Wendepunkt erreicht
Von Jörg Tiedjen, LissabonEs gibt ein Davor und ein Danach im Kampf um die Freiheit der Westsahara. Darin war sich die Mehrheit der Teilnehmer der 48. Europäischen Konferenz zur Unterstützung und Solidarität mit dem sahrauischen Volk (Eucoco) am Wochenende in Lissabon einig. Denn am 4. Oktober hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in letzter Instanz geurteilt, dass die zwischen der EU und Marokko geschlossenen Fischerei- und Assoziierungsabkommen ungültig sind bzw. waren, da ihr Anwendungsbereich sich auch auf die von dem nordafrikanischen Königreich besetzte Westsahara erstrecken sollte. Schließlich sind Marokko und die Westsahara nach dem Völkerrecht unterschiedliche Gebiete, wie der EuGH nun verbindlich bestätigt hat. Die Westsahara betreffende Verträge dürfen daher nicht gegen den Willen der Sahrauis abgeschlossen werden. Diese werden aber repräsentiert von der Polisario-Front. Die EU hat also zwei Möglichkeiten, hob Oubi Bouchraya, der Leiter des Rechtsteams der Befreiungsbewegung, hervor: Entweder zieht sie sich aus dem Gebiet zurück, oder sie beginnt, mit der Polisario-Front zu verhandeln.
Der Tagungsort der 48. Eucoco, an der mehr als 300 Teilnehmer aus über 20 nicht nur europäischen Ländern teilnahmen, war nicht zufällig gewählt. Schließlich jährte sich im April die Nelkenrevolution zum 50. Mal, die dem portugiesischen Kolonialismus und Faschismus ein Ende bereitete. Doch die EU-Kommission ist offensichtlich nicht bereit, von ihrer Unterstützung der marokkanischen Westsahara-Besetzung zu lassen. Unmittelbar im Anschluss an das Urteil des EuGH veröffentlichte sie eine Stellungnahme, nach der sie an ihrer »strategischen Partnerschaft« mit Rabat festhalten wolle. »Pacta sunt servanda«, endete die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihrem Stellvertreter Josep Borrell unterzeichnete Mitteilung, »Verträge sind einzuhalten« – ein klarer Affront gegen die Entscheidung des eigenen Gerichtshofs.
Die Klage der Polisario-Front vor der EU-Justiz war angestoßen worden von einem vergleichbaren Urteil von 2012, in dem der EuGH entschieden hatte, dass Erzeugnisse aus den von Israel besetzten Gebieten nicht als israelische Ursprungswaren ausgewiesen werden dürfen. Der französische Anwalt Gilles Devers, der bereits die entsprechende Klage vorangetrieben hatte und auch die Polisario-Front in Luxemburg vertrat, war erst wenige Tage vor dem diesjährigen Eucoco-Treffen verstorben. Die durch den EuGH geweckte Zuversicht spiegelte sich auch darin wider, dass im Vorfeld der 48. Konferenz nicht nur ein Treffen mit Vertretern der politischen Parteien im portugiesischen Parlament zur Westsahara stattfand. Im portugiesischen Coimbra tagten zudem internationale Juristen, um die Konsequenzen aus dem EuGH-Urteil zu besprechen, und unmittelbar vor der Eucoco kamen Vertreter internationaler Gewerkschaften in Lissabon zusammen, die ihrerseits einen Bogen schlugen zum Nahostkonflikt und am Freitag abend eine Mahnwache vor der Botschaft Israels organisierten. Auch in der am Sonnabend verlesenen Abschlusserklärung wird der israelische Genozid in Gaza verurteilt.
Der deutsche Jurist Manfred Hinz dämpfte jedoch im Gespräch mit jW die Euphorie über die jüngste EuGH-Rechtsprechung. Denn einmal lässt sie praktisch im Kleingedruckten die Möglichkeit zu, dass Marokko weiter ganz legal Abkommen über die Westsahara mit dritten Parteien trifft – sofern vom Konsens der Sahrauis ausgegangen werden könne, wie die EU-Richter ausführen. Diese Argumentation öffne für Brüssel und Rabat aber Tür und Tor, die in der Vergangenheit geschlossenen Abkommen einmal mehr umzuformulieren, so dass erneut Klage eingereicht werden müsste. Auch habe der EuGH zwar festgelegt, dass Produkte der Westsahara nicht weiter als marokkanische Waren vertrieben werden dürfen. Dies zu überwachen sei jedoch nicht die Aufgabe der EU.
Die Teilnehmer der Eucoco wollen in jedem Fall die EU-Rechtsprechung als Chance nutzen. So wurde beschlossen, bis zum kommenden Oktober, in dem eine vom EuGH gewährte Übergangsfrist für das Assoziierungsabkommen mit Marokko endet, eine der Bewegung gegen das Apartheidsregime in Südafrika vergleichbare Kampagne ins Leben zu rufen. Damals standen zum Beispiel der Ölmulti Shell oder als israelische Jaffa-Apfelsinen getarnte Outspan-»Blutorangen« im Zentrum des Boykotts, diesmal sind es falsch deklarierte Sardinen und Tomaten – und nicht zuletzt Konzerne wie Siemens: Das börsennotierte Unternehmen verpasst mit der Errichtung von Windparks in der besetzten Westsahara dem marokkanischen Kolonialprojekt einen »grünen« Deckmantel.
Hintergrund: Solidaritätsarbeit
Die Gewerkschaftsbewegung war eine der entscheidenden Säulen im Kampf gegen koloniale Unterdrückung und hat auch die Forderung der Sahrauis nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit stets unterstützt. So heißt es zu Beginn des Entwurfs für ein »Lissabonner Manifest«, der zum Auftakt der Eucoco am Freitag auf einem von dieser einberufenen »Solidaritätstreffen der Gewerkschaften mit dem Volk der Westsahara« vorgestellt wurde.
In Portugals Hauptstadt gekommen waren Gewerkschafter unter anderem aus Algerien, Angola, Deutschland, Frankreich, Honduras, Kolumbien, Niger, Spanien und der Westsahara selbst. Insgesamt sind bisher 150 Gewerkschaften auf der ganzen Welt an der Solidaritätsaktion beteiligt. Eine derartige Mobilisierung der Arbeiterbewegung für die Sahrauis hat es seit langem nicht mehr gegeben.
In dem dreiseitigen Papier »für eine freie und unabhängige Westsahara« werden Prinzipien der Solidaritätsarbeit formuliert. So wird festgehalten, dass »nur das sahrauische Volk über seine Zukunft entscheiden« könne. Eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen. Wie aber die Reaktion aus Paris auf die jüngste Rechtsprechung des EuGH zeigt, ist dem nicht so. Statt dessen hat sich die UN-Vetomacht offen hinter die marokkanische Besetzung gestellt – und im November bereiste zudem eine Abordnung der französischen Handelskammer die besetzten Gebiete.
Gegen den permanenten Rechtsbruch in der Westsahara wollen die Gewerkschaften endlich zusammenarbeiten. Bis zum 27. Februar, dem Nationalfeiertag der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), bleibt den Beteiligten Zeit, weiter am »Lissabonner Manifest« zu feilen. Veröffentlicht werden soll es dann am 1. Mai. (jt)
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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