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Aus: Ausgabe vom 11.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Neokolonialismus

Einem Absturz gleich

Frankreich verliert gegenüber ehemaligen Kolonien in Afrika weiter an Boden. 200 Soldaten in zwei Staaten sind wohl alles, was bleibt
Von Jörg Kronauer
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Französischer NH90-»Caïman«-Kampfhubschrauber überfliegt den Sahel nahe dem malischen Gossi (14.4.2022)

Die Zahlen sprechen für sich. 2.650 Soldaten hatte Frankreich vor zehn Jahren, im Jahr 2014, fest auf seinen Stützpunkten in West- und Zentralafrika stationiert – 950 im Tschad, 350 im Senegal, 450 in Côte d’Ivoire, 900 im weiter südlich gelegenen Gabun. Hinzu kamen die französischen Truppen, die damals im zentralen Sahel gegen Dschihadisten und andere Aufständische operierten, zunächst in Mali, dann zum Teil auch in Niger sowie in Burkina Faso; Mitte 2014 waren es rund 3.000, und sie nahmen in den folgenden Jahren auf zeitweise 5.100 zu. Die Streitkräfte der ehemaligen Kolonialmacht waren in deren ehemaligen Kolonien, ganz besonders im umkämpften Sahel, deutlich präsent und, so schien es jedenfalls, felsenfest verankert. Dass sich daran etwas ändern könnte; dass Frankreich seine Dominanz in den französischsprachigen Staaten Westafrikas verlieren werde, nicht bloß die militärische, sondern auch die ökonomische und die politische, das schien damals nahezu undenkbar zu sein.

Heute, zehn Jahre später, haben sich die Verhältnisse in Westafrika dramatisch zu wandeln begonnen, und die tiefen Umwälzungen sind wohl noch längst nicht an ihr Ende gelangt. Die Staaten des zentralen Sahel haben die französischen Streitkräfte im Lauf der vergangenen beiden Jahre aus dem Land geworfen – erst Mali, dann Burkina Faso, schließlich auch Niger. In Paris hatte sich spätestens Anfang dieses Jahres die Erkenntnis durchgesetzt, angesichts des erstarkenden Strebens nach Eigenständigkeit in der westafrikanischen Frankophonie und des deutlich wachsenden Unwillens in der Bevölkerung über französische Bevormundung könne man nicht weitermachen wie bisher. Präsident Emmanuel Macron hatte seinen persönlichen Afrikabeauftragten Jean-Marie Bockel beauftragt, Anpassungen vorzubereiten: eine Verringerung der Truppenzahl, eine engere Kooperation mit dem einheimischen Militär. Am 25. November legte Bockel seine Vorschläge vor; soweit bekannt, plädierte er für die Reduzierung auf nur noch 300 Soldaten im Tschad sowie auf je hundert im Senegal, in Côte d’Ivoire und Gabun. Von zeitweise weit über 7.000 auf gerade einmal 600 Militärs: Schon das kam für die ehemaligen Kolonialherren einem Absturz gleich.

Damit war das Ende der Fahnenstange für Paris aber noch nicht erreicht. Bockels Pläne hielten gerade einmal drei Tage, bis ihre Hauptsäule, die Militärpräsenz im Tschad, wegbrach, und das für Paris wie aus zumindest noch halbwegs heiterem Himmel. Am 28. November war Außenminister Jean-Noël Barrot in Tschads Hauptstadt N’Djamena eingetroffen, hatte Gespräche mit seinem Amtskollegen Abderaman Koulamallah und Präsident Mahamat Idriss Déby Itno geführt – vermutlich ging es auch um das Vorhaben, die Zahl der französischen Soldaten in dem Land zu reduzieren. Anschließend brach er nach Adré an Tschads Grenze zu Sudan auf – und dann ließ die tschadische Regierung die Bombe platzen. Sie hatte schon seit längerer Zeit mit dem Gedanken gespielt, es Mali, Burkina Faso und Niger gleichzutun und sich der französischen Streitkräfte zu entledigen. Sie hatte ihre Beziehungen zu Russland ausgebaut und den Erwerb weiterer türkischer Drohnen mit Finanzhilfe aus den Vereinigten Arabischen Emiraten ins Auge gefasst. Bislang hatte sie sich darauf verlassen, im Falle eines Angriffs von Rebellen die in N’Djamena stationierten französischen »Rafale«-Kampfjets anzufordern; wollte man sie loswerden, brauchte man Ersatz.

Die tschadische Regierung war also vorbereitet, als Barrot bei seinem Besuch in N’Djamena das Fass zum Überlaufen brachte. Es ging um den Krieg im Sudan, wo die Vereinigten Arabischen Emirate die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) unterstützen, die gegen die regulären Streitkräfte des Landes kämpfen. Um praktische Unterstützung zu leisten – etwa, um Waffen zu liefern – nutzen die Emirate Stützpunkte im Osten des Tschads, von wo es bis zur Grenze zu Sudan nicht mehr weit ist. Barrot beschwerte sich bei Déby Itno darüber, ließ wissen, Frankreich sei strikt dagegen, dass sich äußere Mächte wie etwa die Emirate in den Krieg im Sudan einmischten, dozierte, man dürfe nicht »Öl ins Feuer gießen«. Da platzte Déby Itno offenbar der Kragen; der Gesprächsverlauf wurde anschließend offiziell als »sehr lebhaft« beschrieben. Das Gespräch endete, Barrot brach in Richtung Adré auf, als sein Amtskollege Koulamallah bekanntgab, Tschad kündige seinen Vertrag über die Militärkooperation mit Frankreich auf. Barrot – und nicht nur er – war perplex.

Am selben Tag kam es für Paris noch dicker. Senegals Präsident Bassirou Diomaye Faye hatte der französischen Abendzeitung Le Monde ein Interview gegeben, das ebenfalls am 28. November erschien. Darin ging es unter anderem um Bockels Pläne für die französische Militärpräsenz im Senegal. In Dakar war ziemlich übel aufgestoßen, dass Bockel es nicht für nötig gehalten hatte, sein Vorhaben mit der senegalesischen Regierung abzustimmen – und dies, obwohl auch im Senegal die Kritik an der Anwesenheit der französischen Streitkräfte wuchs. »Wie viele senegalesische Soldaten gibt es eigentlich in Frankreich?« fragte Diomaye Faye im Le Monde-Interview rhetorisch: »Warum muss Herr Bockel oder irgendein anderer Franzose entscheiden, dass man in irgendeinem souveränen und unabhängigen Land 100 Soldaten stationieren muss?« Ein solches Vorgehen, hielt Senegals Präsident fest, »entspricht nicht unserem Verständnis von Souveränität und Unabhängigkeit«. Man solle Anormales wie die Stationierung eigener Truppen in fremden Ländern nicht als Normalität hinnehmen; es werde also »bald keine französischen Soldaten mehr« im Senegal geben. Das saß.

Hatte Bockel von den mehr als 7.000 französischen Soldaten, die noch vor wenigen Jahren in West- und Zentralafrika stationiert oder im Einsatz waren, wenigstens 600 in der Region halten wollen, so sieht es jetzt danach aus, dass Paris sich mit lediglich 200 begnügen muss – 100 in Côte d’Ivoire, 100 in Gabun. Zumindest von den heute dort herrschenden Präsidenten muss Paris keinen Hinauswurf befürchten. Präsidenten aber kommen und gehen.

Hintergrund: Washington frohlockt

Wenn zwei sich streiten, grätscht der Dritte rein: Die Vereinigten Staaten suchen den Konflikt zwischen den Ländern der Alliance des États du Sahel (AES) und Frankreich für ihre Zwecke zu nutzen. Zwar mussten die US-Militärs, die in Niger stationiert waren, inzwischen – wie auch die dort operierenden französischen Soldaten – die Koffer packen; insbesondere die US-Drohnenbasis bei Agadez im Norden des Landes, die sie aufgeben mussten, war für sie ein ernster Verlust. Doch wer sagt, dass es dabei bleiben muss? Verhasst ist im Sahel schließlich vor allem die einstige Kolonialmacht Frankreich. Und so sind US-Regierungsmitarbeiter und US-Militärs längst dabei, ihre Kontakte nach Niger zu stabilisieren, sie wieder auszubauen. Vielleicht geht da doch wieder was.

So kam es, dass am 24. Oktober in Washington der stellvertretende US-Außenminister Kurt Campbell sowie Nigers Ministerpräsident Ali Lamine Zeine zum Gespräch zusammentrafen. Lamine Zeine hielt sich damals anlässlich der Jahrestagung von Weltbank und IWF in der US-Hauptstadt auf. Man habe, so teilte es das State Department anschließend mit, bestätigt, man wolle versuchen, »die bilateralen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Niger zu stärken«. Details wurden nicht bekannt.

Offiziell ist Washington derzeit mit der Suche nach einem neuen Stützpunkt in Westafrika befasst; Africom-Kommandeur Michael Langley hat dabei vor allem Côte d’Ivoire und Benin im Visier. Hinter den Kulissen aber, das berichtete Ende November die Zeitschrift Jeune Afrique, testeten die Vereinigten Staaten auch die Möglichkeit eines Neustarts in den Militär- und Wirtschaftsbeziehungen zu Niger aus. Man wolle herausfinden, zitierte die Zeitschrift eine Quelle aus der US-Diplomatie, welche Form der Zusammenarbeit sich die nigrischen Militärs vorstellen könnten und ob es da einen gemeinsamen Nenner gebe, der einen Neustart der Militärkooperation erlaube. Schließlich hat Frankreichs Abzug eine Lücke gerissen; womöglich bietet sie Platz für die USA. (jk)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (11. Dezember 2024 um 12:30 Uhr)
    Frankreich steht in der Sahelzone vor einer erheblichen Herausforderung: Die ehemaligen Kolonien lehnen zunehmend den Einfluss der einstigen Kolonialmacht ab. Dieser Wandel ist das Resultat aus wachsendem Nationalismus, geopolitischen Rivalitäten und der Wahrnehmung Frankreichs als neokolonialer Akteur. Dadurch sind besonders gravierend die wirtschaftlichen Konsequenzen. Frankreich war stark auf Uranlieferungen aus Niger angewiesen, die rund ein Viertel der französischen Uranimporte für die Atomkraftwerke ausmachten. Während Uranvorkommen auch in Mali und Tschad existieren, bleibt deren Nutzung aufgrund der politischen Instabilität und des Rückzugs Frankreichs ungewiss. Die wirtschaftlichen Folgen könnten erheblich sein. Die französische Atomindustrie, ein zentraler Pfeiler der nationalen Energieversorgung, sieht sich mit steigenden Kosten und Unsicherheiten bei der Rohstoffbeschaffung konfrontiert. Zugleich droht eine »boucle fatale« – eine gefährliche Verknüpfung aus Staats- und Bankenschulden. Seit 1975 gibt der französische Staat mehr aus, als er einnimmt. Die Schuldenquote hat seit der Finanzkrise 2008 die Marke von 100 Prozent der Wirtschaftsleistung überschritten. Mit dem schwindenden Einfluss in der Sahelzone drohen Frankreich vor allem wirtschaftliche Belastungen, die sich zu den bereits bestehenden innenpolitischen Spannungen gesellen. Diese Spannungen, die sich in sozialen Protesten, politischer Polarisierung und einer Vertrauenskrise gegenüber den Institutionen äußern, bestehen seit Jahren und haben sich während Macrons Amtszeit weiter zugespitzt. Die Kombination aus wachsender Staatsverschuldung, geopolitischem Bedeutungsverlust und den bestehenden inneren Konflikten stellt erhebliche Herausforderungen für Frankreichs und sogar Europas Zukunft dar.

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