Jacke wie Hose
Von Hansgeorg HermannNur fünf Tage nach seiner Ernennung zum vierten französischen Regierungschef innerhalb eines Jahres sieht sich der neue Ministerpräsident François Bayrou bereits von mehreren Misstrauensvoten bedroht. Sowohl das rechte als auch das linke Lager in der Nationalversammlung setzen den erst am vergangenen Donnerstag von Staatschef Emmanuel Macron eingesetzten Premier mit Forderungen unter Druck, die sich gegenseitig ausschließen und seriöse Regierungsarbeit im Grunde genommen unmöglich machen. Bayrou, der bisher noch kein Kabinett vorgestellt hat, versucht seit dem vergangenen Wochenende einen wenigstens von Fall zu Fall mehrheitsfähigen, parteiübergreifenden »gemeinsamen Sockel« im Parlament zu finden – ein Unternehmen, an dem bereits sein Vorgänger Michel Barnier scheiterte. Unterdessen werden die Forderungen nach einem zügigen Rücktritt Macrons und vorgezogenen Präsidentschaftswahlen immer lauter.
Der Präsident, der am Donnerstag in das Katastrophengebiet Mayotte reisen wollte, gilt als Hauptverantwortlicher für die seit rund acht Monaten andauernde Staatskrise in Frankreich. Im vergangenen Juni hatte er nach einer krachenden Niederlage seiner Partei Renaissance bei den EU-Wahlen die Nationalversammlung aufgelöst – nach eigenen Angaben, um den Wählern bei den folgenden Neuwahlen eine breite Mehrheit gegen den ultrarechten Rassemblement National (RN) abzufordern. Eine allseits stark kritisierte Strategie, die den RN am 7. Juli statt dessen tatsächlich zur stärksten Einzelfraktion im Parlament machte, während Macrons Koalition Ensemble nahezu 100 Sitze verlor. Den eigentlichen Wahlsieger, die linke Volksfront (Nouveau Front Populaire) aus France insoumise, Sozialdemokraten, Grünen und Kommunisten, überging der Staatschef bei der Nomination des Premiers nun zum zweiten Mal.
Mit Bayrou ernannte Macron – nach Barnier – erneut einen Regierungschef des rechten Lagers, in diesem Fall den Chef der wirtschaftsliberalen Partei Modem (Mouvement Démocrate), eine Art französische FDP. Wie am vergangenen Wochenende klarwurde, hatte Bayrou den Präsidenten offenbar mit der Drohung erpresst, dessen bürgerlich-rechte Parlamentskoalition Ensemble zu verlassen, falls er nicht ihn zum Premier mache. Er habe Macron daran erinnert, dass dieser seinen ersten Wahlsieg im Juni 2017 und die folgende Präsidentschaft vor allem ihm und Modem zu verdanken habe. Ein Vorgang, den französische Medien seither als »ungeheurlich« und »unfassbar« bezeichnen. Der Präsident habe eine »Farce« geliefert, eine »Posse«, in einer Situation, in der Frankreichs Volkswirtschaft drohe, von einer Schuldenlast von 3,2 Billionen Euro erdrückt zu werden.
»Jacke wie Hose« höhnte die Pariser Tageszeitung Libération am Sonnabend. Der Wechsel von Barnier – am 4. Dezember durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum gestürzt – zu Bayrou habe rein gar nichts gebracht. In Paris gilt der 73jährige zwar seit mehr als einer Politikergeneration als Mann des Ausgleichs und Mittler zwischen den politischen Lagern. Gleichzeitig aber auch als unverbesserlicher Opportunist und Postenjäger, der nun endlich sein Lebensziel erreicht hat: das Amt des Ministerpräsidenten. Vorsichtig sei er allerdings auch in der gegenwärtigen Situation geblieben. Indem er darauf bestehe, Bürgermeister der Pyrenäenstadt Pau zu bleiben und damit das eigentlich allgemein geltende Verbot der Ämterhäufung unterlaufe, vermeide er schon jetzt, nach einem sehr wahrscheinlichen Misstrauensvotum gegen ihn, ohne politischen Posten dazustehen. Am vergangenen Montag, als aus Mayotte die Katastrophenmeldungen eintrafen, flog Bayrou lieber zur Ratssitzung in seine Heimat Pau, statt von Paris aus Hilfe für die Menschen in Mayotte zu organisieren. Eine Situation, die von den Ultrarechten des RN sofort genutzt wurde, um das ärmste Departement der Republik als »Labor linker Migrationspolitik« zu verleumden.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. Dezember 2024 um 21:46 Uhr)Die gegenwärtigen Entwicklungen in Frankreich zeigen einmal mehr ein grundlegendes Problem, das nicht nur dort, sondern im gesamten Wertewesten zu beobachten ist: Die parlamentarischen Demokratien scheinen zunehmend nicht in der Lage zu sein, die Erwartungen ihrer Bürger zu erfüllen. Überall zeigen sich Krisen – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Der oft zitierte Satz Churchills, es gäbe nichts Besseres als die Demokratie, hilft wenig, wenn das Vertrauen in ihre Funktionsfähigkeit schwindet. In Frankreich ist die Sorge weniger um die Zukunft der Politiker als vielmehr um die Zukunft der Bürgerinnen und Bürger berechtigt – und dies gilt ebenso für Europa insgesamt. Besonders alarmierend ist, dass politische und wirtschaftliche Schwächen gleichzeitig auftreten, was die Grundlage für eine tiefere gesellschaftliche Krise legt. Es bleibt dringend notwendig, Wege zu finden, um das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen und gleichzeitig soziale und wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten.
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