Negative Energie
Von Maximilian SchäfferEinigermaßen unspektakulär lebt Frank in den suburbanen Gefilden der 90er. Mutter, Vater, Gameboy, Kassettenradio, Zeichenstifte, Volleyballmannschaft – alles normal. Zwei Dinge erschweren dem kreativen Teenager, den sie in der Schule »Picasso« nennen, das Erwachsenwerden: Frank ist schwul, sein Vater depressiv. Während ersteres Zweifel mit sich bringt, aber auch aufregend ist, sorgt die Depression zuhause für handfeste Krisen. Vater Georg sitzt tagelang in der abgedunkelten Bude. Trotz Psychopharmaka und liebevollem Verständnis seiner Angehörigen versinkt der Mann immer mehr in seiner Tristesse. Depression ist eine Diagnose, ein Symptom mit vielen Komorbiditäten und diffusen Ursachen. Mysteriös wie Migräne und Schuppenflechte. Wenn nichts mehr hilft, nimmt man gern jegliche Hilfe an, auch als Quacksalberei verschriene.
Helfen will sie um jeden Preis, die »Heilerin« mit dem rosa Kristallamulett. Thea heißt die fest entschlossene Weise aus dem Abendland. Eine voluminöse Frau, die ihr großes Herz auf der Zunge spazieren trägt. Sie untersucht das Heim der Familie auf »negative Energien« hin, die »Urgründe« von Georgs Melancholie. An der Esoterikfachgeschäftstheke darf sich jeder einen Schutzstein aussuchen. Bergkristall, Rosenquarz, Lapislazuli und Schungit – sämtliche Energieträger liegen bereit, ihr gutes Werk zu verrichten. Und siehe da: Die Kräfte des (Aber-)Glaubens und der menschlichen Fürsorge vollbringen ihre gewöhnlichen Wunder. Georg scheint es langsam besser zu gehen.
Selbstverständlich ist Heilenergie nicht ohne Moral zu haben. Thea gibt vor, was gut und was böse ist. Während die Glückspillen Georg dämpfen, macht ihn das Pseudoreligiöse »feinfühlig«. So feinfühlig, dass er nicht bemerkt, wie er das Wohlbefinden seines heranwachsenden Sohns gegen egoistische Dogmen eintauscht. Eine Serie gruseliger Monster, Franks erste Auftragsarbeit für eine befreundete Heavy-Metal-Band, wird von der Familie in einem Ritual übermalt, damit die negativen Energien verschwinden. Dass Frank schwul ist, passt nicht zum Takt der kosmisch-katholischen Guruwelt. In den Augen des Vaters ist er ein Sündenfall. Ein tiefer Riss in der Familie tut sich auf.
Claus Daniel Herrmann wurde 1981 geboren, sein einfühlsamer Comic »Pinke Monster« trägt autobiographische Züge. Pink, sparsam dosiert, ist die einzige Farbe im Schwarzweiß der Zeichnungen. Der zarte rote Ton hat verschiedene Bedeutungen, er steht für das Queere, das Spirituelle, warnt vor Scheinheiligkeit und Heuchelei. Irgendwann fällt auch das Wort »Geschwurbel«, ein während der Coronapandemie neu geprägter Begriff, mit dem Evidenzgläubige ihre Zweifler im Namen der Wissenschaft zu diffamieren pflegten. Wo Skepsis zur Häresie wird, ist der Exorzismus nicht weit. Wo der Exorzismus fehlschlägt, liegt die Exkommunikation nahe. Sie droht Schwulen in der Mehrheitsgesellschaft ebenso wie Kommunisten, Maßnahmengegnern oder Mormonen. Empathie und Toleranz, so darf man »Pinke Monster« verstehen, haben wesentlich weniger Nebenwirkungen als moralische Drogen.
Claus Daniel Herrmann: Pinke Monster. Reprodukt-Verlag, Berlin 2024, 208 Seiten, 24 Euro
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