Den Frieden feiern
Von Arnold SchölzelDer Großindustrielle Henry Ford (1863–1947) prägte nicht nur eine ganze Epoche der Automobilproduktion, er war auch Herausgeber eines antisemitischen Machwerks, das 1920 in den USA und 1921 in Deutschland erschien: »Der internationale Jude. Ein Weltproblem.« Einer seiner begeisterten Leser war Adolf Hitler. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf beschreibt in seinen Erinnerungen »Gelächter von außen« (1966), wie Hitler ihn 1921 in einer Münchener Kaschemme bequasselte und natürlich auch auf Ford zu sprechen kam: »›Da‹, sagte er und hielt mir Henry Fords Buch ›Der internationale Jude‹ hin: ›Das müssen Sie lesen. Es gibt auch ehrliche Amerikaner, die denken wie wir. Ford ist der größte Automobilfabrikant in Amerika und reiner Arier. Lesen Sie das einmal.‹« (Graf versucht einiges, den »aufdringlichen Deppen« loszuwerden, und lässt ihn schließlich die Zeche für Schmalznudeln und Kaffee bezahlen: »Ja, glauben Sie, ich hör’ mir Ihren Quatsch stundenlang kostenlos an?!«) Auch später betrachtete Hitler im Interview mit einer Detroiter Zeitung Henry Ford als seine »Inspiration«. 1938 sprach er dem US-Autokönig zu dessen 75. Geburtstag Dank aus und ließ ihm das »Großkreuz des Deutschen Adlerordens« um den Hals hängen – wegen »Pionierarbeit, um Autos für die Massen verfügbar zu machen«.
Die 1954 immer noch dankbare Freie Universität (FU) Berlin nannte damals ein neues Gebäude »Henry-Ford-Bau«. In der Frontstadt Westberlin wurde der Nazifreund für den Namensgeber gehalten. Kein Problem in einer Stadt, die sich (von 1939) bis heute im Bezirk Steglitz-Zehlendorf eine Spanische Allee zu Ehren der »Legion Condor«-Bombardierer von Gernika leistet, aber am Tag der Befreiung vom Faschismus das Gedenken an die Rote Armee schikaniert oder verbietet.
Manchmal erreicht die Zivilisation aber selbst Dahlem. Ungefähr seit 2020 behauptet die FU, dass es ja mehrere Henry Fords gab und Henry Ford II (1917–1987) der Namensgeber gewesen sein soll oder gar die Ford-Stiftung. Unbeeindruckt von dem zeitweiligen Krakeel darum, forderte das studentische FU-Palästina-Komitee, das im vergangenen Sommer 19 Tage lang vor dem Ford-Bau ein Solidaritätscamp veranstaltete, das Gebäude nach Esther Bejarano zu benennen. Als das Camp in einen Hörsaal umzog, rief die FU-Leitung die Polizei. Es war der 9. Juli, einen Tag vor dem dritten Todestag Esther Bejaranos, die gegenüber Ehrungen aller Art – und sie erhielt sehr viele – stets misstrauisch war.
Sie hatte Benjamin Netanjahu schon vor Jahren einen Faschisten genannt. Oder sie hatte gesagt: »Die BRD kann meine Heimat nicht sein, weil noch zu viele Nazis hier herumlaufen. Israel könnte meine Heimat werden, wenn Israelis und Palästinenser gemeinsam in einem Staat leben würden.« Oder – im November 2015 in der ZDF-Sendung »Die Anstalt«: »Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf diesen Staat nicht verlassen.« Sie selbst erlebte die Polizei 1979 als Schutz für die NPD, die vor ihrer damaligen Boutique in Hamburg agitierte.
Also verließ sie sich auf sich selbst. In seiner Trauerrede für Esther Bejarano sagte 2021 der Schauspieler Rolf Becker, den die kleine große Frau ihren kleinen Bruder nannte: »Nicht zurückweichen – Esther hat es vorgelebt, unnachgiebig, trotz Wasserwerfern, Stiefeltritten und Denunziation.« Sie habe nicht nur an ihn, sondern an alle den quasi testamentarischen Appell gerichtet: »Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig. Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!«
Sie war beim »Bettlermarsch« in Hamburg dabei, verlangte vom Senat Obdach für Geflüchtete, wandte sich gegen die Abschiebung von Roma nach Serbien und ins Kosovo und schickte dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz einen Brief, als der VVN-BdA, deren Ehrenvorsitzende sie war, die Gemeinnützigkeit entzogen wurde: »Das Haus brennt, und Sie sperren die Feuerwehr aus.« Den Familien Arslan und Yilmaz, die beim Brandanschlag in Mölln 1992 drei Menschen verloren hatten, schrieb sie 2017: »Um es klar auszusprechen, ohne das Wegschauen und das Decken nach 1945 hätte es das Oktoberfestattentat, die Anschläge von Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln und den NSU so nicht geben können.«
Einer Überlebenden der kapitalistisch-industriellen Menschenvernichtung des deutschen Faschismus kann niemand etwas vormachen. Esther Loewy hieß sie, als sie am 15. Dezember 1924 in Saarlouis geboren wurde – einer Stadt, die Esther Bejarano, anders als ihre Wahlheimat Hamburg, zur Ehrenbürgerin gemacht hat und sie in diesen Tagen anlässlich des 100. Geburtstages umfangreich ehrt.
Sie überlebte das Pogrom vom 9. November 1938 – das war vier Monate nach dem Orden für Ford. 1941 kam sie ins Zwangsarbeitslager Neuendorf bei Fürstenwalde im heutigen Brandenburg, am 20. April 1943 aus dem Berliner Sammellager in der Großen Hamburger Straße nach Auschwitz. Als dort das »Mädchenorchester« entstand, meldete sie sich als Akkordeonspielerin – ohne das Instrument genau zu kennen. Sie hatte Glück, meinte sie, und durfte musizieren, kam aber Ende 1943 ins KZ Ravensbrück, erlebte die Befreiung am 3. Mai 1945 im mecklenburgischen Lübz. In ihrer vorletzten Rede sagte sie 2021 beim Hamburger Gedenken an die 1933er Bücherverbrennung: »Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt. Mein größter Wunsch für den heutigen Tag war, noch einmal zu erleben, wie Amerikaner und Russen sich wie damals in Lübz umarmen und küssen und gemeinsam das Ende des Krieges feiern! Den Frieden feiern! Jetzt muss ich bis zum nächsten Jahr darauf warten.«
Im September 1945 gelangte sie nach Haifa und kam erneut in ein Lager, stieß mit rechten Zionisten zusammen, nahm aber an den ersten Weltfestspielen der Jugend 1947 in Prag teil und heiratete 1950 den Lkw-Fahrer Nissim Bejarano. Wegen der Kriege Israels, in die Nissim nicht mehr ziehen wollte, zog sie mit ihm und den Kindern Edna und Joram 1960 nach Hamburg. Nach der Aktion von Polizei und NPD vor ihrem Geschäft ging sie an die Öffentlichkeit, erzählte ihre Geschichte in Schulen, Auditorien und Medien. Seit 2009 trat sie mit großem Erfolg mit der Kölner Rapgruppe Microphone Mafia auf, 2017 auch in Kuba. Da nannten die sogenannten Antideutschen sie bereits eine »Antisemitin«.
Auch wenn sie es nicht gewollt hätte: Es gibt vieles in diesem Land, was nach ihr benannt werden kann und muss.
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