Gebaute Zeitenwende
Von Stefan RipplingerBevor sich das deutsche Bürgertum »kriegstüchtig« meldete, errichtete es sich ein Denkmal der Kriegstüchtigkeit: das als »Humboldt-Forum« rekonstruierte Berliner Stadtschloss. Bereits im Sommer 1990, die DDR bestand de iure noch, brachte ein Wendehals namens Günter Stahn, damals Leiter des Ostberliner Büros für Städtebau, die Idee ins Spiel, das 1950 auf Befehl von Walter Ulbricht gesprengte Gebäude neu zu errichten. Die Presse – neben den Springer-Blättern seien Spiegel (3.9.1990), Taz (26.10.) und FAZ (30.11.) genannt – zeigte sich von dieser politischen Regression entzückt, und am 4. Juli 2002 beschloss der Bundestag mit fast Zweidrittelmehrheit den Wiederaufbau. Der Beschluss habe, wie Rainer Haubrich (»Das neue Berliner Schloss«, 2012) feststellt, einer »Zeitströmung« entsprochen. Was genau das für eine Strömung ist, wissen wir allerdings erst seit zwei Jahren mit letzter Sicherheit. Bereits zwei Jahre zuvor, 2020, war das Schloss zurückgekehrt, wenn auch in postmodernem Gewand. Diesem ideologischen Zentrum der Hauptstadt sich zu nähern, gibt es zwei Wege: einen verdrießlichen und einen vergnüglichen.
Den vergnüglichen Weg ins Schloss bietet der Essayfilm »Schlachthäuser der Moderne« (2022; derzeit in der ARD-Mediathek) von Heinz Emigholz. Mit den »Schlachthäusern« meint Emigholz sowohl Orte, an denen die Moderne schlachtet, als auch solche, an denen sie geschlachtet wird. Das Stadtschloss ist beides. Es ist zunächst der Ort, von dem aus Kaiser Wilhelm II. seine Politik des neuen, mitleidlosen Menschen praktizierte: »Pardon wird nicht gegeben.«
Wir sehen in dem Film einen Darsteller (Stefan Kolosko), der im noch nicht eröffneten Schloss steht und Wilhelms Völkermorde (Genozid an den Herero und Nama, 1904–1908; 70.000 Tote) beziehungsweise Massenmorde (Einsatz von Chlorgas bei Ypern, 1915; 90.000 Tote) rekapituliert. Das ist also die schlachtende Industriemoderne. Emigholz nennt das wiedererrichtete Stadtschloss »eines der in seinen Intentionen und in seiner Ausführung widerlichsten Gebäude der Welt«. Geschlachtet wurde aber auch die Moderne, nämlich die sozialistische. Der Abriss des Palasts der Republik zeuge von »restaurativer Siegermentalität«. Mehr ist dazu nicht zu sagen, es sei denn, es will ein Neugieriger, eine Neugierige wissen, wie das alles gekommen ist. Dafür müssen wir nun doch den verdrießlichen Weg beschreiten.
Eisenzahn
Der verdrießliche Weg ins Schloss verläuft über die Geschichte dieses Renommierwerks. Es gab zwei Vorgängerbauten. Den Grundstein des ersten legte am 31. Juli 1443 der Markgraf Friedrich II. von Brandenburg, der nicht umsonst »Eisenzahn« genannt wurde. Ihm folgten in der Linie der Hohenzollern eine eindrucksvolle Schar von Sadisten und Scheusalen. Das sollte aber nicht genetisch, sondern geopolitisch interpretiert werden. Warum also legte Eisenzahn den Grundstein?
Dieses erste Schloss war eine Zwingburg. Es manifestierte und sicherte den Sieg der Hohenzollern über die Patrizier des Doppelstädtchens Berlin und Cölln. Ziel war eine Schwächung des zuvor relativ autonomen städtischen Marktes und eine Begünstigung der Leibeigenschaft. Der Feudalherr wollte mehr oder weniger alleine von der Wirtschaft profitieren. Das Schloss sollte deshalb nicht nur die Stadt gegen Feinde, sondern auch den Herrn gegen die Stadt sichern. Deshalb wurde es genau in der Mitte, auf der Spreeinsel neben dem alten Dominikanerkloster, plaziert und drohte finster den Bürgerinnen und Bürgern der einen und der anderen Stadthälfte. Dafür wurde die Cöllner Stadtmauer mit Ausnahme eines »Grüner Hut« genannten Rundturms abgerissen. Es trifft also nicht zu, dass, wie Wolf Jobst Siedler (Merian Extra, 1991) behauptet hat, in Berlin das Schloss zeitlich vor der Stadt kam. Tatsächlich gab es erst die Doppelstadt, dann kam der Usurpator und pflanzte das Schloss in die Mitte, um seine Herrschaft zu erzwingen.
Nach der Grundsteinlegung passierte erst mal vier Jahre gar nichts. Als aber die Bauarbeiten begannen, begriffen die Städter die üble Absicht des Fürsten, es regte sich der »Berliner Unwille«. Sie zogen das untere Wehr auf, fluteten so die Fundamente, bedrängten die Büttel Friedrichs, der nun mit harter Hand durchgriff, das Vermögen der Rädelsführer einzog und im Ratskollegium ihm gefügige Untertanen einsetzte.
Damit war ein Muster etabliert: In Berlin wird nicht um Zustimmung gebuhlt, sondern mit dem Knüppel gedroht und zugeschlagen. Die Bevölkerung lenkte man fortan mit Befehlen, Erlassen und Strafen. Mit Steuern und Zwangsrekrutierungen beutete man sie aus. Die autoritäre Politik ergab sich aus dem östlichen Absolutismus, als dessen Kennzeichen Erich Konter (»Das Berliner Schloß im Zeitalter des Absolutismus«, 1991) territoriale Zersplitterung, Eigenmächtigkeit der Grundherren, Macht der ständischen Organe und zurückgebliebene Entwicklung des Bürgertums erkennt.
Typisch war von Anfang auch die Tendenz der Hohenzollern zur Expansion. Je mehr Krieg geführt, je mehr Land hinzugewonnen wurde, um so mehr veränderte sich auch das Schloss. Den entscheidenden Umbau verfügte Joachim II., nach dem mythischen Heerführer auch »Hector« genannt. Er nahm aus taktischen Gründen 1539 den lutheranischen Glauben an und verdoppelte damit fast die von ihm beherrschte Domäne, aber führte noch ein echt katholisches Leben in Saus und Braus.
Das in der Zeit seines Konfessionswechsels (1538–1542) umgebaute Schloss hatte nichts Trutziges und Kompaktes mehr wie unter Eisenzahn, sondern war asymmetrisch und offen angelegt. Souveräne Herrschaft drückte sich von nun an darin aus, dass Wälle und Wehre an den Stadtrand rückten. In den Schlossturm hängte Joachim neun Glocken, von denen in eine das Porträt seiner selbst und seiner Gattin gegossen war. Die restlichen acht hatte er in brandenburgischen Städten rauben lassen.
Da er vom Vater einen Schuldenberg geerbt hatte, fielen die architektonischen Ambitionen von Joachims Sohn Johann Georg bescheidener aus. Immerhin ließ er von Baumeister Rochus von Lynar ab 1579 einige Gebäude dem Ensemble angliedern: einen »drittes Haus« genannten Eckbau, ein Herzoginnenhaus, einen Querbau, der erstmals über Innentoiletten verfügte, und eine »Hofapotheke«, in der der Alchemist Michael Aschenbrenner wirkte. Eisenzahns Kanonen- wurde zum Wasserturm für den Lustgarten.
Eine perverse Logik will es, dass Herrscher, die für besonders blutige Perioden stehen, von der Nachwelt die »Großen« genannt werden. Es mag sich darin das volkstümliche Wissen verbergen, dass je größer der Herr ist, desto größer das Unglück ausfällt, das er über die Knechte bringt. Ein besonders rabiates Regime verbindet sich mit dem Namen des »Großen Kurfürsten«, Friedrich Wilhelm, der ab 1643 regierte. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Auflösung des Hofstaates und dessen Ersetzung durch eine nach militärischen und ökonomischen Maßgaben bestimmte Hierarchie.
Schiefer Fritz
Er griff seiner Zeit voraus: Der Kurfürst eroberte eine bis 1717 bestehende Kolonie in Westafrika, »Groß Friedrichsburg«, womit die heutige Nutzung des Schlosses, das unter anderem eine ethnologische Sammlung beherbergt, gerechtfertigt scheint. Außerdem stand er für eine »rücksichtslose Umwandlung der Residenzstädte in Festungen« (Michael Malliaris, Matthias Wemhoff, »Das Berliner Schloss«, 2016). Bauliche Veränderungen nahm er deshalb weniger am Schloss selbst als an den Stadtgrenzen vor, die er von dem Ingenieur Johann Georg Memhardt mit Bastionen umschließen ließ.
Die nach dem Dreißigjährigen Krieg leere Kasse besserte er durch Profite aus in Zucht- und Waisenhäusern geleistete Zwangsarbeit auf. Er betrieb außerdem eine geschickte »Peuplierungspolitik« und zog 20.000 hugenottische Handwerker ins Land. Sein Volk vermietete er als Söldner an andere Herrscher, unter anderem Ludwig XIV. Auch zu diesem Behuf stellte er ein stehendes Heer (im Krieg 45.000, im Frieden 30.000 Mann) auf, von dem der Königsberger Immanuel Kant in einer der interessantesten Volten des preußischen Untertanengeistes schrieb, nur wer »ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat«, dürfe »das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!« (»Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, 1784)
Friedrich Wilhelm hätte das Schloss nicht unbedingt gebraucht. Gebraucht, dringend gebraucht wurde es erst wieder von seinem Sohn, Friedrich III., der, weil er bucklig war, »der schiefe Fritz« genannt wurde. Dieser Fritz ließ sich am 18. Januar 1701 in Königsberg (nomen est omen) krönen. Als König nannte er sich Friedrich I.
Um sich von eigener Hand krönen zu können, bedurfte er der Zustimmung des Habsburgers Leopold I., des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Friedrich erkaufte sie sich mit der Zusage, seine Truppen an den Kaiser zu vermieten. Frankreich und Spanien erkannten erst 1713, im Todesjahr Friedrichs, seine Selbstherrlichkeit offiziell an, die er mit Backsteinen hinterlegte. Es bestand, wie Dieter Hildebrandt (»Das Berliner Schloss«, 2011) formuliert, für ihn geradezu ein »Geltungszwang«. Also wurde das Schloss aufgepeppt, um den falschen König zu legitimieren. Diese Geschichte wird immer wiederkehren.
»Babilonischer Thurm«
Baumeister war der unglückliche Andreas Schlüter, der den Auftrag 1698, also über zwei Jahre vor der Selbstermächtigung des Schiefen Fritz, erhalten hatte. Schlüter, der zuvor schon den Bau des Zeughauses, also des Waffenlagers, geleitet hatte, baute ungewöhnlich wuchtig, was etwa an dem Risalit vor dem Portal I zu erkennen ist. Die Monumentalität spiegelte den imperialen Anspruch des neuen Königreichs, doch Schlüter brach unter diesem Anspruch zusammen. Grund dafür war, dass Friedrich für 12.000 Gulden ein Glockenspiel gekauft hatte, das im Münzturm aufgehängt werden sollte. Deshalb wurde verfügt, ihn auf 94 Meter zu erhöhen, womit er dreimal so hoch wie das Schloss selbst gewesen wäre.
Schlüter bemühte sich wacker, diesen Auftrag zu erfüllen, der tatsächlich ein Himmelfahrtskommando war. Denn der nachgiebige Baugrund konnte die enorme Last des erhöhten Turms nicht tragen und je mehr Stützen und Streben, Mauerblöcke und Widerlager Schlüter einfügte, um so wackliger wurde das Ganze. Bald zeigten sich Risse im Turm, Steine brachen heraus, der verzweifelte Schlüter ließ ihn teilweise abtragen, wurde deshalb 1706 als Schlossbaumeister abberufen. Der schwedische Architekt Eosander von Göthe, der zuvor über Schlüters »babilonischen Thurm« gewitzelt hatte, durfte die Baustelle übernehmen.
Aus dem gehetzten Höfling machten die Nazis in ihrem Film »Andreas Schlüter« (1942, Regie: Herbert Maisch) einen urdeutschen »Querkopf«, der, unbeirrt von allem Geziert-Französelnden, unbeirrt auch von Speichelleckern wie Eosander, in der Kunst immer »nur das Größte« anstrebt und nicht nur das Schloss, sondern gleich auch die halbe Stadt umbauen will. Sein »gigantischer Plan« erinnert ein wenig an Albert Speers Stadt »Germania«. In der letzten Einstellung schreitet nach seinem Ausruf »Ewig ist das Werk!« Heinrich George als Schlüter ins Licht.
Tatsächlich verfolgte nicht Schlüter, sondern Eosander gigantomanische Pläne. Er verlängerte die Fassaden im Süden und Norden um mehr als das Doppelte, errichtete auch ein gewaltiges Portal, das später den gewünschten Turm tragen sollte (statt dessen setzte Friedrich August Stüler 150 Jahre später eine Kuppel darauf). Das Eosander-Portal ist nicht ohne Grund eine vergrößerte Kopie des Triumphbogens für Septimius Severus auf dem Forum Romanum.
Kaiser Septimius Severus darf als der große Bruder des Schiefen Fritz angesehen werden. Auch Septimius war durch Anmaßung zur Macht gelangt, auch er stützte sich auf Knute und Militär. Allerdings gelang es ihm, sich zu einem Gott zu erheben, was dem kläglichen Friedrich versagt blieb, dem das Glockenspiel gar nicht hoch genug hängen konnte und der wie der Fuchs in der Fabel am Ende nicht mehr an die ersehnten Trauben herankam. Als nächster gelangte Friedrich Wilhelm I., der »Soldatenkönig«, an die Macht. Ihm war sogar das bisschen Kunst zu viel. Er ließ Eosander schassen und den Lustgarten »rasieren«, nämlich in einen Exerzierplatz verwandeln.
Mütze herab!
Der Soldatenkönig und sein von ihm persönlich zurechtgestutzter Sohn Friedrich II., genannt »der Große«, waren die beiden preußischen Herrscher, die die bereits vom Großen Kurfürsten ins Werk gesetzte Militarisierung vollendeten. Sie machten aus dem Schloss als ideellem Zentrum ihres Staats ein Schlachthaus der Moderne. Verändert haben sie an den Baulichkeiten selbst wenig. Der zum Calvinismus übergetretene Soldatenkönig, der stets einen Buchenstock bei sich trug, um jeden, der nicht sogleich parierte, durchzuprügeln, ließ Martin Heinrich Böhme einige Projekte Eosanders notdürftig abschließen. Unter Friedrich dem Großen, dem Alten Fritz, wurde die alte Domkirche abgerissen. Tatsächlich regierte er selbst fast durchweg von Potsdam aus.
»Wir sind Herr und König und thun, was wir wollen«, hatte der Soldatenkönig geprahlt. In der östlichen Version des Absolutismus, die er und sein Sohn verfochten, sollte, wie Otto Hintze (»Die Hohenzollern und ihr Werk«, 1915) formulierte, die »Staatsraison das ganze Wirtschafts- und Kulturleben vollkommen beherrschen«. Und die »Staatsraison« bestand eben in der Bereicherung der Obrigkeit und einer Oligarchie von Krautjunkern an den zum Dienst gepressten Untertanen, die Friedrich »das erbärmliche Getier« nannte. Doch bis zu seiner Herrschaft trug diese Despotie kaum Früchte. Preußen blieb sogar in militärischer Hinsicht drittklassig. Das änderte sich dank Friedrichs brutaler Eroberungspolitik, die Preußen enorme Gebietsgewinne bescherte, den Staat aber auch mehrfach, insbesondere nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), an den Rand des Ruins führte.
Friedrichs Siege veränderten Preußen. Der vorher isolierte Feudalstaat war nun unwiderruflich ein Teil Europas geworden. Die Staatseinnahmen verdreifachten sich. Die verspätet auch hier einsetzenden Prozesse der Industrialisierung und Kapitalisierung veränderten die Gesellschaft grundlegend. Das über Jahrhunderte an seinem Hochkommen gehinderte Bürgertum bildete sich nach und nach heraus und musste von der Machtclique gewaltsam an seiner Emanzipation gehindert werden. Auch in dieser Geschichte spielte das Schloss eine Rolle.
Am 26. Juli 1844 schoss der ehemalige Bürgermeister von Storkow, Heinrich Ludwig Tschech, im Schlosshof auf Friedrich Wilhelm II. sowie dessen Gemahlin und verfehlte sie beide. Wie Tschechs der Linken nahestehende Tochter Elisabeth (»Leben und Tod des Bürgermeisters Tschech«, 1849) schreibt, habe Friedrich Wilhelm IV. in seiner Thronbesteigungsrede gesagt: »Meine Krone habe ich von Gott, und wehe dem, der sie antastet.« Ihr Vater habe »ob dieser vermessenen Rede« mehrfach erklärt: »Ich will sie ihm zerdrücken.« Tschech wurde im Dezember 1844 geköpft, nachdem der König gnädig davon abgesehen hatte, ihn rädern zu lassen.
Enger wurde es für Friedrich Wilhelm 1848. Als er seine Dragoner den Schlossplatz, auf dem sich eine große Menge versammelt hatte, räumen ließ, wurde auf die unbewaffneten Menschen geschossen. Nun brach ein Aufstand los, mit dem die preußische Kamarilla nicht gerechnet hatte. Er forderte Hunderte Tote und erschütterte den Militärstaat in seinen Grundfesten. Die Aufständischen, die vorübergehend die Kontrolle über das Geschehen erlangten, forderten vom König, die ins Schloss gekarrten Opfer zu ehren. Karl August Varnhagen von Ense (»Betrachtungen und Bekenntnisse«, 1980) berichtet über den 19. März 1848: »Alles hatte den Kopf entblößt, nur der König die Mütze auf; da hieß es gebieterisch: ›Die Mütze herab!‹, und er nahm sie ab. Die Leichen wurden dann durch das Schloß durch nach dem Dom gefahren.«
Typ »Taurus«
Wie schon nach dem Berliner Unwillen stabilisierte sich der Staat vermittels Einschüchterung und Unterdrückung. Mit Wilhelm II. bereitete sich dann die endgültige Katastrophe vor. Der schon seit dem Großen Kurfürsten bekannte imperiale Drang und die schon dem Schiefen Fritz eigene Gigantomanie potenzierten sich in der Gestalt des Kaisers und schlugen sich auch im Schlossbau nieder. Um seine Auftritte noch majestätischer zu gestalten, ließ er ab 1891 den Weißen Saal im Eosander-Flügel erweitern. Dafür musste die westliche Innenfront des Hofs abgetragen und um acht Meter versetzt werden. Nachdem das Projekt 1905 bereits sechs Millionen Reichsmark (knapp 50 Millionen Euro) verschlungen hatte, wurde es halb fertig abgebrochen.
Die endgültige Entweihung des im Schloss versteinerten Preußentums verdanken wir Karl Liebknecht, der am 9. November 1918 vom Portal IV aus rief: »Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen.« Das stimmte leider nicht, aber beflügelte viele. In Peter Voigts Film »Novemberrevolution« (1968) erinnert sich die spätere Widerstandskämpferin Charlotte Bischoff: »Wenn ich heute daran zurückdenke, dann war’s eigentlich so, dass ich weniger gegangen, als durch die Straßen getanzt bin.«
Das Schloss, das nach dem Krieg als Museum gedient hatte, wurde am 3. Februar 1945 von Bomben zum größeren Teil zerstört. Zwar konnte eine Abteilung des Gebäudes noch genutzt werden, doch Walter Ulbricht und die Parteiführung entschlossen sich dazu, die Ruine zu sprengen. Die Niederlegung überwachte Kurt Liebknecht, ein Neffe Karls. Der Wertewesten heulte im Innersten getroffen auf. So schrieb der Berliner Tagesspiegel (1.10.1950): »Mit der Beseitigung des Schlosses wird der Baumeister Schlüter ausgelöscht sein und mit ihm die große moralische Kraft, die von seinem Werk ausgeht.« Anders als von den Nazis gedacht, schien das Werk doch nicht ewig zu sein. Zunächst.
Denn schon seit dem Jugoslawien-Einsatz der Bundeswehr winken neue Kriege, Deutschland ist ein Preußen mit Interkontinentalraketen, Typ »Taurus«, geworden. Glücklicherweise wurde dem zuvor unbekannten Architekten des Neualtbaus, Franco Stella, gar nicht erst bewusst, in die Dienste welcher Kriegsherren er sich gestellt hatte, denn er schrieb: »Das Schloss kehrt als Lehrer der Stadtgeschichte in die Stadt zurück, deren Regisseur es war.« (»Berliner Schloss – Humboldt Forum«, 2022) In Wahrheit wird seither nicht eine Stadt-, sondern eine Staatsgeschichte inszeniert. Es ist die Geschichte Preußens.
Unter https://schlossaneignung.de finden sich seit Oktober 2024 architektonische Vorschläge zur Umgestaltung des neuen preußischen Protzbaus. Die Website listet auch die rechten Spenderinnen und Spender des Bauprojektes auf und thematisiert dessen Entstehungsgeschichte sowie den Abriss des Palastes der Republik.
Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 9. August 2024 über die Instrumentalisierung von Kunst im Ukraine-Krieg. Von ihm erschien gerade im Engeler-Verlag »Aber. Aufsätze«.
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