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Aus: Ausgabe vom 11.12.2024, Seite 8 / Ansichten

Leseratte des Tages: Jetztzeitmensch

Von Felix Bartels
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Schwierigkeiten beim Lesen: Eine 1, eine 4, eine 7 oder ein + mit Fähnchen?

Vor zehn Jahren, als Raider noch Twitter hieß, postete eine Gymnasiastin mit hübschen Augen und Strickmütze, sie könne zwar keine Steuererklärung machen, aber ein Gedicht analysieren, in vier Sprachen. Satte zehn Sekunden sah ich mich überzeugt, meine Traumfrau gefunden zu haben, allein, der Tweet war kritisch gemeint. Das Feuilleton hingegen begeistert. Aufgeregte Debatten ums Bildungssystem folgten, Schule müsse lebenspraktischer werden. Die instrumentelle Vernunft gehorcht genau einem Lehrsatz: Das Brotlose sei brotlos.

Und noch der ist falsch. Leben bedeutet mehr als bloß leben. Wer Praxis als Primat setzt, kann sie nicht handhaben, er unterliegt ihr nur. Seelenhaushalt wird zwergig, man lebt dahin und fragt nicht mal mehr, wozu. Jedes Wissen, insonders das scheinbar nutzlose, schlüsselt eine Stelle im Menschen auf, macht ihn reicher, mehr in sich gefaltet. Wohin das führe? Scheiß doch der Hund drauf. Es hat keinen Sinn voranzukommen, wenn es dabei nicht hinaufgeht. Der praktische Nutzen, das ist eine Pointe der als lebensfern verrufenen Schulbildung, zeigt sich oft erst an Stellen, die man vorher nicht auf dem Zettel hatte. Es kann die Aufgabe der Schule nicht sein, Dinge zu vermitteln, die das Leben ohnehin lehrt. Sie legt Grundlagen, und zwar im Streuschuss. Allgemeinbildung ist für jeden, nicht für einen, folglich muss sie möglichst breit sein.

Der aktuellen OECD-Vergleichsstudie PIAAC nach gibt es erhebliche Mängel bei der Fähigkeit des Lesens und Verstehens. 22 Prozent der deutschen Probanden bewegen sich auf der niedrigsten Kompetenzstufe, dem Niveau »eines 10jährigen Kindes«. Sie können allenfalls kurze Texte verstehen, einfache Rechenaufgaben lösen und tun sich schwer bei »mehrstufigen Problemen«. Gedichte analysieren in vier Sprachen können sie übrigens auch nicht.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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