»Russwurm sollte die Komfortzone verlassen«
Interview: Milan NowakDie Bundesregierung aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen hat sich zerstritten, Neuwahlen sollen im Februar stattfinden. Welche klimapolitische Bilanz stellen Sie der Ampel aus?
Jens Clausen: Sie ist die erste Regierung, die sich konsequent um Klimaschutz gekümmert hat. Allerdings wurde sie von der internen FDP-Opposition stark gebremst und von der SPD nicht ausreichend unterstützt. Die Entwicklung im Stromsektor ist aber sehr positiv; bereits mehr als 60 Prozent des Stroms kommen von Wind, Sonne und anderen regenerativen Stromquellen. Der Zubau an Photovoltaik erreicht Rekordniveau, und als Balkonkraftwerk wurde diese Technik auch Mietern zugänglich gemacht. Das große Aufgabengebiet »Wärmewende« wurde ebenfalls angegangen, und der an immer mehr Orten geplante Ausbau der mit regenerativer Energie gespeisten Fernwärmenetze erfreut sich ebenfalls einiger Beliebtheit. Aber die Regierung wurde durch die Schuldenbremse behindert. Der Investitionsstau, vor dem die Gesellschaft an vielen Ecken und Enden steht, rechtfertigt eine Aufweichung der Schuldenbremse. Und die Chance, die Subventionierung des Einsatzes fossiler Energieträger deutlich zurückzufahren, wurde nicht genutzt. Dazu zählt unter anderem das Dienstwagenprivileg.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, stellt sich auch neu auf. BDI-Präsident Siegfried Russwurm beendet im Januar seine Amtszeit. Zum Wochenbeginn forderte er in einem Tagesspiegel-Interview eine Abkehr vom Klimaziel 2030. Welche Folgen hätte das?
Thomas Seifert: Jede Verzögerung bei den Klimazielen ist kontraproduktiv. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum deutschen Klimaschutzgesetz vom 29. April 2021 erhebt die Temperaturziele des Pariser Abkommens und das Erreichen von Klimaneutralität quasi in Verfassungsrang: Artikel 20 a des Grundgesetzes, der »in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen« schützt, wird als Prüfmaßstab staatlichen Handelns einklagbar. Aus der Verpflichtung des Staates, die Freiheitschancen der jungen Generation auch für die Zukunft zu schützen, folgt, dass er in der Gegenwart mehr Klimaschutz betreiben muss – auch in schwierigen Lagen.
Der scheidende BDI-Chef macht einen Widerspruch zwischen der Dekarbonisierung der Wirtschaft und der Wettbewerbsfähigkeit auf. Welche Alternativen gibt es zu dieser Sichtweise?
J. C.: Siegfried Russwurm sollte seine Komfortzone verlassen und der Wirklichkeit des internationalen Wettbewerbs ins Auge schauen, denn dieser verändert sich gegenwärtig schnell. Sowohl mit Blick auf die Geschwindigkeit der Entwicklung von neuen und digitalen Produkten als auch mit Blick auf die Produktqualität gibt es immer mehr starke, internationale Wettbewerber. Wenn sich Deutschland einredet, mit Verbrennermotoren aus dem 19. Jahrhundert oder mit Fusionskraftwerken und, wie Jens Spahn sagt, Heizungen für »grünes Öl« exportfähige Produkte zu schaffen, wird man feststellen, dass diese Technologien nicht exportfähig sind. Dagegen wachsen die internationalen Märkte für Photovoltaikanlagen, Elektroautos und Batterien mit einer nie gekannten Geschwindigkeit. Hier spielt die Musik, und hier müssen wir mitmischen.
Der vorgezogene Wahlkampf ist ein Anlass für Interessenverbände, ihre Forderungen herauszustellen. Was fordern Sie von der kommenden Bundesregierung?
T. S.: Auch die neue Regierung muss die Verfassung, das Klimaschutzgesetz sowie das Pariser Klimaschutzabkommen ernst nehmen und konsequent umsetzen, um »in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen« zu schützen. Aus diesen Gesetzen folgt die Aufgabe, in allen Sektoren den Ausstieg aus den fossilen Energien voranzutreiben: in der Wärmeversorgung, beim Autoantrieb und in der Industrie. Neben Bund und Ländern sind hier auch die Kommunen in der Pflicht. Die Bundesregierung sollte daher den Klimaschutz zur kommunalen Pflichtaufgabe machen und die nötige finanzielle Unterstützung der Kommunen sicherstellen.
Jens Clausen ist Innovationsforscher am Borderstep Institut in Berlin. Thomas Seifert ist Chemiker in Frankfurt am Main. Beide sind aktiv in der Wissenschaftsvereinigung »Scientists for Future«
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Bernhard Trautvetter aus Essen (9. Dezember 2024 um 15:46 Uhr)Es ist für mich unverständlich, wie in der so kritischen Junge Welt ein so prominentes Interview mit Ökologen wie Jens Clausen und Thomas Seifert auf Seite zwei kommt und der größte Klimaschädigung der Staaten der Welt, vor allem des politischen Westens, als weißer Elefant ausgeblendet bleibt: Das Militär. Wir werden die Klimaschutzziele krachend verfehlen, wenn das Militär von seiner Lobby erfolgreich aus dem Radar der Umweltbewegung gehalten wird und wenn die Hochrüstung mit allen Ressourcen- und Emissionskonsequenzen statt eines Abbaus immer weiter aufgebläht wird. Die »Scientists for future« Österreich kritisierten vor inzwischen drei Jahren, dass die Staaten der Welt sechsmal mehr fürs Militär als für Klimaschutz ausgeben. Diese Prioritätensetzung ist die von Selbstmordattentätern. Der Attentäter ist das Militär, das Opfer die Menschheit. Die Apokalypseblindheit vieler erfasst nun große Teile der Klimabewegung als Militär- und Kriegsblindheit. Große Spektren von Aktiven, die einst das Klima konsequent und umfassend schützen wollten, sind heute Unterstützer der NATO. Die USA haben nach Kyoto dafür gesorgt, dass die militärischen Emissionen nicht an den Weltklimarat gemeldet werden. Ohne diese Vernebelung der Aufklärung zu durchbrechen, kann die Menschheit die notwendigen und verpflichtenden Klimaziele von Paris nicht einhalten. Wer jetzt sagt, dass das alles nicht erwiesen ist, dem ist zu antworten: Solange ein solch existenzielles Risiko im Raum steht, haben wir die verdammte Pflicht, alles dafür zu tun, dass es niemals zur Realität wird.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Olaf M. aus München (8. Dezember 2024 um 19:19 Uhr)Leider wurden in dem Interview keine kritischen Fragen gestellt. Auf die Aussage, »bereits mehr als 60 Prozent des Stroms kommen von Wind, Sonne …«, hätte man fragen können, wie zuverlässig diese Energiequellen sind. Zum Beispiel angesichts von Dunkelflauten, wie die in der ersten Hälfte des Novembers. Über mehrere Tage ging in Deutschland wenig Wind und aufgrund der Jahreszeit und des Nebels schien nicht viel Sonne. Die sogenannten regenerativen Energiequellen brachen über mehrere Tage ein, so dass für die Stromversorgung teurer Atomstrom aus Frankreich importiert und Kohle- und Gaskraftwerke hochgefahren werden mussten. Die Versorgungssicherheit ist eben eine Krux von Wind und Solar. Da ist die genannte Zahl von 60 Prozent, die möglicherweise übers Jahr gerechnet ist, gut und schön. Was ist, wenn über eine längere Dunkelflaute hinweg die Stromversorgung total zusammenbricht, nicht zuletzt, wenn der Anteil an Erneuerbaren, wie geplant, noch weiter ausgebaut wird und gleichzeitig noch mehr auf Elektroheizung und -fahrzeuge gesetzt wird? Ein weiterer Punkt, der im Interview unhinterfragt blieb, ist das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 29. April 2021. Der »Scientists for Future«-Aktivist nutzte dieses Skandalurteil als Rechtfertigung für die geforderte Vermeidung von »Verzögerung bei den Klimazielen«. Mit dem Urteil verabsolutierten die Verfassungsrichter die nicht verpflichtenden »Klimaziele« des Pariser Abkommens und gaben ihnen Gesetzesrang. Dies wäre Aufgabe des Gesetzgebers gewesen und nicht der Legislative. Das Verfassungsgericht hat somit grob gegen die Gewaltenteilung verstoßen. Man kann nur hoffen, dass dieses Urteil in naher Zukunft aufgehoben wird, sollte die Unhaltbarkeit des aktuell vorherrschenden Klimanarrativs mit seinen sich jetzt schon abzeichnenden katastrophalen Folgen für die »natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere« (vgl. Art. 20a GG) und die ökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft einmal in den Mainstream vordringen.
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