Wie revolutionär ist Romantik?
Von Jürgen BlockWas genau ist klassische Kunst? Thomas Metscher und Jenny Farrell geben in ihrem Gemeinschaftswerk »Kunst und Revolution« eine überraschende Antwort. Aber vor dem Auskosten der Überraschung kommt der Schweiß des Begriffsdenkens. Drei Begriffe seien aufgezeigt, die der Leser neu bestimmen und nach denken muss.
Erster Begriff: Raumzeit. Darunter verstehen Metscher und Farrell die historische Situation, in der ein Kunstwerk entsteht, nämlich als Schnittpunkt eines besonderen Ortes oder Raumes mit einer besonderen Zeit.
Zweiter Begriff: Klassik. Wenn ein Kunstwerk seine besondere Raumzeit, aus der es stammt, inhaltlich und formal in perfekter Weise widerspiegelt, so die These der Autoren, handelt es sich um ein Werk der Klassik. Unter Klassik wird also nicht einfach, wie wir in der Schule gehört haben, eine deutsche Literaturepoche in Weimar zwischen Goethes Italien-Reise (1786–1788) und seinem Tod (1832) verstanden, sondern ein Werk höchster Qualität, bei dessen Lektüre die Raumzeiten der Entstehung mit der der Gegenwart konfrontiert werden. Aufgrund dieser Konfrontation treten dem Leser die Konturen und Probleme der Gegenwart schärfer und konkreter vor Augen.
Die Klassik, so verstanden, ist nicht mehr an Stil, Kanon oder Zeit gebunden. Die Autoren nennen als Beispiele für die literarische Klassik die Dramen von Shakespeare, Herman Melvilles »Moby Dick« oder die »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss.
Ferner können zum Beispiel Goethes Werke als Kunst der Revolution gewürdigt werden, wenn er auch persönlich den Ereignissen in Frankreich kritisch gegenüberstand. Kunst, die die Auswirkungen der Französischen und der industriellen Revolution in Deutschland, also gesellschaftlichen Wandel, ausdrücken will, muss sich selbst und ihre Formen auch verwandeln und revolutionieren. Die Weimarer Klassik ist die Revolution in Form der Kunst.
Dritter Begriff: Romantik. In Deutschland wird die Romantik häufig nur als nationalbeschränkte Literaturepoche oder gar als antirevolutionäre Verschwörung gesehen, die im Gegensatz und in Konkurrenz zur Weimarer Klassik steht. Aber so bleibt der internationale Entwicklungsprozess der Literatur und ihre Einbettung in die europäische Revolutionszeit zwischen etwa 1760 und 1848 ausgeblendet. Metscher und Farrell dagegen greifen auf den angelsächsischen Begriff der Romantik zurück, der eine europaweite Literatur- und Kunstepoche bezeichnet und zum Beispiel auch die Werke von Goethe erfasst.
Es ist ein großes Verdienst der Autoren, dass sie uns mit der Tradition der revolutionären Romantik Englands und Schottlands bekannt machen. Die Werke etwa eines Robert Burns oder Percy Bysshe Shelley, aber auch die Malerei eines William Turner werden im Buch als Beispiele einer politisch engagierten Kunst der Romantik im angelsächsischen Sinne vorgestellt.
Eine echte Entdeckung ist dagegen der Bremer Schriftsteller Hans Meier, in dessen Prosa die Autoren klassische Meisterschaft erkennen. Hans Meier (1914–2000), Kommunist und Widerstandskämpfer, literarisch vor allem an Ernest Hemingways Short Stories geschult, schrieb Kurzgeschichten in einer scheinbar einfachen Sprache, die trotzdem in der Lage ist, die komplexe Raumzeit der »wilden, verfluchten Zeit der ersten Jahre nach 1945« (H. Meier) auszudrücken. Die Geschichten, in denen sich die Nazivergangenheit mit der Gegenwart des Erzählens verschränkt, stellen, wie Metscher und Farrell urteilen, das Leben der kleinen Leute in der »Kurzform einer sophokleischen Tragödie« dar. Man muss hinzufügen: Vielleicht ist heutzutage gerade die episodische Kurzprosa in der Lage, unser Leben angemessen abzubilden, das im chaotischen Finanzkapitalismus immer mehr von Zufall und Ohnmacht geprägt ist. Meiers Erzählband »Damals im April« (1990) ist noch antiquarisch erhältlich.
Das Buch »Kunst und Revolution« von Metscher und Farrell gibt uns die Denkwerkzeuge an die Hand, um die Literatur von Shakespeare bis Almudena Grandes, die Musik von Mozart bis Schostakowitsch und die Malerei von Turner bis Munch als Werke der Klassik neu zu entdecken. Eine gute Rüstung.
Thomas Metscher/Jenny Farrell: Kunst und Revolution. Neue-Impulse-Verlag, Essen 2024, 460 Seiten, 29,80 Euro
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