Der Bruder tanzt nicht
Von Gisela SonnenburgWenn Rosa von Praunheim, quasi ein Elder Statesman der cineastischen Gay Community, über einen Film sagt, er sei phantastisch, wird was dran sein. »Pol Pot Dancing« trifft einen neuralgischen Punkt – und mehr. Der Film ist so gelungen, weil er das Land Kambodscha aus ungewöhnlicher Sicht, nämlich aus der seiner Tempeltänzer, zeigt und aus dieser auch die Geschichte der Militärdiktatur von Pol Pot (dem »Bruder Nr. 1«) beleuchtet. Ein reiner Tanzfilm ist es trotzdem nicht, es geht auch um Alltag und Politik, um Religion und Familienleben in Kambodscha.
Regisseur Enrique Sánchez Lansch wurde mit »Rhythm is it!« (2004) bekannt. Danach blieb er bei Themen wie Musik und Bildung. Nach Kambodscha schickte ihn das Goethe-Institut, damit er Workshops abhalte. Als er dort hörte, Pol Pot sei der Ziehsohn einer legendären Tänzerin, die nur mit Glück den Terror der Roten Khmer überlebte, ließ ihn das Thema nicht mehr los. Drei Mal reiste er mit Kamera- und Tonmann an, um das Land und seine Tempel zu filmen. Ergänzt werden die Aufnahmen mit Archivmaterial, hervorragend montiert von Julia Oehring.
Man sieht die Tanzlehrerin Sophiline Cheam Shapiro in Phnom Penh, die eine Tempeltanzgruppe leitet. Auch ihr Schüler Prumsodun Ok ist schon ein Meister des Tanzes. Im Studio steht auf einem Tisch ein kleiner Altar: Vor jeder Probe wird eine religiöse Zeremonie abgehalten, denn Kunst und Religion sind eng verzahnt. Das Verhältnis zur Vergangenheit ist zwiespältig und immer noch von Angst geprägt. Die Geister von Pol Pot und seiner Ahnen werden angerufen, um sie um Erlaubnis für den Film zu bitten.
Dessen Hauptperson ist die 1994 verstorbene Tanzlegende und Konkubine Chea Samy. Sophiline hatte noch bei ihr Unterricht, erlebte, wie eine Frau vollkommen durchdrungen war von ihrer Kunst. In historischen Aufnahmen spricht Samy selbst. Bis zu zwei Millionen Menschen starben unter den Roten Khmer, Samy schuftete im Arbeitslager. Ob sie bei der Erziehung von Saloth Sar, dem späteren Pol Pot, etwas falsch gemacht hat, fragte sie sich nicht. Aber Künstler und Intellektuelle galten plötzlich als Feinde, Samy musste verheimlichen, wer sie war.
Nach dem Ende der Schreckensherrschaft begann sie, wieder zu unterrichten. Wie fürs Ballett werden für den klassischen kambodschanischen Tanz schon Kinder akquiriert. Er ist langsam, aber anmutig und kontrolliert. Finger und Zehen – man tanzt barfuß – sind angespannt, also gespreizt, was dem Ganzen eine skurril-manierierte Note verleiht. Oft geht es um die Beschwörung der Natur. Es gibt Hunderte von festgelegten Posen, deren exakte Linien es zu erlernen gilt. Ihre surreale Ästhetik kommt vor allem in Verbindung mit der hinduistischen und buddhistischen Tempelarchitektur zur Geltung.
Dennoch strahlt dieser Tanz, der manchmal an Qigong oder Tai-Chi erinnert, Magie aus. Wenn dann Sophiline weinend am vermuteten Grab ihres Vaters einige Räucherstäbchen und Obst als Opfer aufstellt, fühlt man: Kambodscha ist ein Land mit Seele, das zu Unrecht von der Welt vergessen wird.
»Pol Pot Dancing«, Regie: Enrique Sánchez Lansch, BRD/Norwegen 2023, 102 Min., bereits angelaufen
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