Bern schafft aus
Von Dominic ItenTag für Tag entlarven neue Ereignisse die Rede von der »westlichen Wertegemeinschaft« als leeres Geschwätz – auch in der Schweiz. Ende Oktober wurde publik, dass die Behörden erstmals seit dem 24. Februar 2022 straffällige Ukrainer abschieben werden. »An Bord des Sonderflugs: drei Schwerkriminelle aus der Ukraine«, schrieb damals die Neue Zürcher Zeitung. Genauere Angaben seien wegen Daten- und Persönlichkeitsschutzes nicht möglich, sicher sei aber: Wer mit einem Landesverweis belegt werde, habe »keine Bagatelldelikte begangen« – als ob das Abschiebungen in Kriegsgebiete rechtfertigen würde.
Doch es kommt noch schlimmer. Vergangene Woche haben Recherchen des Magazins Beobachter aufgedeckt: Einer der drei Betroffenen lebte seit seinem elften Lebensjahr in der Schweiz. Bei einem Raubüberfall vor acht Jahren schlug der suchterkrankte Mann jemanden nieder, um ihm 20 Franken abzunehmen. Also verurteilte ihn das Bezirksgericht Zürich wegen Raubes und anderer, geringfügigerer Delikte wie Hausfriedensbruch und Nötigung zu 26 Monaten Freiheitsstrafe und einem Landesverweis von acht Jahren. Vom Zürcher Obergericht wurde die Strafe später auf 20 Monate reduziert und der Landesverweis auf fünf Jahre. Die beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde gegen den Landesverweis wurde abgewiesen.
Dass dem Abgeschobenen nun der Wehrdienst drohe, sei selbstverschuldet, meinte der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung. Straftäter hätten »im Kanton Zürich und in der Schweiz nichts verloren«, polterte der ehemalige Sozialdemokrat und lobte die reibungslose Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Migration. Kein Wunder, lautete doch dessen Stellungnahme in der Sache wie folgt: »Bei verurteilten Straftätern mit Landesverweis muss die Zumutbarkeit der Rückkehr nicht geprüft werden.« Wie der Beobachter berichtet, wurde der heute 28jährige inzwischen an die ukrainische Grenze gebracht, wo er umgehend einen Marschbefehl erhielt. Das hat dann doch zu Nachfragen beim Migrationsamt Zürich geführt, das sich aber unbeeindruckt zeigte: Eine drohende Verpflichtung zum Kriegsdienst sei kein Grund, jemanden nicht abzuschieben.
Also Einigkeit durch sämtliche Institutionen hindurch. Das passt zum asylpolitischen Richtungswechsel, den das Parlament gerade vollzieht. Gleich am ersten Tag der Anfang Dezember angelaufenen parlamentarischen Wintersession wurde der »Schutzstatus S« stark eingeschränkt. Dieser war unmittelbar nach dem 24. Februar eingeführt worden und sollte Menschen aus der Ukraine vorübergehenden Schutz ohne individuelles Asylverfahren und mit eingeschränktem Zugang zu Arbeit und Sozialhilfe bieten. Damit ist jetzt Schluss: Laut Nationalrat sollen künftig nur noch jene Ukrainer automatisch Schutz erhalten, die in direkt von Kriegshandlungen betroffenen Gebieten gelebt haben.
Auslöserin der Debatte war Esther Friedli, Ständerätin der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP). Ihr Hauptargument lautete, dass in gewissen Gegenden der Ukraine das Leben längst wieder seinen gewohnten Lauf nehme. Ein Argument, an dem auch Kreise außerhalb der SVP Gefallen fanden – natürlich immer unter Verweis auf die großzügige Hilfsbereitschaft gegenüber jenen, die tatsächlich Hilfe brauchen: Die Schweiz müsse »Platz haben für die wirklichen Flüchtlinge«, meint etwa der liberale Nationalrat Peter Schilliger.
Freuen dürfte sich derweil der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij. Dieser hat im Mai ein Mobilisierungsgesetz erlassen, das die Registrierung aller wehrpflichtigen Männer bei der Armee verlangt – auch wenn sie die Ukraine bereits verlassen haben. Davon sind auch rund 11.000 Ukrainer in der Schweiz betroffen. Für jemand wie SVP-Asylchef Pascal Schmid, der noch weiß, wofür zu sterben sich lohnt, ist die Sache einfach. Schon vor Wochen meinte er, die Schweiz müsse der Ukraine helfen, diese Männer zurückzuholen. Der Schutzstatus S sei »für Schutzbedürftige gedacht« und sicherlich nicht für »wehrpflichtige und fahnenflüchtige Männer«, die »einfach verschwinden, damit sie ihren Militärdienst nicht leisten müssen«.
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