die zu massiven Veränderungen im Wertegefüge westlicher Gesellschaften geführt hat. Veränderte Familienstrukturen, die stärkere Anerkennung von Sexualitäten fernab der Heteronormativität, die weitere Auflösung tradierter Geschlechterrollen und die Erweiterung der Geschlechtervielfalt haben einen großen Liberalisierungsschub für zahlreiche Menschen gebracht und zu massiven Veränderungen westlicher Gesellschaften geführt. Gleichzeitig hat diese Entwicklung zu massiven Verunsicherungen vor allem bei denen beigetragen, denen die tradierten Strukturen Sicherheit und Vorteile versprachen. Die modernisierte Rechte hat auf diese Verunsicherungen massiv reagiert und führt seit mehr als zwanzig Jahren einen Kulturkampf gegen diese Veränderungen.

Inzwischen scheint die gesellschaftspolitische Wirkmacht dieses »progressiven Neoliberalismus« aufgebraucht zu sein. Seine Vertreter werden von der Rechten als Teil der herrschenden Elite gebrandmarkt und als Feinde des einfachen Volkes dargestellt, denen gegenüber man sich selbst als die wahren Vertreter dieses Volkes ausgibt. Größere Teile der politischen Linken werden über die Themen Migration, Gendergerechtigkeit und Klima mit dieser Elite assoziiert, weshalb sie weitgehend den Kontakt zu den Teilen der Arbeiterklasse verloren haben, der heute von der extremen Rechten erreicht wird.

Veränderte extreme Rechte

Wiewohl sich die modernisierte extreme Rechte weitgehend in den ideologischen Bahnen der völkischen Rechten des frühen 20. Jahrhunderts bewegt, hat sie einige wichtige Änderungen vorgenommen, die ihre Anschlussfähigkeit in der Bevölkerung erhöhen und sie vom historischen Faschismus abheben, wenngleich es zahlreiche Verbindungselemente gibt.

Die Ersetzung des biologistischen Rassismus durch eine kulturalistische Variante des Ethnopluralismus gehört zu den zentralen Punkten dieser Veränderung. Nicht das Blut, sondern die Kultur wird als zentrales Unterscheidungsmerkmal benannt, mit dem Gesellschaften gestaltet werden sollen. Die völkische Rechte begreift Nationen (in manchen Fällen auch Regionen) als vor allem kulturell geprägte homogene Einheiten, die sich vor der Vermischung mit anderen Kulturen schützen müssen. In Zeiten einer kapitalistisch induzierten Globalisierung werden die Gefahren dieser »Vermischung« immer größer und auch alltäglich erfahrbarer. Die vor allem ökonomischen Bedrohungen im Rahmen des globalisierten Kapitalismus werden durch die »Fremden« symbolisiert, gegen die sich die Abwehr als sichtbare Boten dieser Veränderung richtet. Die extreme Rechte verfügt mit dieser Umdeutung der Krisenursachen über einen entscheidenden Hebel, mit dem sie Antworten auf reale Krisenerscheinungen gibt. Die Umdeutung eines Oben-Unten-Konflikts in einen Innen-Außen-Konflikt ist einer der entscheidenden Punkte, mit denen die Rechte die Linke als Anwalt der subalternen Klassen abgelöst hat. Als universale Lösung aller Krisen gilt der Rechten die Zurückweisung jeglicher Zuwanderung, womit sie den Verteilungskonflikt von einem Klassenkonflikt zu einem Konflikt innerhalb der subalternen Klasse umdeutet.

Eine zweite wichtige Veränderung der extremen Rechten bezieht sich auf das veränderte Verhältnis zur Gewalt. Für den historischen Faschismus war die Gewalt ein zentrales Element. Noch der Neofaschismus nach 1945 hat sich positiv auf sie bezogen. Die modernisierte extreme Rechte hat diesen engen Bezug zur politischen Gewalt verändert. Étienne Balibar beschreibt diese Veränderung am französischen Beispiel: »In den Reihen des RN (Rassemblement National, jW) gibt es zwar Kerne rassistischer Jugendlicher, die zu offener Gewalt bereit sind, aber er bringt keine Milizen oder fanatisierte Massen auf die Straße. Das ist weder seine Strategie noch besitzt er die Fähigkeit dazu. Der Grund, warum er Einfluss auf eine sehr große Zahl von Bürgern ausübt, ist anderer Natur: Er beruht weniger auf Hass denn auf Angst oder Panik vor den sie betreffenden Veränderungen der Welt. Genauer gesagt, wird der Hass (auf das ›Andere‹ im allgemeinen) auf den grundlegenden Affekt der Angst, also auf das Gefühl der Ohnmacht, aufgepfropft.«⁶

Oliver Nachtwey beschrieb die westlich kapitalistischen Gesellschaften 2016 als »Abstiegsgesellschaften«, in denen sich das liberal-kapitalistische Versprechen des langsamen aber stetigen Aufstiegs nicht mehr erfüllt und in denen die Individuen unter einer ständigen Drohung des ökonomischen und sozialen Abstiegs leben.⁷ Im Bild der nach unten fahrenden Rolltreppe verdeutlicht Nachtwey die Anstrengungen, die den Individuen abverlangt werden, wollen sie ihren einmal erreichten Status auch nur halten. Diese negative Zukunftserwartung ist ein zentrales Motiv der grundlegenden Unzufriedenheit mit der politischen Entwicklung und für die Wahl von Parteien wie der AfD. Schätzen ihre Wählerinnen und Wähler ihre eigene ökonomische Situation zumeist noch als gut ein – was keine Aussage über ihren objektiven Status, sondern eher die eigene Erwartungshaltung bzw. die gewollte Außenwahrnehmung wiedergibt – so gehen sie von einer massiven Negativentwicklung für ihre Kinder und Enkel aus. Die hier zum Ausdruck kommenden Ängste werden von Parteien wie der AfD aufgegriffen und in nationalistischer und populistischer Weise beantwortet. Mit Rückkehr zur D-Mark, einem EU-Austritt, ethnischer Homogenität und der volksgemeinschaftlichen Anstrengung für den Wirtschaftsstandort suggeriert sie ein Zurück zur vermeintlich heilen Welt des fordistischen Kapitalismus, die jedoch eine Schimäre bleibt.

Die überproportionale Zustimmung unter Arbeiterinnen und Arbeitern für Parteien dieses Typs hat eine Ursache auch in der Tatsache, dass diese von der verkündeten Notwendigkeit der Transformation in besonderer Weise betroffen sind. So sind es vor allem die Arbeitsplätze in der industriellen Produktion, die unter starkem Druck stehen. In der richtigen Erkenntnis, keinen starken Anwalt ihrer Interessen in der politischen Linken zu haben, wenden sich viele dieser Beschäftigten der extremen Rechten zu, die mit einer Ethnisierung des Sozialen zumindest einen »natürlichen« Vorteil bei der Verteilung des kleiner werdenden Kuchens verspricht.

Der durch die neoliberale Sparpolitik und den Rückzug des Staates verursachte Verfall von Teilen der öffentlichen Infrastruktur führt unter anderem zu einer zunehmenden Spaltung zwischen ländlichen bzw. kleinstädtischen und metropolitanen Lagen. Der Hass auf die »Eliten«, die sich immer weiter von den Abgehängten entfernen, hat hier eine Ursache. Die Spezifik der AfD-Erfolge in Ostdeutschland hat einen wichtigen Grund in der sehr viel unmittelbareren Erfahrung einer vorangegangenen Transformation, die schon einmal Lebensentwürfe zerstört hat. Dass es sich jedoch um keine ostdeutsche Besonderheit handelt, sondern um eine verbreitete Erfahrung im neoliberalen Kapitalismus, zeigt die Beschreibung der angesprochenen Ängste durch Étienne Balibar für Frankreich:

»Welche Angst ist das? Grundsätzlich die wachsende Unsicherheit, in der diese Bürger leben und in der sie andere leben sehen (ihre Verwandten, Nachbarn, Eltern, Kinder). Sie umfasst sowohl die Ungewissheit bezüglich der beruflichen, familiären und schulischen Zukunft (…) als auch die wachsende Gewissheit der Deklassierung hinsichtlich des Lebensstandards, der Stabilität oder Prekarität, der Qualität von Arbeitsplätzen und städtischer oder vorstädtischer Umgebung, der Wertschätzung seitens der Verwaltung und der führenden ›Eliten‹. Diese Gefühle betreffen nicht nur Fraktionen der Gesellschaft, die man als ›marginal‹ bezeichnen könnte, sondern ein breites Spektrum gesellschaftlicher Gruppen, die sich in der Mitte ›zwischen‹ den Reichen (die immer reicher werden) und den Armen (die immer ärmer werden) befinden. Es sind diejenigen, für die Schutz und Solidarität zugunsten einer erbarmungslosen Konkurrenz (bei der es immer mehr Verlierer als Gewinner gibt) und Vernachlässigung, wenn nicht gar Verachtung verschwinden.«⁸

Hinzu kommt die Erfahrung der Vielfachkrise, spätestens seit der Finanzmarktkrise 2008. Liberale Politik scheint nicht mehr in der Lage zu sein, die Dauerkrise zu bewältigen und für Formen von Sicherheit, Kontrolle und Normalität zu sorgen. Auch hier macht die extreme Rechte einfache, aber attraktive Angebote: »Let’s take back control« lautete der Slogan der Rechten zum Brexit-Votum, »Deutschland, aber normal« die Botschaft der AfD zur letzten Bundestagswahl. Adressiert werden damit zentrale Erwartungen der Sicherheit und Berechenbarkeit an die Politik, die jedoch von den Vertretern des liberalen Kapitalismusmodells nicht erfüllt werden bzw. nicht erfüllt werden können.

Ganz im Gegenteil wird den verunsicherten Teilen der Bevölkerung immer wieder verdeutlicht, dass ihre Sicherheitserwartungen politisch nicht prioritär sind. Während Milliarden Euro für gigantische Aufrüstungsprojekte und Konzernsubventionen gestemmt werden, sorgt die Schuldenbremse weiter für knappe öffentliche Kassen, für den Verfall öffentlicher Infrastruktur, für die weitere Spaltung von Stadt und Land und für zunehmende Konkurrenz unter denen, die auf einen sozial handlungsfähigen und willigen Staat angewiesen sind. Alle Bekenntnisse im Kampf gegen den weiteren Aufstieg der extremen Rechten bleiben unglaubwürdig, solange diese zentralen Ursachen dieses Aufstiegs nicht angegangen werden. Da dies jedoch den Anforderungen des Kapitals und der internationalen Konkurrenz widersprechen würde, werden die autoritären Elemente liberaler Gesellschaften verstärkt, um auf Abweichungen und Widerstand entsprechend reagieren zu können.

Aktuell kommen diese autoritären Tendenzen häufig im Gewand des Kampfes gegen rechts daher, sind aber auch gegen andere den Basiskonsens aufkündigende Tendenzen einsetzbar. Zwar steht die extreme Rechte nicht für eine Überwindung der kapitalistischen Konkurrenzlogik, sondern für ihre Verschärfung, jedoch ist sie gegenwärtig der ernsthafteste Gegner eines liberalen Modells des Kapitalismus, weshalb sich die autoritären Maßnahmen aktuell auch gegen sie richten.

Die von Deppe und Heitmeyer für unterschiedliche Zeitpunkte beschriebene Tendenz zu einem autoritären Kapitalismus scheint zumindest bezüglich des Aufstiegs moderner Rechtsparteien weniger den politischen Wünschen des herrschenden Blocks, als vielmehr den Krisenerscheinungen des Gegenwartskapitalismus zu entspringen. Zentrale Inhalte der extremen Rechten stehen aktuell quer zu den Interessen vor allem des Kapitals: EU-Austritt, Renationalisierung, Abschottung des Landes von den internationalen Arbeitsmärkten durch Migrationsstopp, Abbruch des Transformationsprozesses in der Energie- und Autoindustrie – bei all diesen Punkten stehen entscheidende Teile des Kapitals quer zu den Vorschlägen von Parteien wie der AfD. Und dennoch setzt sich ihr Aufstieg gegenwärtig weiter fort. Ob, und wenn ja, welche Teile des herrschenden Blocks über kurz oder lang, ein Arrangement mit der extremen Rechten anstreben und unter welchen Konditionen es zu einer solchen Annäherung kommen kann, bleibt abzuwarten. Der Blick nach Italien, in die Niederlande, nach Österreich und vielleicht bald schon nach Frankreich könnte aufschlussreich sein.

Anmerkungen:

1 Frank Deppe: Autoritärer Kapitalismus. Der Aufschwung der politischen Rechte in den Kapitalmetropolen des Westens. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (2024) H. 139, S. 19 f.

2 Wilhelm Heitmeyer: Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. In: ders./Dietmar Loch: Schattenseiten der Globalisierung, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2001, S. 497

3 Ebd., S. 500

4 Herbert Schui, u. a.: Wollt ihr den totalen Markt? Der Neoliberalismus und die extreme Rechte, München 1997

5 Nancy Fraser: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (2017), H. 2

6 Etienne Balibar: Volksfront oder Kartell der Linken? Das kommende »Volk«. In: ND – Der Tag, 2.7.2024

7 Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frankfurt a. M. 2016

8 Balibar (wie Anm. 6)

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  • Leserbrief von Hagen Radtke aus Rostock (4. Dezember 2024 um 15:26 Uhr)
    Der Artikel greift leider bei den Kapitalinteressen hinter dem Aufstieg der Rechten meiner Meinung nach zu kurz. Eine Bekämpfung der Zuwanderung als Pseudomittel zur Lösung von real existierenden ökonomischen Problemen anzubieten, ist ja offensichtlich unvernünftig und offensichtlich wirkungslos. Es dürfte eigentlich auch nicht im Kapitalinteresse sein. Meiner Meinung nach geht es aber einer konkreten Kapitalfraktion sogar absichtlich darum, die Unvernunft in den Diskurs einzubringen. Denn welche Wirtschaftspolitik im Interesse des Wirtschaftsstandorts wäre, ist aus einer Vernunftperspektive betrachtet ja offensichtlich: Die Wissenschaft sagt sehr klar die immensen Kosten eines ungebremsten Klimawandels voraus. Zudem werden regenerative Energien momentan gerade günstiger als fossile. China hat das erkannt und baut sie massiv aus, zwei Drittel des Ausbaus regenerativer Energien finden allein in China statt.
    Diese sich ankündigende weltweite ökonomische Zäsur, der Übergang vom Ölzeitalter ins Solar- und Windzeitalter, erfordert natürlich massive Investitionen. Vor allem in Deutschland, wo die Hauptindustrien der Bau von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor und eine chemische Industrie sind, die ihren Standortvorteil aus der Anwesenheit von Raffinerien für die Benzinherstellung zieht. Ein bürgerlicher Staat, der seine Rolle ernst nimmt, müsste nun in dieser Transformationskrise als ideeller Gesamtkapitalist agieren. Für die nötigen Infrastrukturinvestitionen müsste er auch auf die Einzelkapitale zugreifen, denn aus reinem Konsumverzicht lässt sich der zur Erhaltung des Industriestandorts nötige Übergang nicht finanzieren. Ein Teil der Kapitalisten hat Deutschland und die westlichen Länder aber schon abgeschrieben als zukünftigen Produktionsstandort. Denen geht es nun darum, hier noch maximale Profite mitzunehmen, um später in Ostasien mehr Geld zum Investieren zu haben. Einen Zugriff auf ihr Kapital durch den bürgerlichen Staat wollen sie darum vermeiden. Folglich wird lieber die benötigte Ideologie finanziert: Wissenschaftsfeindlichkeit bis hin zur Esoterik, das Ablehnen jeden Fortschritts als gefährlich, und ein Libertarismus, die selbst solche Staatseingriffe ablehnt, die früher auch in der bürgerlichen Ökonomie akzeptiert waren. Die vermeintlichen »Heimatretter« wie die AfD arbeiten so letztlich für diejenigen Kapitalisten, die ohne Rücksicht auf den »Heimatstandort« ungestört ihren Laden runterrocken wollen, um danach gepflegt weiterzuziehen. Dass sie noch keine politischen Mehrheiten bekommen, liegt demnach vermutlich daran, dass immer noch eine Mehrheit des Kapitals eine Zukunft im hiesigen Standort sieht.

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